Titel
Memorylands. Heritage and Identity in Europe Today


Autor(en)
Macdonald, Sharon
Erschienen
London 2013: Routledge
Anzahl Seiten
XIV, 293 S.
Preis
€ 31,59
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Markus Tauschek, Europäische Ethnologie/Volkskunde, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

Fast schon poetisch mutet der Titel „Memorylands“ an, mit dem die britische Kulturanthropologin Sharon Macdonald ihre programmatische und engagierte Monografie zu europäischen Erinnerungskulturen und Vergangenheitspraktiken überschrieben hat. Macdonald, die bereits vielfältig zur Institution Museum als einer wichtigen Agentur des kollektiven Gedächtnisses geforscht und dabei unter anderem auch Modi musealer Wissensproduktion rekonstruiert hat, hat sich in ihren jüngeren Arbeiten vertieft mit Fragen der Geschichts- und Erinnerungspolitik auseinandergesetzt – etwa auch in ihrer 2009 ebenfalls bei Routledge erschienenen und viel beachteten Monografie zur Biografie des Reichsparteitagsgeländes in Nürnberg.1 Aus beiden Schwerpunkten sind zentrale Thesen, Perspektiven, Erkenntnisse und Fragen in „Memorylands“ eingeflossen.

Das Ergebnis ist ein im besten Sinne des Wortes dichter und in vielfacher Hinsicht programmatischer Text, der sich nicht nur mit Erinnerungstheorien, -praktiken, Geschichtsverständnissen und den jeweils benachbarten semantischen Feldern auseinandersetzt, sondern der sich auch für kulturwissenschaftlich-ethnografische Perspektiven und die damit verbundenen methodischen Zugänge ausspricht. Macdonald möchte in ihrer Arbeit, die eine beeindruckende Zahl von Fallstudien referiert, die in kulturwissenschaftlichen Disziplinen vielfach zu Recht stark gemachte mikroperspektivische Forschung öffnen, um größere gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen aufzeigen zu können. Nur im Vergleich unterschiedlicher erinnerungskultureller Felder – so ihre Forderung –, ließen sich etwa nationale Differenzen aufzeigen oder die Konstruktionsmechanismen Europas über Kulturerbe und Geschichte offenlegen. Deshalb wählt Macdonald auch einen breiten komparativen Zugang, der mit dem differenzierten Fokus auf den „memory complex“ auch die Diversität erinnerungskultureller Formate, Formen, Politiken und Praktiken zu erfassen vermag. Mit dem Begriff „memory complex“ verhindert Macdonald gleichzeitig eine semantisch vorgeprägte emotionale Aufladung, die in vielen Komposita rund um den Begriff Erinnerung, der ja auch alltagssprachlich vielfältige Anwendung findet, greifbar wird.

In den einleitenden Kapiteln rekapituliert Macdonald nicht nur verschiedene theoretische Ansätze, Konzepte von Geschichte und Geschichtsbewusstsein oder Theorien zum sozialen oder kollektiven Gedächtnis. Die Autorin formuliert hier vielmehr ein kulturwissenschaftlich grundiertes Forschungsprogramm zu jenen Prozessen, die sie als „past presencing“ begreift, also als Formen und Praktiken der Vergegenwärtigung von Vergangenheit. Damit ist gleichzeitig auch der Fokus auf die Prozesshaftigkeit in der Konstruktion von Vergangenheit in der jeweiligen Gegenwart aufgerufen. Die dekonstruierende kulturwissenschaftliche Analyse von Erinnerungs- und Geschichtskulturen wird damit letztlich zur Basis einer kritischen Positionsbestimmung von Gesellschaft und Kultur.

„Memorylands“ ist nach dem einleitenden Kapitel in sieben analytische Kapitel gegliedert, die sich unter anderem dem Herstellen, Fühlen, Verkaufen oder Musealisieren von Erinnerung in Europa widmen. Alle Kapitel diskutieren dabei jeweils zentrale analytische Zugänge: So setzt sich das mit „Making Histories“ überschriebene Kapitel mit der von Eric Hobsbawm und Terence Ranger problematisierten „invention of tradition“ auseinander. Daneben aber geht es selbstreflexiv um die Frage, welche Rolle kulturwissenschaftliche Wissensbestände bei der Konstruktion von Traditionen in Europa spielten und spielen. Die Perspektive auf erfundene – oder besser: konstruierte – Traditionen und Geschichtsbilder müsse, so exemplifiziert Macdonald an ihren eigenen Forschungen zur Isle of Skye, immer auch auf historischer Forschung beruhen. Nur damit ließen sich etwa Leerstellen auf der einen und emphatische Überhöhungen auf der anderen Seite kontextualisieren und verstehen. Hier setzt auch das folgende Kapitel, überschrieben mit „Telling the Past“, an, indem es mit einem eher methodologischen Schwerpunkt und mit dem Ausloten bestehender Forschungslücken danach fragt, wie Vergangenheit und ihre Vergegenwärtigung wissenschaftlich untersucht werden können. Dass dabei Emotionen, Körperlichkeit und Prozesse der Materialisierung eine zentrale Rolle spielen, steht im Zentrum des Kapitels „Feeling the Past“. Hier zeigt Macdonald, wie Geschichtsbilder auch in emotionaler Aufladung entstehen. Am Beispiel des Begriffs „Nostalgie“ wird dabei insbesondere auch im Kontext postsozialistischer Transformationen deutlich, wie und warum Menschen affektiv kodiert an vergangene Lebenswelten erinnern. Dass es dabei aufschlussreich und höchst notwendig ist, nationale Differenzen zu reflektieren, zeigt sich etwa an den unterschiedlichen Ausprägungen postsozialistischer Nostalgie in Albanien oder Rumänien: Während in Albanien aufgrund einer überaus brutalen sozialistischen Zeit und bis heute anhaltender Armut kaum eine affektive Überhöhung der Vergangenheit zu beobachten sei, läge dies in Rumänien eher an einer ungebrochenen Kontinuität der führenden Eliten.

Mit dem Blick auf die ökonomische Dimension spricht Macdonald im Kapitel „Selling the Past“ den gerade in der jüngeren Kulturerbeforschung breit diskutierten Prozess der Kommodifizierung kultureller Ressourcen an. Geschichts- und Erinnerungskultur ist auch mit der Herausbildung entsprechender Märkte verknüpft. Diskursiv werde dabei immer wieder das Argument der Authentizität in Stellung gebracht, welche in einem populären Verständnis durch die Ökonomisierung als bedroht interpretiert werde. In Anlehnung an die Thesen Barbara Kirshenblatt-Gimbletts plädiert Macdonald hier jedoch plausibel für eine sorgsame Analyse, die Ökonomisierung und Authentisierung als kulturelle Praktiken mit spezifischen Eigenlogiken begreift, ohne diese zu bewerten.

Insbesondere das Kapitel zur Musealisierung knüpft an Macdonalds bisherige Forschungsschwerpunkte an und fragt danach, warum Menschen heute scheinbar banale Alltagsgegenstände sammeln, ordnen und dabei mit spezifischen Bedeutungen versehen. Das Kapitel führt äußerst lesenswert in aktuelle Fragen und Debatten der Museumsforschung ein: Wem gehören musealisierte Objekte? Welche Rolle spielen Zeit und Raum im Prozess der Musealisierung?

Die beiden folgenden Abschnitte befassen sich überschrieben mit „Transcultural Heritage“ und „Cosmopolitan Memory“ mit Fragen der Einschreibung nationaler Eigenlogiken in Erinnerungskulturen sowie mit deren Transzendierung. Hier zeigt sich erneut, wie wichtig vergleichende Perspektiven auf Praktiken der Vergegenwärtigung von Vergangenheit sind: Nur in der komparativen Zusammenschau mikrosperspektivischer Fallbeispiele lässt sich die Frage beantworten, ob und wie beispielsweise in erinnerungskulturellen Ritualen nationalstaatliche Bezugsgrößen durch die Konstruktion alternativer Narrative hinterfragt und damit transformiert werden. Das abschließende Kapitel formuliert noch einmal nachdrücklich Macdonalds praxeologische Perspektive auf Gedächtnis und Erinnerung als Ressourcen, die aus der Gegenwart heraus Zukunft zu gestalten helfen.

Sharon Macdonald hat eine höchst lesenswerte Arbeit vorgelegt, die kreativ neue Forschungsfragen zum „memory complex“ formuliert – so etwa die Frage nach der Bedeutung nationalstaatlicher Bezugsrahmen im Kontext sich globalisierender, kollektiver Erinnerungstechniken, die etwa transkulturelle Bezüge betonen. Die Monografie ist sowohl theoretisch höchst anregend als auch in der Verarbeitung einer enormen Menge konkreter Fallstudien empirisch breit unterlegt. Sie ist als Plädoyer für kulturwissenschaftliche Forschung zu verstehen, führt in erinnerungskulturelle Fragen und Theorien ein und verknüpft gleichzeitig auf eine beeindruckende Weise verschiedene Forschungsfelder miteinander – unter anderem Museum, Kulturerbe, Denkmal, Tradition. Dass eine Auseinandersetzung mit Praktiken des „past presencing“ in Europa zwangsläufig immer ausschnitthaft bleiben muss, braucht wohl nicht eigens erwähnt zu werden. Sharon Macdonald ist es jedoch gelungen, durch einen eindrucksvoll und konsequent verfolgten komparativen Ansatz eine Vielzahl dieser Ausschnitte produktiv zusammenzuknüpfen.

Anmerkung:
1 Macdonald, Sharon, Difficult Heritage. Negotiating the Nazi Past in Nuremberg and Beyond, London 2009.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/