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Kulturelle Performance und künstlerische Aufführung

Zeichenhaftes Handeln zwischen Ritualität und Theatralität

von Anna Isabell Wörsdörfer (Band-Herausgeber:in) Florian Homann (Band-Herausgeber:in)
©2022 Sammelband 266 Seiten

Zusammenfassung

Ritual und Theater besitzen im Dionysos-Kult einen Referenzpunkt: Die zu Ehren des griechischen Gotts abgehaltenen Riten wurden traditionell von Gesang und Tanz, später auch von komplexem dramatischem Spiel begleitet. Haben Ritual und Theater als kulturelle Praktiken in ihrer diachronen Entwicklung auch eine erhebliche Ausdifferenzierung und Pluralisierung erfahren, fußen beide in ihrer Grundstruktur essentiell auf dem performativen Akt. Beide stellen eine multimediale Kommunikation durch symbolhafte Handlung dar, die aus dem Ritual eine lebensweltliche Ausführung, aus dem Theaterspiel eine ästhetische Aufführung macht. Dieser Band gibt den vielfältigen performativen Ausformungen des Rituellen und Theatralen in den romanischen Kulturen eine kulturwissenschaftliche Bühne.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Inhalt
  • Zur Einführung: Performative Sinnstiftungsverfahren ritueller und künstlerisch-theatraler Praktiken (Anna Isabell Wörsdörfer (Münster) und Florian Homann (Münster))
  • 1. Theatralität und Theatralisierung frühneuzeitlicher Berufsgruppen
  • Zwischen medizinischer Expertise, Spektakel und Kommerz. Rituelle und theatrale Praktiken des Scharlatans (Anna Isabell Wörsdörfer (Münster))
  • Narrenspiele. Inszenierte locura auf den Bühnen des Siglo de Oro (Anne Rolfes (Münster))
  • 2. Aristokratische Verhaltensrituale auf der Theaterbühne
  • „[U]ne de ces injures pour qui un honnête homme doit périr.“ Rituale der Ehre und sozialer Wandel im französischen Theater des 17. Jahrhunderts (Jenny Augustin (Düsseldorf))
  • 3. Ritualisierungen folkloristischer Traditionen
  • Hazañas de hombres de otro mundo. Der aristokratische Stierkampf des Siglo de Oro als rituelle Performanz (Teresa Hiergeist (Wien))
  • „Me hice de mis toreros“ – Theatralität und Ritualität in der Toropoesie von Jesús Soto de Paula und André Velter (Sidonia Bauer (Köln))
  • Rituelle Funktionen des Romanzensingens. Von der mittelalterlichen Landbevölkerung bis zu den heutigen cantaores flamencos – mit einem Blick auf Lope und Lorca (Florian Homann (Münster))
  • 4. Rituelle Glaubenspraktiken in der Alten und der Neuen Welt
  • Theater und Ritual im Autodafé der Spanischen Inquisition (Iris Gareis (Frankfurt am Main))
  • Fita Cantante und Opereta Cinematographica. Inszenierung indigener Rituale im Rahmen der Opern-Film-Beziehung Brasiliens (Gabriel Rodriguez Silvero (Gießen))
  • 5. Theatrale Entsakralisierungen der Politik um 1800
  • „La tête de Capet. – A la guillotine, ou le peuple se vengera!“ Ritualisierungen der Königshinrichtung in zwei Theaterstücken über die Exekution Ludwigs XVI. (Moritz Schertl (Münster))
  • 6. Elitäre und populäre Kulturereignisse
  • Der Weg auf die Bühne. Über die Verschränkung von Ritualität und Theatralität in Ballets d’action des 19. Jahrhunderts (Eva Rothenberger (Augsburg))
  • Fußball als transrituelles Ereignis: Das Beispiel von La Bombonera und den Boca Juniors-Fans (Valeska Navea Castro (Santiago de Chile / Leipzig))
  • Zu den Beiträgerinnen und Beiträgern
  • Reihenübersicht

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Anna Isabell Wörsdörfer (Münster) und Florian Homann (Münster)

Zur Einführung: Performative Sinnstiftungsverfahren ritueller und künstlerisch-theatraler Praktiken

Welche ikonische Darstellung könnte die engen Verbindungen zwischen dem Rituellen und dem Theatralen sinnfälliger vor Augen treten lassen als die auf dem Titelcover dieses Bandes abgebildete venezianische Maske, die ihre Träger:innen anlässlich des alljährlichen Karnevals in der Lagunenstadt in vielfältigen Ausfertigungen schmückt und zum regelrechten Symbol Venedigs geworden ist? Der Carnevale di Venezia ist ein festliches Ereignis mit langer Tradition, das seine Wurzeln im altrömischen Kult der Saturnalien hat, seinen Höhepunkt inmitten der spielerisch-frivolen Rokoko-Gesellschaft im 18. Jahrhundert erlebte und nach einer langen Phase der Verlagerung von der öffentlichen Begehung ins Private Ende der 1970er Jahre – vermittelt durch Federico Fellinis Oscar prämierten Filmhit Casanova (1976)1 – erfolgreich wiederbelebt worden ist (Rust 2011). Die rituelle Bedeutung des Karnevals, der innerhalb des christlichen Festkalenders der vorösterlichen Fastenzeit unmittelbar vorausgeht, ist in seiner Funktion als ‚ventilhafte‘ Auszeit von der strengen kirchlichen Ordnung zu finden (Bachtin 2015: 55-59). Während des historischen Karnevals in Venedig reihen sich diverse Spektakel – von rituellen Tierkämpfen2 (insbesondere zwischen Bären und Hunden) und Bullenhatzen über rauschende Maskenbälle und prachtvolle Feuerwerke bis zum Volo dell’Angelo, dem Engelsflug, bei dem ein Seiltänzer vom Campanile, dem Glockenturm, Blumen über die Menge auf dem Markusplatz regnen lässt – pausenlos aneinander, wobei theatrale Veranstaltungen aller Art – etwa Marionetten-, Commedia dell’arte- und weitere Bühnen-Vorstellungen – keinen geringen Teil innerhalb der karnevalesken Vergnügungslandschaft ausmachen (weiterführend Giurgea 1987: 38-158). Darüber hinaus verleiht der ←7 | 8→grundsätzliche Ostentationsaspekt, das Sehen und Gesehenwerden, der sich in den Gassen und entlang der Kanäle präsentierenden maskierten und kostümierten Flaneure dem ganzen Ereignis, bei dem ein jeder in eine außeralltägliche andere Rolle schlüpft, eine zusätzliche Theatralität (O’Rouke 2015: 76-83). Auf diese Weise wird Venedig für die Dauer des Karnevals zu einer einzigen großen Bühne. Die Maske dient dabei nicht nur der rituellen Angleichung der Teilnehmenden, sondern als eines der Elemente der Kostümierung den Schauspieler:innen im engeren Sinne auch der Übernahme einer theatralen Rollenhaftigkeit. Ritualität und Theatralität verschränken sich dergestalt im Event des Carnevale di Venezia aufs Engste miteinander und verbildlichen in ihrer Zeichenhaftigkeit und ihren performativen Abläufen ein weitmaschiges Netz von gemeinschaftsstiftenden und kulturtragenden Werten.

1. Ritual und Theater …und immer wieder Performanzen

Bekanntermaßen besitzen Ritual und Theater im antiken Dionysos-Kult einen gemeinsamen Referenzpunkt: Die zu Ehren des griechischen Gottes des Weins, des Rauschs und der Ekstase abgehaltenen Opferriten3 wurden traditionell von Gesang und Tanz, also rudimentären theatralen Elementen, später auch von elaborierterem dramatischem Spiel in Tragödien- und Komödienform begleitet (Csapo/Miller 2007). Haben Ritual und Theater in der Folge als fundamentale kulturelle Ausdruckspraktiken in ihrer diachronen Fortentwicklung über die Jahrtausende hinweg auch eine erhebliche Ausdifferenzierung und Pluralisierung erfahren, fußen beide in ihrer Grundstruktur weiterhin essentiell auf dem performativen Akt (Tambiah 1981, Carlson 1996, Mahler 2009): Beide stellen eine multimediale Kommunikation durch symbolhafte, Bedeutung generierende Handlung dar, die aus dem Ritual eine lebensweltliche Ausführung, eine kulturelle Performance, aus dem Theaterspiel (und seinen verwandten Kunstpraktiken) eine ästhetische Aufführung, eine künstlerische Performance, macht (Fischer-Lichte 2004a, Krämer 2011). Dücker (2007: 3) unterstreicht, dass die öffentlich als kulturelle Performances ausgeführten Rituale unverzichtbar für eine Kultur sind, die sie fundieren und formen. Der vorliegende Band zielt darauf ab, den vielfältigen performativen Ausformungen des Rituellen und Theatralen in den romanischen Kulturen eine kulturwissenschaftliche ‚Bühne‘ zu geben.

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Rituale, wie etwa Liturgien, sind zum Großteil performativ, da „performative Handlung der springende Punkt des Rituals ist“ (Rappaport 1998: 196). So ist das Performative, um nur einige Beispiele exemplarisch herauszugreifen, etwa in der christlichen Eucharistie im Ritus der Transsubstantiation, dem Akt der Wandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Christi, ebenso integraler Bestandteil des Rituellen wie bei der Vielzahl der sportlichen Wettkämpfe bei den Olympischen Spielen von der Leichtathletik über die Kampfsportarten bis zu den Mannschaftsspielen, bei denen im Verlauf jedes Wettbewerbs durch regelgeleitete und stets wiederholte Aktionen die Teilnehmenden in Siegende und Geschlagene transformiert werden. Die Hervorbringung von Sinn durch zeichenhaftes Handeln vollzieht sich gleichermaßen im opulenten barocken Pariser oder Madrider Palastschauspiel mit einer ausgeklügelten Bühnentechnik, etwa eines Pedro Calderón oder Pierre Corneille,4 in dem die Theatermaschine nicht nur in die Aktion integriert ist, sondern aus sich heraus selbst auch Handlung generiert, wie bei den Wort und Bewegung zusammenführenden Chanson-Performanzen in Frankreich oder den Auftritten der Flamenco-Sänger:innen und -Tänzer:innen vom 19. Jahrhundert bis heute in den historischen Cafés cantantes und Tablaos im Süden Spaniens (Homann 2021a).5

Die einzelnen Komponenten von Ritualität und Theatralität stehen – wie die Beiträge dieses Bandes zeigen werden – in einem spezifischen Verhältnis zum Performativen, formen seine charakteristische Ausprägung in die eine oder andere Richtung durch die Verleihung jeweils prägender Merkmale entscheidend mit. Schon die Sprechakttheorie über die performativen Aussagen ist auf das Engste mit dem rituellen Ausführen und Handeln verbunden. Der sich auf das Performative in der Sprache beziehende Rappaport (1998: 195) betont, dass ←9 | 10→„das Ritual […] voller konventioneller Aussagen“ ist, „die konventionelle Wirkungen haben“ und führt die von Austin und Searle bekannten Beispiele6 an, um zu zeigen, dass die mit diesen Aussagen Handelnden eben nicht nur etwas sagen, sondern in erster Linie etwas tun und etwas erreichen, das eine (liturgische) Ordnung schafft. Doch diese Ordnungen beruhen auf ihrer performativen Realisierung: „Ohne Ausführung, Darstellung oder Performance gibt es kein Ritual und keine liturgische Ordnung“ (Rappaport 1998: 198). Nach seiner Argumentation bildet die Beziehung des Agierenden zu seiner eigenen Performance das Zentrum eines jeden Rituals (Rappaport 1998: 210).

Tambiah (1998: 230) definiert das Ritual als „ein kulturell konstruiertes System symbolischer Kommunikation“. Ihm gemäß ergibt sich das Rituelle als ein Zusammenspiel von Formalität, Stereotypie, Verdichtung und Redundanz (Tambiah 1998: 233-239). Einerseits sorgt konventionalisiertes, formelhaftes Handeln für eine über die Generationen hinweg stereotyp-rigide, das heißt in der Regel unveränderte Weitergabe des Rituals, die insbesondere in schriftlosen Gesellschaften essentiell für die Gemeinschaftsstiftung ist: Assmann (2018: 87-91) spricht von ritueller Kohärenz. Andererseits wird das Ritual als Ereignis jedes Mal performativ neu in Szene gesetzt und verdankt sowohl seine Einzigartigkeit im gegebenen Moment dem Zusammenspiel aller Involvierten und Teilnehmenden – während klassische Theateraufführungen lediglich passiv Zuschauende haben, werden Rituale von aktiven Teilnehmer:innen gestaltet (Rappaport 1998: 192) – als auch seine Dynamiken und Vitalität den kontinuierlichen, wenn auch formal regelgeleiteten Weiterentwicklungen, die die Rituale am Leben halten. Dücker (2007: 121) definiert das rituelle Ereignis in diesem Sinne auch als „einmaliges historisches Geschehen“, das jedoch auf einer „tendenziell unveränderliche[n] Struktur“ fußt, die wiederum „sich im Ereignis vergegenwärtigt, aktualisiert, und in Bezug auf die Situation dynamisiert“. Im rituellen Handeln verdichten sich ferner komplexe Sinnzusammenhänge, verschmelzen Botschaften in der zeichenhaften Ausführung, die zudem redundant-wiederholend – sowohl synchron innerhalb des Einzelrituals als auch diachron in serieller Wiederkehr – praktiziert wird, sodass die rituelle Performance ihren rhythmisch-beschwörenden Charakter erhält.

Theatralität wiederum ergibt sich nach Fischer-Lichte (2004b: 10), wenn auf eine spezifische Wahrnehmung vorgenommene Inszenierung von Körperlichkeit ←10 | 11→zur Aufführung gelangt. Dabei sind auf letztere – die realisierte Handlung im Moment der Vorstellung – die drei erstgenannten Komponenten hin ausgerichtet: Die inszenatorische Planung legt die Performanz vorab fest, die durch die leibliche Materialität der Akteure auf der Bühne realisiert und durch die Augen (und anderen Sinne) des ko-präsenten Publikums auf den Plätzen wahrgenommen wird. Bedeutungsvoll wird in diesem Zusammenhang, dass das Charakteristikum des Theatralen sich nicht ausschließlich auf das Theater oder andere performative Künste beschränkt, sondern sich – durch die Erweiterung des Inszenierungsbegriffs als anthropologische Kategorie (Fischer-Lichte 1998: 85, Goffman 1959) – auch in den zwischenmenschlichen Handlungen des Alltags wiederfinden lässt.

2. Ritual vs. Theater: Wirklichkeit ist nicht gleich Ästhetik

Wie diese Beobachtungen nahelegen, die in den Einzelbeiträgen an konkreten Beispielen im Detail präzisiert werden, scheinen Ritual und Theater, die sich in der Performanz berühren, in einigen Bereichen anzunähern, wie beispielsweise auch die zunehmende gegenseitige Befruchtung von Theaterwissenschaft und Ethnologie / Kulturanthropologie seit etwa dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts belegt (Schechner 1990, Turner 1979). Tatsächlich besitzen theatrale Kunstformen mitunter rituelle Züge, die etwa im rigiden Aufbau klassizistischer Dramen nach Akten und Szenen und den regulären Wiederholungen der Aufführung während einer Spielzeit zu erkennen sind. Auch ein philharmonisches Konzert kann unter rituellen Gesichtspunkten betrachtet werden, bei dem der Dirigent den ‚Zeremonienmeister‘ darstellt (weiterführend Ungeheuer 2009). Rituale ihrerseits entbehren nicht einer gewissen Theatralität, die im re-präsentativen symbolischen Handeln und in der körperlichen Interaktion (Goffman 1986) besteht. Der Hexensabbat und die mitunter auf diesem praktizierte Schwarze Messe zum Beispiel besitzen – mit dem (prozessionsartigen) Hexenflug, der Teufelsanbetung, der Zurschaustellung der (schwarzen) Hostie – den gleichen theatralen Charakter wie die christliche Liturgie (Wörsdörfer 2019: 223-228, Petersen 2004),7 als deren diametrale Verkehrung diese teuflischen Rituale zu denken sind. Doch so viele Überschneidungsmengen Ritual und Theater auch haben mögen, führt – wie auch die Artikel dieses Bandes ←11 | 12→demonstrieren – ihre jeweils andere Verortung in der Wirklichkeit eine scharfe Trennlinie zwischen beiden ein.

Ritual und Theater unterscheidet ihre je spezifische Einstellung zur Lebenswelt, ihr jeweiliger Realitätsbezug, voneinander. Während rituelles Handeln stets einen unmittelbaren Gültigkeitsanspruch in der Wirklichkeit besitzt, ist dies hinsichtlich der künstlerisch-theatralen Handlung auf der Bühne nicht der Fall: Händeschütteln und Umarmungen in Deutschland, Wangenküsse in den romanischen Ländern oder Verbeugungen im asiatischen Raum konstituieren als Begrüßungsrituale oder Anstandsregeln (Grimes 1998: 123) – mal förmliche, mal vertraute – soziale Interaktionen. Dagegen besitzt die Dramenhandlung zum Beispiel von Federico García Lorcas Bauerntrilogie,8 so stark die Wirklichkeitsbezüge zu den archaischen Verhältnissen in der spanischen Provinz in den 1930er Jahren auch sind, keinen Realitätsstatus jenseits der Vorstellung: Die auf der Bühne gezeigte Dramensituation verbleibt in ihrer Relation zur lebensweltlichen Situation in einem ästhetischen Als-Ob, in einer theatralen Illusion, die von den Zuschauer:innen via Fiktionspakt lediglich für die Dauer des Spiels als real akzeptiert wird (Matzat 1982: 15, 40). Daneben besitzen die Teilnehmer:innen an Ritual und Theater einen jeweils unterschiedlichen Partizipationsgrad. Diejenigen des Rituals treten als direkt Involvierte in Erscheinung. So sind es etwa bei den von Tambiah (1978) beschriebenen Heilritualen der Zande, einer ethnischen Gruppe im nördlichen Zentralafrika, Medizinmänner und Erkrankte gleichermaßen, die an der Performance in je verschiedenen Funktionen, aber nichtsdestoweniger zu beiden Teilen aktiv und mit vollem Körpereinsatz mitwirken. Bei der Darbietung von Carlo Goldonis Il servitore di due padroni oder Beaumarchais’ Le mariage de Figaro hingegen ist das Publikum wie bei anderen Theateraufführungen bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts9 in aller Regel auf seine passive Zuschauerrolle beschränkt, während die Akteur:innen auf der Bühne durch ihr Spiel die Illusion zum Leben erwecken.

Die elf versammelten Beiträge dieses Bandes haben es sich zur Aufgabe gemacht, die beschriebenen vielgestaltigen Erscheinungsformen von Ritualität ←12 | 13→und Theatralität an exemplarischen Fallstudien aus den romanistischen Kulturräumen in den Blick zu nehmen, deren Wechselbeziehungen und Eigencharakterlichkeiten herauszuarbeiten und im jeweiligen kulturhistorischen Kontext zu verorten.

3. Zu den Beiträgen in diesem Band

Den Band eröffnen zwei Artikel zur Theatralität und Theatralisierung frühneuzeitlicher Berufsgruppen. Dass es sich bei der Frühen Neuzeit um eine thea- trale Epoche par excellence handelt, demonstriert etwa das seit der Renaissance aufkommende Self-Fashioning (Greenblatt 1980), die Konstruktion der eigenen Identität und der öffentlichen Person, die in bestimmten Gewerben nahezu rollenhafte Züge annimmt. Anna Isabell Wörsdörfer widmet sich in ihrem Beitrag den rituellen und theatralen Praktiken des Scharlatans, wobei sie einerseits dessen multimediale Selbstpräsentationsstrategien offenlegt und andererseits die (ambivalenten) Verortungen in den medizinischen, ökonomischen und theatralen Diskursen der Zeit diskutiert. Im Artikel von Anne Rolfes steht der Narr vor dem Hintergrund seiner doppelten Inszenierung im Zentrum, nämlich erstens innerhalb des Berufsnarrentums im lebensweltlichen Bereich an den frühneuzeitlichen Fürstenhöfen und zweitens als künstlerische Inszenierung auf der Theaterbühne. Die zweite Rubrik gilt aristokratischen Verhaltensritualen auf der Theaterbühne. Gerade im absolutistischen Frankreich führt das in einer sich verfeinernden Gesellschaft geforderte und geförderte Ideal des honnête homme zur mitunter konfliktreichen Etablierung neuer (und Ersetzung bzw. Abschaffung alter) Rituale. Jenny Augustin reflektiert diesen sozialen Wandel innerhalb des Adels am Beispiel von zwei Theaterstücken, Pierre Corneilles Le Cid und Molières Dom Juan, in denen sie die Rituale der Ehre auf den Prüfstand stellt. In der nächsten Kategorie zu Ritualisierungen folkloristischer Traditionen in (Sub-)Kulturen beschäftigen sich drei Beiträge mit dem Stierkampf und dem Romanzensingen: Es ist vor allem – aber nicht ausschließlich – die spanische Gesellschaft aller sozialen Schichten, in der sich solche kollektiven Bräuche erhalten haben. Den Auftakt macht Teresa Hiergeist, die das Rituelle und Theatrale des aristokratischen Stierkampfs anhand faktualer und fiktionaler Textzeugnisse des Siglo de Oro herausarbeitet. Mit Sidonia Bauers Artikel gelangt die Analyse der Tauromachie in die Gegenwart; sie untersucht den Stierkampf und seine Zusammenhänge mit der gitano-Kultur aus raumpoetischer Perspektive in der aktuellen Lyrik von Soto de Paula und Velter. Florian Homann schließt diese Betrachtung mit einem diachronen Beitrag zu den rituellen Funktionen des Romanzensingens, wobei er über die Jahrhunderte hinweg auch die vielfältigen ←13 | 14→gegenseitigen Beeinflussungen von ländlicher und gitanesker Popular- und literarischer Hochkultur bis zum Einfluss beider Elemente auf den heutigen Flamenco nachzeichnet. Rituellen Glaubenspraktiken in der Alten und der Neuen Welt gelten die beiden nächsten Artikel. Iris Gareis untersucht performative und rituelle Aspekte des frühneuzeitlichen Autodafés. Dabei legt sie an Beispielen amerikanischer Inquisitionstribunale und jener des spanischen Mutterlandes offen, dass es sich bei diesem Strafgericht um ein Theater des Glaubens bzw. ein politisches Ritual handelt. Gabriel Rodriguez Silvero betrachtet die Inszenierung des (zugeschriebenen) indigenen Kannibalismus am Beispiel der Guaraní-Indianer im brasilianischen Opernfilm der 1930/40er Jahre. Er verfolgt die Fragestellungen, inwieweit die Opern-Film-Beziehungen das Rituelle medial mit einbeziehen, die Werke also eine Praxis der Anthropophagie als indigenes Ritual konstruieren bzw. inszenieren und welche Funktionen diese Darstellungen in der frühen brasilianischen Filmgeschichte erfüllen. In der folgenden Rubrik stehen theatrale Entsakralisierungen der Politik um 1800 im Fokus. Der epochale Einschnitt der über die nationalen Grenzen ausstrahlenden Französischen Revolution markiert hier eine Zäsur, in deren Folge ein erneuter gesellschaftlicher Wandel sichtbar wird. Moritz Schertl nimmt zwei theatrale Inszenierungen der Guillotinierung Ludwigs XVI. als politischem Schlussstrich unter der Perspektive des Sakrilegs in den Blick. In seinem Vergleich kann er aufzeigen, wie die politischen Ideologien der jeweiligen Werkentstehung die Stoffbehandlung beeinflussen. Die Kategorie zu elitären und populären Kulturereignissen beschließt den Band. In den zwei Artikeln werden die rituellen und theatralen Merkmale exklusiver Veranstaltungen und Massenevents beleuchtet. Mit Blick auf die Produzentenseite arbeitet Eva Rothenberger nach einer ausführlichen entwicklungsgeschichtlichen Betrachtung die Verwebung von Ritualität und Theatralität in den ballets d’action des 19. Jahrhunderts heraus. Valeska Navea Castro schließlich setzt in ihrer Analyse des Fußballspiels als kulturellem performativem Ereignis den Schwerpunkt auf das rituelle Handeln der Rezipientenseite, den Anhängern des argentinischen Clubs Boca Juniors, und zeigt anhand deren aktiver Ausübung von Fanritualen die über das Religiös-Rituelle hinausgehende transrituelle Dimension des leidenschaftlichen gemeinsamen Miterlebens auf.10

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Bibliographie

Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 8. Auflage, München 2018.

Bachtin, Michail: „Einleitung“, in: Michail Bachtin, Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt 2015 [1965], S. 49-110.

Carlson, Marvin A.: Performance: A Critical Introduction, London 1996.

Csapo, Eric; Miller, Margret C.: „General Introduction“, in: Eric Csapo (Hg.), The origins of theatre in ancient Greek world and beyond: from ritual to drama, Cambridge 2007, S. 1-40.

Dücker, Burckhard: Rituale. Formen – Funktionen – Geschichte: Eine Einführung in die Ritualwissenschaft, Stuttgart 2007.

Fischer-Lichte, Erika: „Inszenierung und Theatralität“, in: Herbert Willems/Martin Jurga (Hg.), Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, Wiesbaden 1998, S. 81-90.

Fischer-Lichte, Erika: Ästhetik des Performativen, Frankfurt 2004a.

Fischer-Lichte, Erika: „Einleitung: Theatralität als kulturelles Modell“, in: Erika Fischer-Lichte (Hg.), Theatralität als Modell in den Kulturwissenschaften, Tübingen 2004b, S. 7-26.

Geertz, Clifford: „,Deep play‘ – Ritual als kulturelle Performance“, in: Andréa Belliger/David Krieger (Hg.), Ritualtheorien: Ein einführendes Handbuch, Opladen 1998, S. 99-117.

Giurgea, Adrian: Theatre of the Flesh. The Carnival of Venice and the Theatre of the World, Los Angeles 1987.

Goffman, Erving: The presentation of self in everyday life, New York 1959.

Goffman, Erving: Interaktionsrituale: Über Verhalten in direkter Kommunikation, Frankfurt 1986.

Greenblatt, Stephen: Renaissance self-fashioning. From More to Shakespeare, Chicago 1980.

Grimes, Ronald: „Typen ritueller Erfahrung“, in: Andréa Belliger/David Krieger (Hg.), Ritualtheorien: Ein einführendes Handbuch, Opladen 1998, S. 119-134.

Homann, Florian: „Una copla flamenca en el siglo XXI: ¿todavía tradicional y popular?“, in: Madrugá 12 (2015), S. 35-74.

Details

Seiten
266
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631892961
ISBN (ePUB)
9783631892978
ISBN (Hardcover)
9783631861899
DOI
10.3726/b20353
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (November)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 266 S.

Biographische Angaben

Anna Isabell Wörsdörfer (Band-Herausgeber:in) Florian Homann (Band-Herausgeber:in)

Anna Isabell Wörsdörfer ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Iberoromanischen Abteilung der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und leitet dort das DFG-Projekt „Echtes Hexenwerk und falscher Zauber. Die Inszenierung von Magie im spanischen und französischen Theater des 17. Jahrhunderts" (zugleich Habilitationsprojekt). Florian Homann forscht und lehrt als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich der Iberoromanischen Literaturwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster zu den Bereichen kollektives Gedächtnis, Oral tradition und Performancetheorien (besonders in der Flamencokultur) sowie Intermedialität in aktueller kolumbianischer Erzählliteratur (zugleich Habilitationsprojekt).

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Titel: Kulturelle Performance und künstlerische Aufführung
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