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BY 4.0 license Open Access Published by Oldenbourg Wissenschaftsverlag December 6, 2022

Why? Zur Begründung von Gründen. Ein Systematisierungsversuch

Charles Tilly, Why? Was passiert, wenn Leute Gründe angeben... und warum? Aus dem Englischen von Enrico Heinemann. Mit einer Einführung von Thomas Hoebel und Stefan Malthaner. Hamburg: Hamburger Edition 2021, 200 S., gb., 28,00 €

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From the journal Soziologische Revue

Rezensierte Publikation:

Charles Tilly, Why? Was passiert, wenn Leute Gründe angeben... und warum? Aus dem Englischen von Enrico Heinemann. Mit einer Einführung von Thomas Hoebel und Stefan Malthaner. Hamburg: Hamburger Edition 2021, 200 S., gb., 28,00 €


Was für eine Überraschung: Charles Tilly (1929–2008) goes micro. Der Historiker und Sozialwissenschaftler hat sich Zeit seines Lebens mit makrosoziologischen Fragen sozialen Wandels und sozialer Prozesse, sozialer Bewegungen und Revolutionen auseinandergesetzt. Freilich lässt ein Rückblick auf sein erstes großes Werk über die Gegenrevolution, die Vendée (Tilly, 1963), schon erkennen, dass seine konfliktsoziologische Perspektive mit „einer mikrohistorische[n] Fundierung und variationsanalytische[n] Erklärung“ (Spohn, 2005, S. 202) einhergeht. Eines seiner letzten Bücher, vor seinem Tod im Jahre 2008 bei Princeton University Press 2006 erschienen, setzt sich expressis verbis mit den Formen der Begründungen auseinander, die Akteure für ihr Handeln, ihre Beziehungen und ihre Praktiken geben. Diese mikrosoziologische Studie ist auch erst das zweite Werk aus der Fülle von 51 Büchern des Verfassers, die auf Deutsch erschienen sind. Nur sein berühmtes Revolutionsbuch (Tilly, 1993) wurde ins Deutsche übertragen. Nach meiner Einschätzung ist Tilly, der in den Vereinigten Staaten im Nachruf der New York Times (Martin, 2008) sogar als “the founding father of 21st-century sociology” von Adam Ashforth gepriesen wurde, in Deutschland eher unbekannt geblieben, sieht man von der neuen historischen Soziologie ab. Das ist ein seltsames Rätsel. Wie kann jemand, der zu dem Soziologen des 21. Jahrhunderts aufgegipfelt wird und nach seinem Tode zahlreiche Nachrufe und Würdigungen erfahren hat, hierzulande so gut wie unbekannt bleiben? Ist das etwa deutsche Borniertheit? An den Sprachkenntnissen kann es nicht liegen, denn Englisch ist längst zur lingua franca in den Sozialwissenschaften avanciert. Was ist es dann? Desinteresse an der Art, wie Tilly historische Sozialwissenschaft betrieben hat? Ist es also die Eigenart, wie er Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft verbunden hat? Zum ersten Mal ist Tilly dem Verfasser in einem Sammelband von Hans-Ulrich Wehler (1976) zur Geschichte und Sozialwissenschaft begegnet und da hat ihn eher der Titel „Clio oder Minerva“ interessiert, als Tillys eigen- wie einzigartiger Ansatz. Schon da spricht er vom „Niemandsland zwischen Soziologie und Geschichte“ (Tilly, 1976, S. 99) und scheint selbst schon die verfehlte Rezeption seiner kommenden Arbeiten hierzulande vorauszuahnen. Tatsächlich ist in Deutschland der Graben zwischen Geschichts- und Sozialwissenschaft immer noch breit, anders etwa als in Frankreich oder den USA. Historiker und Historikerinnen, die angesichts der „Theoriebedürftigkeit der Historie“ (Koselleck, 2003) immer Ausschau nach theoretischen Anleihen aus den Sozialwissenschaften halten, sollten mit dem Theorieimport sorgfältig umgehen, ja ihn womöglich geschickt kaschieren, um nicht den historischen Charakter ihrer Studien zu gefährden. Umgekehrt gilt, dass ein historischer Ansatz in der Soziologie eher ungewöhnlich geworden ist, weil sich diese Disziplin im Zuge ihrer Ausdifferenzierung immer mehr zu einer präsentistischen Wissenschaft ohne historischen Tiefgang entwickelt hat. Einen Max Weber etwa, der genauso kompetent über das Römische Reich schreiben kann wie über das Kaiserreich seiner Zeit gibt es heute nicht mehr. Es kommt aber noch ein anderer Grund hinzu, der mir als langjähriger Herausgeber einer Fachzeitschrift aufgefallen ist. Obgleich alle Soziologen und Soziologinnen heutzutage des Englischen mächtig sind und sogar in dieser Sprache publizieren, gewinnt ein Werk in der öffentlichen Aufmerksamkeit einer Disziplin erst dann die nötige Aufmerksamkeit, wenn es in deutscher Übersetzung vorliegt. Erst dann, so scheint es, kann es umstandslos in den deutschsprachigen Diskurs eingespeist werden und gehört von da an bei entsprechendem Rezeptionserfolg zum Kernbestand der deutschen Sozialwissenschaft. Man nehme nur einen zeitgenössischen Klassiker wie Pierre Bourdieu, der schon frühzeitig von den Erziehungswissenschaften ins Deutsche übertragen wurde und von da an aus dem Diskurs nicht mehr wegzudenken war. Dieses Glück war Charles Tilly nicht beschieden. Man stelle sich nur vor, seine überarbeitete Dissertation über die Vendée, bei Barrington Moore und George C. Homans an der Harvard University 1958 angefertigt, wäre 1964 gleich auf Deutsch erschienen. Auch dann hätte sich alleine schon wegen des Themas vermutlich eher die Geschichtswissenschaft für Tilly erwärmt als die Soziologie. Außerdem waren in den 1960er Jahren weniger Gegen-, denn Revolutionen thematisch angesagt. Aber vielleicht ist ja der zweite Band dieses Autors auf Deutsch der Auftakt zu einer ganzen Übersetzungsserie seines Werkes in der Hamburger Edition? Wie wahrscheinlich wird dann sein postumer Rezeptionserfolg sein? Das lässt sich besser entscheiden, wenn der analytische Mehrwert seines Ausfluges in die Mikrosoziologie festgestellt ist.

Der Auftakt des Buches ist typisch Tilly, denn wie immer beginnt er mit einem ausführlichen Beispiel. Um die Bedeutsamkeit von Gründen zu illustrieren, setzt er mit dem traumatischen Ereignis von 9/11 ein und dekliniert die zahlreichen Begründungen durch, die von den Betroffenen des Terroraktes bis zu den fachwissenschaftlichen Studien zu Terrorismus allgemein und dem islamistischen Terror im Besonderen gegeben wurden. Das ist insofern didaktisch geschickt, als er auf der Basis dieses detailliert geschilderten Ereignisses nicht nur an Ablauf und Aufarbeitung dieses amerikanischen Traumas informationsgesättigt erinnert. Sondern die Fülle von gegebenen Begründungen lässt sich auch auf die vier Formen zurückschneiden, die seinen Ansatz zu Gründen auszeichnet. Er unterscheidet in der Folge vier Spielarten: Konventionen, Geschichten, Codes und fachliche Erklärungen. Warum diese vier? Erschöpfen sie das Feld von Gründen? Darauf gibt Tilly keine Antwort. Vielmehr werden diese vier überlappenden Kategorien klassifikatorisch gesetzt und in der Folge mit ihnen gearbeitet. Auch das ist typisch Tilly, denn Zeit seines Lebens hat er vor rigorosen thetischen Setzungen analytischer Kategorien nicht zurückgeschreckt, mit denen er in der Folge seine Studie durchgeführt hat. Hier werden die vier Kategorien noch weiter kreuztabellarisch angeordnet, um die Eigenart der jeweiligen Spielart besonders auszuzeichnen. In der Gestalt von Formeln kommen in der populären Version Konventionen, in der spezialisierten Version Codes vor. In der Gestalt von kausalen Darstellungen dominieren in der populären Version Geschichten und in der spezialisierten Version fachliche Erklärungen. Populär und dem Alltagsverstand besonders zugänglich sind Konventionen und Geschichten. Voraussetzungsreicher und daher spezialisiert sind Codes und fachliche Erklärungen. Konventionen kommen im Alltag gern zum Zug, um Verhalten näher zu erläutern ohne kausalen Anspruch. Je nach Kontext, sozialer Situation und sozialem Verhältnis variieren sie in ihrer Eigenart. Bei einschneidenden Ereignissen wie 9/11 reichen Konventionen nicht aus. Vielmehr befriedigen Geschichten das Informations- und Orientierungsbedürfnis: Wer, was, wie und warum?

Geschichten sind für das soziale Leben wegen dreier Merkmale besonders wichtig. Erstens geben sie soziale Prozesse so bearbeitet und vereinfacht wieder, dass sie sich erzählen lassen: ‚X hat Y Z angetan‘ liefert ein einprägsames Bild dessen, was geschehen ist. Zweitens beinhalten sie deutliche Zuweisungen von Verantwortung und bieten sich so für moralische Bewertungen an: Mir gebührt das Verdienst. Er trägt Schuld. Sie haben uns übel mitgespielt. [...] Drittens sind Geschichten mit bestehenden Beziehungen verknüpft und variieren deswegen je nachdem, in welcher Beziehung sie gerade auftauchen. (S. 50 f.)

Vom analytischen Status her gesehen sind alle vier Formen gleichartig, vom historisch-empirischen Stellenwert her gesehen aufgrund jeweiliger multipler Fungibilität jedoch ungleichwertig. Geschichten, vor allem anspruchsvoller Natur, spielen in Alltag und Wissenschaft eine herausgehobene Rolle, so wird das Fazit des Buches lauten. Codes müssen nichts erklären, solange sie sich haargenau mit den geltenden Regeln decken. Dann sind sie einfach eine passgenaue Interpretation der geltenden Vorschriften und das reicht gewöhnlich zur autoritativen Regeldurchsetzung aus. Tilly selbst gibt das Beispiel, als seine Frau Louise und er an einem Mailänder Beamten scheiterten, der ihnen sowohl das Kopieren als auch das Abfotografieren von Archivunterlagen des Mailänder Stadthaushaltes mit den beschwörenden Worten untersagte: „‚Ich bin an das Gesetz gebunden‘.“ (S. 52) Also mussten sie sich niedersetzen und, so die Mühen des Forschungsalltages, die benötigten Unterlagen mit der Hand abschreiben. Die Gebote einer Religion, die Verbote eines Gesetzes, die Anstandsregeln für die standesgemäße Lebensführung einer Klasse müssen niemanden etwas erklären, solange alle sich gewohnheitsmäßig daran halten. Der Dresscode für die Bekleidung beim Pferderennen in Ascot wandelt sich so gut wie gar nicht, auch nach dem Tod der traditionalen Modeikone Königin Elisabeth. Fachliche Erklärungen sind höchst verschiedenartiger Natur, haben aber alle einen soliden kognitiven Kern, weil sie Ursache-Wirkungs-Relationen anzugeben beanspruchen.

Mit dem Beispiel von 9/11 und dem vierteiligen Raster glaubt Tilly einen tragfähigen Ansatz entwickelt zu haben, den er in jeweils vier Kapiteln zu den einzelnen Formen weiter ausarbeitet. Er ist seiner Sache so sicher, dass er selbstbewusst festhält: „Bislang hat noch niemand eine ausreichend weitreichende und umfassende Analyse zu Begründungen durchgeführt“ (S. 58), um Status und Stellenwert, Funktionen und Folgen von Gründen für das soziale Leben befriedigend zu klären. Das ist ein hoher, um nicht zu sagen ambitionierter Anspruch, denn er klammert souverän große Teile der Geschichte der Philosophie, der Psychologie und der Soziologie einfach aus. Zur Diskussion um Gründen und Ursachen gibt es ganze Bibliotheken in der Philosophie. In der Psychologie haben Motive und Gründe eine komplexe und komplizierte Diskussion bis zum heutigen Tage befördert. Tilly zitiert nur kurz C. Wright Mills berühmten Aufsatz über Motive an, nur um ihm vorzuwerfen, er habe beides verwechselt. In der Soziologie, um nur ein Beispiel zu nennen, haben Luc Boltanski und Laurent Thévenot (2007) mit ihrem „Cité-projet“ in ganz ähnlicher Weise den Versuch gemacht, Formen von Rechtfertigungen zu eruieren und sie jeweils auf Philosophien und ihre Traditionen zurückzuführen. In jüngster Zeit kreist der Diskurs um Werte und Bewertungen (Meyer & Peetz, 2021) in ganz ähnlicher Weise um die Fragen, was in Evaluationen als angemessene, faire und gerechte Beurteilungen gelten darf. Alles das scheint Tilly, der enorm belesen ist, nicht zu kennen oder vielleicht nicht registrieren zu wollen, um seine eigene Lesart dieser Problematik umso ungestörter präsentieren zu können. Ein Blick in seine Literaturliste belegt die überwältigende Dominanz angloamerikanischer Literatur, auch wenn Aristoteles mit Rhetorik und Poetik sowie Pierre Nora mit seinen „Essaies d’égo-histoire“ einen kurzen Auftritt haben. „Honi soit qui mal y pense“ – „Ein Schelm, wer Böses dabei denkt“ und anzunehmen wagt, dass Tilly für seinen Ausflug in die Mikrowelt der Akteure und ihrer Begründungen dann doch das Eine oder Andere in den Bibliotheken über Gründe zur Vertiefung der eigenen Analyse gefunden haben könnte.

Auch das Kapitel über Konventionen setzt mit einem hübschen Beispiel ein, macht es uns doch bekannt mit Peggy Post, dem amerikanischen Knigge, die amerikanischen Führungskräften mit Rat und Tat zur Seite steht, wenn es um Fragen der Etikette und der Manieren geht. Peggy Post bekommt Verstärkung durch Erving Goffmans unübertroffene Analysen zur Selbstdarstellung im Alltag, die das Verständnis von Konventionen für gelungene und störungsfreie Interaktion nochmals vertiefen. Tilly destilliert aus diesen Analysen vier Kernelemente der Funktionsweise von Konventionen. 1. Hier geht es um „Angemessenheit für die soziale Situation“ (S. 75), nicht aber um ihren Wahrheitscharakter oder ihre Erklärungskraft. 2. Je nach der Beziehung zwischen der Partei, die Gründe anführt, und jener, die sie empfängt, variieren Konventionen in ihrer Akzeptanz und Legitimität. 3. Für beide Parteien hat die Akzeptabilität gravierende Konsequenzen. 4. Schließlich legitimieren Gründe Praktiken, die andernfalls nicht zu haben wären. Am Beispiel von Notaufnahmen in Krankenhäusern und Kriegsplänen etwa zeigt Tilly die Variationsbreite von Konventionen und ihrer Funktionsweise auf.

Distanz rechtfertigt oberflächliche Begründungen, während Ausführlichkeit bei Distanz unverständlich, zudringlich oder gar peinlich wirkt. Dagegen gilt: Je vertrauter die Beziehung, desto detailliertere Gründe erwartet eine Partei gewöhnlich von der anderen und desto eher muss der Gebende von Gründen mit der Forderung rechnen, eine angefochtene konventionelle Begründung mit einer Geschichte einem Code oder sogar einer fachlichen Darstellung zu untermauern. (S. 81)

Die Überlegungen zu Geschichten sind sicherlich das spannendste Kapitel des Buches, zumal CharlesTilly selbst ein begnadeter Geschichtenerzähler“ (S. 9) ist, so auch Thomas Hoebel und Stefan Malthaner in ihrer informativen Einführung. Wenn man sein Werk auf eine Formel zusammenziehen wollte, was sicher arg vereinfachend, gleichwohl erhellend wäre, so könnte man sagen: Tilly hat sein akademisches Leben lang anspruchsvolle Stories in seinem Werk verfasst und so die Wissenschaftlichkeit seiner Analysen mit der konkreten Anschaulichkeit von Narrativen verknüpft. Das ist, kurz gesagt, eine hohe narrative Kunst, die den Historiker verrät und doch erst theoretisch wie methodisch durch den Soziologen möglich wird. Auch hier beginnt es mit der anrührenden Geschichte des berühmt-berüchtigten Fernsehpredigers Jerry Falwell, dessen evangelikale Mission ein gerüttelt Maß Anteil an der heutigen politischen Spaltung in eine republikanische Rechte und eine demokratische Mitte der Vereinigten Staaten hat. Unterstützer der Rassentrennung bis 1968 hat ihn sein schwarzer Schuhputzer letztendlich zur Konversion mit der Frage bewegt, wann er denn endlich Falwells Kirche beitreten dürfe, weil ihn dessen Predigten so nachhaltig beeinflussten. Das führte Falwell zu seinem Saulus-Paulus-Erlebnis, die einem klassischen Muster der Narrativität folgt. „Das Tun oder die Worte eines anderen weisen den christlichen Helden auf seine Fehler hin, und der sucht daraufhin erschüttert göttlich inspirierten Rat und verändert seinen Kurs“ (S. 98 f.). Was hebt nun Geschichten aus den vier Begründungsformen heraus? „Geschichten liefern vereinfachte kausale Erklärungen zu rätselhaften, unerwarteten, dramatischen, problematischen oder beispielhaften Ereignissen“ (S. 99). Einige charakteristische Merkmale verdeutlichen, warum Geschichten, wenn sie gut sind, so zu überzeugen wissen. Stets darf es sich nur um einige wenige Figuren und ihre Handlungen zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort drehen. Das Augenmerk liegt dabei auf den Dispositionen der Akteure, die ihre Handlungen steuern und nicht etwa Schicksal oder Zufall. Alles andere wird mehr oder weniger ausgeblendet wie erforderliche Bedingungen, andere mögliche Ursachen oder alternative Erklärungen. Sie würden Geschichten nur überfrachten und vom Kern des Narrativs ablenken. Das Muster ist so dominant, dass Zuhörer von Geschichten häufig schon den Fortgang erahnen oder selbständig weiterspinnen können. Meist enthalten sie auch eine Moralbotschaft, die Lob oder Tadel an die Akteure der Geschichte zuzuweisen erlaubt. Rückfragen an eine Geschichte richten sich eher auf die Motive der Akteure und weniger auf die Kausalität der Geschichte. Ähnlich wie Konventionen stiften sie Beziehungsarbeit, indem sie neue Relationen herstellen, bestehende bestätigen oder beschädigte reparieren. Alles das leisten Geschichten durch ihr Simplifikationsdispositiv: „Geschichten stellen Akteure, Aktionen, Ursachen und Wirkungen vereinfacht dar. Die Begründungen, die sie liefern, gewinnen durch Vereinfachungen Klarheit“ (S. 107). Tilly demonstriert den narrativen Charakter anhand von Lebensgeschichten, Autobiographien und Krankheitsgeschichten. In diesem Kontext kommt auch Aristoteles zu Ehren, denn Geschichten lassen sich als Rhetorik mit dem Imperativ begreifen, dass man sein Publikum kennen muss, damit ein Narrativ überzeugen kann. „In der Autobiografie, ob schriftlich oder mündlich, ist gewöhnlich ein Paket aus Geschichten zusammengeschnürt, die eigentlich ein Sammelsurium sind, sich aber gelegentlich zu einer einzigen großen Story zusammenfügen: zu einer apologia pro vita sua“ (S. 118). Wie begeistert Tilly von der Existenz von Geschichten ist, zeigt das Fazit seiner Ausführungen: „Insgesamt stellen Geschichten eine großartige menschliche Erfindung dar, in ihrem Wirkungsbereich – der Organisation sozialer Beziehungen – vergleichbar mit dem Pflug in der Landwirtschaft. Wie der Pflug schaffen sie es mit geringem Kraftaufwand, tief in die Erde hineinzuwirken“ (S. 130 f.).

Ähnliches leisten Codes, nur noch viel sparsamer. Denn Codes kommen vor allem im Recht und der Medizin zum Einsatz, wo sie autoritativ Urteile verkünden wie in der Rechtssprechung oder im Patientengespräch. Tilly erzählt von der Laura J. Niles Stiftung, die sich seit 1997 bedürftigen Personen widmete und ihnen Bildungschancen und ökonomische Unterstützung angedeihen ließ. Alt geworden, änderte Laura Niles ihr Testament zugunsten von Serena und Salvatore Bono, die sich auf diese Weise aus dem Stiftungsfond großzügig bedienten. Eine Klage aufgrund unzulässiger Einflussnahme veranlasste die Gerichte, die Geschichten der Betroffenen zu durchleuchten und die Bonos wegen ihrer Manipulation des Trusts zu verurteilen. Dieses recht komplizierte Beispiel für eine mit dem amerikanischen Recht unvertraute Leserschaft demonstriert gleichwohl recht gut, wie Codes funktionieren. „Sobald es um Codes geht, berufen sich Begründungen für Handlungen auf spezielle Sätze an Kategorien, auf Verfahrensweisen zum Ordnen von Fakten und Deutungsregeln. Kategorien, Verfahrensweisen und Regeln ergeben zusammengenommen Codes“ (S. 138). Stets geht es bei codebasierten Verfahren um „die Logik der Angemessenheit“, die häufig genug „der von der kausalen moralischen Logik“ (S. 162) von Geschichten widerspricht. Das zeigt Tilly anhand von Recht und Medizin, seien es Rechtsstreitigkeiten oder medizinische Kunstfehler. Codes regieren in der professionellen Welt, in der die Spezialisten „eine zweifache Transformation“ vornehmen: „Sie konvertieren Berichte über Ursachen und Wirkungen in Formeln und alltägliche Ausdrucksweisen in fachsprachliche Ausführungen“ (S. 156). Sparsamkeit und effiziente Funktionsweise, schließlich verhelfen Codes zu Urteilen oder Therapien, stehen freilich unübersehbare Kosten dieser Art von kühler und sachlicher Professionalität gegenüber, denn Opfern gegenüber wird häufig genug das moralische Recht auf die eigenen Leidensgeschichte verweigert. Allerdings charakterisiert das genau die differentia specifica der Funktionsweise von Codes: „Geschäft ist Geschäft“ heißt es in der Wirtschaft, „Recht spricht Recht“ und nicht Gerechtigkeit, lautet das Mantra der Jurisprudenz.

Das Kapitel über fachliche Erklärungen leitet Tilly mit der Geschichte der National Academy of Sciences (NAS) und ihrer forschenden Abteilung des National Research Council (NRC) ein, die Abraham Lincoln als Beratungs- und Forschungsorgan im amerikanischen Bürgerkrieg aus der Taufe hob. Tatsächlich operieren diese Einrichtungen als can do all-Institutionen, vermag die Politik doch alle möglichen Fragen an sie zu richten. Dann wird Grundlagenforschung getrieben, woraus dann wiederum Forschungsberichte und Executive Summaries als Shortcut der Resultate entstehen. Es handelt sich also um einen mehrstufigen, komplexen wissenschaftlichen und professionellen Beratungskomplex. Fachliche Erklärungen, die daraus hervorgehen, „liefern per definitionem kausale Erklärungen (anstatt einer Logik der Angemessenheit zu gehorchen), die (anstatt im Alltagswissen) in einem systematischen Fachgebiet verankert sind“ (S. 167). Diese allgemeine Charakterisierung deckt freilich eine ungeheure Bandbreite von höchst unterschiedlichen naturwissenschaftlichen, geschichtswissenschaftlichen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisformen ab. Tilly holt noch einmal gewaltig aus, um diesen Kosmos des Wissens wenigstens in groben Zügen zu umreißen. In der Folge diskutiert er wissenschaftliche Erklärungen von Gewalt, Kriminalität, Allmende-Bewirtschaftung und die Evolution des Menschen. In diesen Abschnitten brilliert der Makrosoziologe, denn Tilly zeigt sich mit der einschlägigen Fachliteratur auf diesen Gebieten recht vertraut. Diese Abschnitte können selbst als Stenogramme des Wissens- und Diskussionsstandes in diesen Themenbereichen konsultiert werden. In dieser Kraft zur analytischen Verdichtung liegt eine große Stärke des Soziologen.

Das sei nur anhand des letzten Beispiels der Biologen Charles Pasternak, Luigi Cavalli-Sforza und Jared Diamond illustriert. Alle drei widmen sich einem gemeinsamen Thema, der Erklärung der menschlichen Evolution und alle drei bedienen sich der Grundlagen der Genetik als theoretischem Rahmen. Da aber alle drei einen unterschiedlichen Ansatz wählen, kommen sie durchaus zu voneinander abweichenden Ergebnissen. Boris Pasternaks „Quest“ charakterisiert alle Organismen, einschließlich des Menschen, wie der Titel schon sagt, als suchende Wesen, gleichgültig ob passiver oder aktiver Natur, also „von automatischen Bewegungen zu Licht und Nahrung bis zur absichtsvollen Erkundung des Unbekannten“ (S. 184). Was den Menschen auszeichnet und was ihn letztlich an die Spitze dieser suchenden Entwicklung katapultiert hat, ist seine Fähigkeit zu Erfindungen, zur Migration und zur kongenialen Umweltanpassung. Die erfolgreiche Suche des Menschen befördert die natürliche Auslese und treibt die Evolution voran. „All dies zusammen macht den Homo zur suchenden Spezies par excellence“ (S. 185).

Luigi Cavalli-Sforza widmet sich in seinem Buch „Gene, Völker und Sprachen“ (2001) der mittelfristigen Evolution. Ihn interessiert, wie Mutationen über Generationen hinweg kumulieren und in Migrationsbewegungen, aber auch dem Austausch der Bevölkerungen zum Ausdruck kommen. Mittels der Distribution von DNA, der Sprachen, aber auch der kulturellen Formen sucht er zu zeigen, dass sich als Resultat der Evolution regionale Genpools herauskristallisieren. Ihr genetisches Erbe kristallisiert sich z. B. in der differentiellen Anfälligkeit für Krankheiten und Umweltanpassungsbereitschaft. Was wie eine Entstehungsgeschichte von „Rassen“ aussieht, ist freilich lediglich Umweltanpassung wie unterschiedliche Hautfarbe, denn die Menschen untereinander gleichen sich genetisch stärker als mit dem engsten menschlichen Verwandten, dem Schimpansen.

Jared Diamond interessiert sich in seinem Bestseller „Guns, Germs, and Steel“ (1992), also Waffen, Keime und Stahl, für eine Erklärung von „Arm und Reich“ (1998), wie der deutsche Titel lautet. Er reiht sich damit in die große Phalanx der Forschung zur klassischen Frage der Wirtschafts- und Sozialgeschichte ein, warum in Eurasien und nicht in Afrika oder Australien der Take-off zur rapiden Entwicklung eingesetzt hat. Seine Antwort kommt in dem Originaltitel schon zum Ausdruck: Eine überlegene Metallverarbeitung und bessere Waffentechnologien im Verein mit der Resistenz gegenüber pathogenen Mikroben durch ihr intensives innereurasisches Wanderungsgeschehen führten schließlich im Kontakt mit anderen Kulturen, die nicht über diese evolutorische Ausstattung verfügten, zur gleichsam tödlichen Überlegenheit. Neben diesen unmittelbaren Ursachen diskutiert Diamond noch eine mittelbare Ursachenreihe, die auf die Unterschiede zwischen den eurasischen Lebensräumen und den anderen Weltgegenden abhebt. Der erste Faktor, der um 11.000 v. Chr. eine wichtige Rolle spielte, als der Homo sapiens alle Weltregionen besiedelt hatte, betrifft die unterschiedliche Ausstattung mit Wildpflanzen und -tieren. Hier war die eurasische Landmasse bevorteilt, was ihr eine gute Nahrungsmittelversorgung bescherte. Ein zweiter Faktor stellte das intensive Wanderungsgeschehen auf der Ost-West-Achse dar, weil auf diese Weise die rasche Verbreitung von technischen Erfindungen ermöglicht wurde. Ein dritter Faktor richtete sich auf die Dissemination zwischen den Kontinenten. Je abgelegener ein Kontinent wie Australien oder der amerikanische Doppelkontinent, desto langsamer konnten sich dort Innovationen ausbreiten. Ein vierter Faktor schließlich zielt auf die unterschiedliche Größe ab, denn Größe führt zu mehr Konkurrenz und damit zu höheren Anreizen für Innovationen.

Tilly sieht in Diamonds Werk die ideale wissenschaftliche Erklärung in der Art und Weise, wie Argumente unterschiedlicher Komplexität miteinander verknüpft werden. Das Resultat ist eine gelungene, weil anspruchsvolle Geschichte, die nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die interessierte breite Leserschaft zu überzeugen vermag. Seine Begeisterung für die Evolutionsforschung schlägt so hohe Wellen, dass er daraus eine Handreichung für gelungene historische Sozialforschung schmiedet.

Vereinfache den Raum, für den deine Erklärung gelten soll. Reduziere die Anzahl der Aktionen und Akteure. Minimiere die Verweise auf zusätzliche, indirekte, wechselseitige, gleichzeitige, umweltbedingte und rückkoppelnde Effekte. Begrenze Deine Darstellung – insbesondere die zu ursächlichen Mechanismen – auf Elemente mit expliziten und gut vertretbaren Entsprechungen innerhalb der spezialisierten Disziplin, aus der du schöpfst. Und denke schließlich an Deine Zuhörerschaft: Du wirst Deine anspruchsvolle Story unterschiedlich erzählen müssen, je nach Kenntnisstand und Motivation der Zuhörenden. Verstehe deine Erzählung einer anspruchsvollen Story als Beziehungsarbeit. (S. 193f.)

In seinem Fazit plädiert Tilly dafür, „Gründe miteinander in Einklang zu bringen“. Nochmals holt er weiter aus, um diese Notwendigkeit anhand der Diskussion um den Terrorismus zu begründen. Er stellt Magnus Ranstorps fachlich-technische, makrosoziologische Erklärung der mikrosoziologischen Geschichte von Jessica Stern gegenüber, die ein Buch in Ichform „Terror in the Name of God“ auf der Basis von Interviews mit Terroristen geführt hat, in dem es sich genauso um Glauben wie Gewalt dreht. Abschließend widmet sich Tilly nochmals seinen vier Formen und fasst die wichtigsten Gesichtspunkte zusammen. In professionellen Bereichen herrschen Codes und fachliche Erklärungen vor. Denn es gilt: „Je größer die Professionalisierung des Wissens in einem beliebigen sozialen Umfeld, desto stärker herrschen Codes und fachliche Erklärungen vor“ (S. 212). Professionalisierung eröffnet Chancen zur Distanz und zur autoritativen Durchsetzung einer formelhaften Begründung, bringt also das Macht- und Ungleichheitsgefälle zwischen Professionellen und Laien zum Ausdruck. Doch versierte Laien haben immer die Chance, dem professionellen Superioritätssyndrom entgegen zu treten. „Selbst wenn Distanz und/oder Ungleichheit herrscht, schwenken Gebende in dem Maß, in dem Nehmende erkennbare Macht haben, um ihnen materiell zu schaden, von Formeln zu kausalen Darstellungen über.“ (S. 213) Rechtsprozesse um ärztliche Kunstfehler sind ein beredtes Beispiel.

Tilly hat einen anregenden wie spannenden Versuch unternommen, das Feld der Gründe in vier Formen zu kategorisieren. Jede Form der Begründung empfängt eine ausführliche Würdigung, die vor allem durch gut recherchierte und dokumentierte Fälle aus den verschiedensten gesellschaftlichen Lebensbereichen aufbereitet werden. Sein Erzählton verführt mitunter dazu, sich voll und ganz in die verschiedenen Beispiele zu vertiefen, nur um dann unsanft daran erinnert zu werden, dass es hier um eine Art pragmatistische Handlungstheorie geht, die mit unterschiedlichen Typen von Begründungen operiert. Obgleich also der Ansatz mikrobasiert ist, demonstrieren seine ausgewählten Fälle die jeweilige makrosoziologische Reichweite. Ein Stück weit illustriert das vorliegende Buch den akademischen Lebensweg des Verfassers: Ganz am Anfang seiner Karriere folgt seine Argumentation einem strikten Strukturalismus, obwohl auch hier schon quellenbasiertes historisches Material die empirische Basis bildet. Im Laufe der Zeit werden aus Strukturen Netzwerke und der Fokus wird auf die Funktionsweise von Mechanismen als kausale Erklärungsfaktoren von sozialen Prozessen im Rahmen eines relationalen Realismus gerichtet. Zugleich wird dieser Ansatz angereichert durch eine pragmatistische Handlungstheorie, die den Erklärungswert anspruchsvoller Narrative unterstreicht. Das macht seinen Ansatz, dem wir „eine beispiellose Fülle intellektuell anregender, häufig provokativer und richtungsweisender Beiträge zu ganz unterschiedlichen Bereichen der Sozialwissenschaften“ (Mackert, 2008, S. 336) verdanken, anschlussfähig für die heutige sozialwissenschaftliche Forschung. Zeit also, Tilly wieder zu lesen, vor allem dann, wenn die nächsten Bände bei der Hamburger Edition auf Deutsch erschienen sind.

Literatur

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Online erschienen: 2022-12-06
Erschienen im Druck: 2022-12-01

© 2022 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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Downloaded on 28.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/srsr-2022-2030/html
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