A. Honold u.a. (Hgg.): Mit Deutschland um die Welt

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Titel
Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in der Kolonialzeit


Herausgeber
Honold, Alexander; Scherpe, Klaus R.
Erschienen
Stuttgart 2004: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
524 S.
Preis
€ 59,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johann Büssow, Institut für Islamwissenschaft, Freie Universität Berlin

Der deutsche Kolonialismus war im Vergleich zu den kolonialen Projekten Großbritanniens und Frankreichs in Afrika und Asien von kurzer Dauer. In der deutschen Öffentlichkeit wird er daher, zudem noch überlagert durch das Erinnern an die Ereignisse der Weltkriege und des Holocaust, bisher eher selten diskutiert, in historischen Überblicksdarstellungen wird er oft nur als weitgehend wirkungslose Episode deutscher Geschichte abgehandelt.1 Dabei wird meist übersehen, dass Kolonialismus für alle beteiligten Gesellschaften weit mehr bedeutete als das Streben nach territorialer Herrschaft. So war die Gesellschaft des deutschen Kaiserreichs, vermittelt durch die vielfältigen kolonialen Unternehmen, Fremdheitserfahrungen von bisher unbekannter Intensität ausgesetzt. In unterschiedlich enger Korrespondenz mit dem kolonialen Ausgreifen des jungen deutschen Nationalstaates, aber kaum je unberührt davon, entstand eine ganze Palette sowohl von wissenschaftlichen Disziplinen als auch von künstlerischen Genres und von gesellschaftlichen Institutionen, die sich explizit der Erkundung außereuropäischer Kulturen und Regionen widmeten.

Die formative Phase der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und ästhetischen Moderne in Deutschland fällt also zusammen mit einer ungekannten Form der Auseinandersetzung mit dem kulturell Fremden in allen gesellschaftlichen Bereichen. Nicht zuletzt die großen Museumsprojekte in der Hauptstadt Berlin zeigen, dass das Kaiserreich bewusst versuchte, die Ressourcen fremder Kulturen zu Repräsentation und Identitätsstiftung heranzuziehen. Mehr noch: die Durchsetzung der Kolonialpolitik wäre wohl kaum möglich gewesen ohne eine Vielzahl von Kulturtechniken, die dieses Vorhaben für das heimische Publikum veranschaulichten und legitimierten. Die Vermutung liegt nahe, dass von den hier gefundenen Umgangsweisen mit dem Fremden Wirkungen ausgegangen sind, die den vergleichsweise kurzen Zeitraum der deutschen Kolonialherrschaft weit überschreiten.

Die vorliegende „Kulturgeschichte des Fremden“ entzieht sich gängigen Mustern von Geschichtsdarstellungen. Die Herausgeber, Alexander Honold und Klaus R. Scherpe, Professoren für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft in Basel und Berlin, haben zusammen mit einem interdisziplinären geisteswissenschaftlichen Autorenteam ein beeindruckendes Panorama vorgelegt, das Problemzusammenhänge der deutschen Begegnung mit dem kulturell Fremden erschließt. Es handelt sich um eine Diskursgeschichte, die weder bei der Analyse von „Fremdbildern“ noch bei der Klärung von Fakten stehen bleibt, sondern versucht, die „Produktionsbedingungen“ des Fremden selbst freizulegen.

Auf eine programmatische Einleitung folgen 54 knapp gehaltene Fallstudien, die exemplarisch ausleuchten, wie mit der „kulturellen Ressource“ des Fremden umgegangen wurde, bei der Inszenierung von Staatsakten ebenso wie in der aufkommenden Reklamewirtschaft, in den Aktivitäten der kolonialistischen Agitatoren, im Groschenroman oder in den Werken der künstlerischen Avantgarde. Anstatt den Stoff in mehr oder minder enge Rubriken einzusortieren, haben die Herausgeber bei der Anordnung das einfache wie überzeugende Prinzip der Chronologie gewählt. So kann man den Band als eine Art kulturgeschichtlichen Kommentar zur Ereignisgeschichte des Kolonialismus lesen, angefangen von der Eröffnung des Suezkanals 1869 bis hin zum Ende des Ersten Weltkriegs und dem Verlust der deutschen Kolonien 1918. Aber auch andere Lektüren sind denkbar: Das Inhaltsverzeichnis und nicht zuletzt das ausführliche Register erlauben es, Beiträge zu bestimmten Regionen, künstlerischen Genres oder Personen herauszugreifen. Umsichtig eingestreute Querverweise innerhalb der einzelnen Beiträge stellen überdies weitere inhaltliche Verbindungen her. Dies sei im Folgenden anhand einiger Beiträge demonstriert, die die Region des Vorderen Orients berühren.

In Oliver Simons Beitrag zu Beginn des Bandes dient der Vordere Orient nur als Ausgangspunkt für ein Schlaglicht auf die weltumspannende Institution der Post. Preußens Oberpostmeister Heinrich von Stephan nahm 1869 an der Zeremonie zur Eröffnung des Suezkanals teil. Er hatte wie die anderen deutschen Vertreter nur eine Zuschauerrolle inne, verfasste aber einen ausführlichen Reisebericht, in dem er seine wichtigste Erkenntnis festhielt: Verkehrspolitik ist Machtpolitik. Schon bald darauf war von Stephan nicht länger nur Beobachter, sondern wurde als General-Postdirektor des Norddeutschen Bundes und später als Staatssekretär und Minister zum maßgeblichen Gestalter des Postwesens im Deutschen Reich und darüber hinaus. Er brachte eine Reihe technischer und organisatorischer Neuerungen auf den Weg: Der Postbeamte wurde unter seiner Ägide zum angesehenen Staatsdiener par excellence, die Feldpost motivierte kämpfende Soldaten und Briefschreiber an der „Heimatfront“ gleichermaßen, ihre Außenstellen befestigten die Landnahme in eroberten Territorien, und nicht zuletzt erwiesen sich Feldpostkarten als probates Mittel zur Sprachstandardisierung. Diese frühen Erfahrungen wurden auch auf die deutschen Kolonien übertragen. So wurden in Ostafrika mit Hilfe des Orientalischen Seminars in Berlin speziell ausgebildete Postbeamte eingesetzt. Der „Suaheli-Sprachführer für Postbeamte“ von 1910 war Teil der von Berlin aus geführten Kampagne für die Schreibung des Suaheli in Lateinschrift. Die große Popularität des Postministers von Stephan, die in zahlreichen biografischen Darstellungen und Ehrungen zum Ausdruck kam, war, so das Fazit des Autors, wohl auch darauf zurückzuführen, dass mit Hilfe der Post Kolonialpolitik gleichsam als unpolitisches Unternehmen vorstellbar wurde.

Ein ehemaliger Beamter der von Stephanschen Reichspost begegnet dem Leser auch in dem Artikel Nana Badenbergs über den 1888 erschienenen Roman „Frau Buchholz im Orient“ des Berliner Erfolgsautors Julius Stinde. Die Rede ist von dem Reiseunternehmer Carl Stangen, der in den 1880er-Jahren zum führenden deutschen Anbieter von Orientreisen avanciert war. Eine der von Stangen angebotenen „Gesellschaftsreisen“ war es, die dem Autor Stinde den Stoff für seinen Roman lieferte. Seine Romanheldin, Frau Buchholz, konzipiert als typische Hausfrau aus dem gehobenen Bürgertum, sucht im Orient die Vermehrung von Bildung wie von Besitz – geht es doch neben dem Studium antiker Stätten auch um die Erschließung neuer Absatzmärkte für das Unternehmen ihres Mannes. Der Tourismus, so Badenberg, erscheint hier als Sinnbild und Werbung für den Kolonialismus zugleich, selbst wenn die Bestrebungen des deutschen Reiches in Bezug auf den Vorderen Orient nicht in erster Linie auf direkte Herrschaft abzielten.

Die Ambivalenz der deutschen Orientpolitik unter Kaiser Wilhelm II. wird von Alexander Honold in seinem Beitrag zum Kaiserbesuch in Jerusalem 1898 als rationale politische Strategie gedeutet. Ziel war es, durch Unterstützung nichtstaatlicher Initiativen den Einfluss im Orient auszubauen, ohne selbst als Kolonialmacht aufzutreten. Die Inszenierung der kaiserlichen Reise als Pilgerfahrt zu den heiligen Stätten diente dabei dem diplomatischen Flankenschutz (daran beteiligt war übrigens wiederum der Reiseunternehmer Stangen). Des Kaisers „pompös unklare Botschaften an das deutsche Publikum“ dienten dazu, so Honolds Fazit, die zahlreichen Paradoxien rund um diesen Besuch symbolisch aufzulösen.

Dass Vorstellungen vom Orient auch als Wirtschaftsfaktor von Bedeutung sein konnten, demonstriert das von Klaus R. Scherpe vorgestellte Beispiel der Dresdner Zigarettenfabrik Yenidze. Diese machte ihr an prominenter Stelle innerhalb der Stadt gelegenes Fabrikgebäude zum Aufsehen erregenden Werbeträger, indem sie ihm 1909 die Form einer Moschee von gewaltigen Ausmaßen verlieh. Die in der Werbung verbreiteten orientalischen Stereotype – teils zurückgehend auf Motive der Orientmalerei des 19. Jahrhunderts – erwiesen sich als erfolgreiches Werbemittel, mit dem die US-amerikanische Konkurrenz vom Tabakmarkt verdrängt werden konnte.

Werbung, Popularkultur und literarische Avantgarde gingen in den Texten, Zeichnungen und Inszenierungen der Berliner Dichterin Else Lasker-Schüler eine schillernde Verbindung ein, wie der Beitrag von Sylke Kirschnick demonstriert. Die Symbole Stern und Halbmond verweisen in Lasker-Schülers Werk ebenso auf kunsthistorische Traditionen wie auf zeitgenössische Reklame für Tabak, Teppich und Tourismus. Ihre Figuren tanzen an den realen Orten wilhelminischer Orientpolitik ebenso wie in der „ägyptischen Straße“ des Berliner Lunaparks. Ähnlich wie in den sonst ganz anders gearteten „arabischen Romanen“ Paul Scheerbarths (mit denen sich Roland Innerhofer im vorliegenden Band auseinandersetzt) wird von Lasker-Schülers der „Herstellungscharakter des Orients“ stets mit zur Geltung gebracht. Beiträge zu Erzählungen Hugo von Hofmannsthals (Oliver Simons) und zu orientalisierenden Interieurs (Klaus R. Scherpe) zeigen überdies eindrucksvoll, wie um die Jahrhundertwende exotische Requisiten einem raschen Bedeutungswandel unterworfen waren.

Nicht allein der Faktenreichtum macht diesen Sammelband zu einem echten Gewinn, sondern auch der konsequente Blick auf die Praxisformen (Presse, „Völkerschauen“, Romane, wissenschaftliche Disziplinen), mit denen das Fremde in Deutschland „produziert“ wurde. Nicht alles in den vielfältigen Beiträgen will sich zu einem kohärenten Ganzen fügen, umso ergiebiger und überraschender ist aber die plötzliche Erkenntnis von Korrespondenzen zwischen Hoch- und Popularkultur, politischem und Alltagsdiskurs. Wie an einigen der oben besprochenen Beiträge sichtbar wurde, werden darüber hinaus auch personelle Netzwerke zwischen Akteuren aus Politik, Kultur und Wirtschaft sichtbar, die den Kolonialismus als Projekt von gesamtgesellschaftlicher Tragweite plastisch werden lassen. Etwas störend sind gelegentlich auftauchende antiquierte Begriffe wie „ottomanisch“ (S. 121) und „Mohammedaner“ (S. 175) oder „der morgenländische Muezzin“ (S. 383), die weitgehend unkritisch aus den verwendeten Quellen übernommen wurden.

Es liegt in der Natur dieser Quellen, dass darin die bürgerlichen Schichten der Kolonialmetropole Berlin sowie anderer deutscher Großstädte weit überrepräsentiert sind. Man hätte sich hier noch mehr Beiträge gewünscht, die beleuchten, wie das Fremde in der Arbeiterschaft und in der Landbevölkerung rezipiert wurde. Ein anderes Projekt, das aber über den Rahmen des vorliegenden Bandes hinausweist, wäre es, die Stimmen der Anderen, der „Fremden“ selbst hörbar zu machen. Was wissen wir über die Erfahrungen derjenigen, die sich auf „Völkerschauen“ bestaunen ließen? Wie wurde der westliche Bedarf an Orientteppichen in den Teppichknüpfzentren Anatoliens und Irans wahrgenommen? Ein solches Projekt könnte so etwas liefern wie eine Archäologie der wechselseitigen Fremdheitserfahrungen in der Globalisierung.

Anmerkung:
1 Es mag allerdings eine Trendwende signalisieren, dass in den vergangenen Jahren eine Reihe kulturhistorisch ausgerichteter Studien zum deutschen Kolonialismus erschienen sind, auf die in dem hier besprochenen Band vielfach verwiesen wird. Hier seien nur zwei einschlägige jüngere Titel genannt: Kundrus, Birthe (Hg.), Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Kolonialismus, Frankfurt am Main 2003; Zeller, Joachim (Hg.), Kolonialmetropole Berlin. Eine Spurensuche, Berlin 2002.

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