S. Flachowsky u.a. (Hrsg.): Vom Amzonas an die Ostfront

Cover
Titel
Vom Amazonas an die Ostfront. Der Expeditionsreisende und Geograph Otto Schulz-Kampfhenkel (1910-1989)


Herausgeber
Flachowsky, Sören; Stoecker, Holger
Erschienen
Köln 2011: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
394 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Hachtmann, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Lange hat die historische Forschung übersehen, dass das NS-Regime auch eine ‚klassische’ Kolonialpolitik betrieben hat. Vor allem seit den Untersuchungen von Karsten Linne 1 sind die kolonialistischen Ambitionen, die zahlreiche Protagonisten der Diktatur gegenüber Afrika südlich der Sahara hegten, auch einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden. Flachowsky und Stoecker haben mit dem von ihnen herausgegebenen, schön bebilderten und durch ein Personenregister erschlossenen Aufsatzband nun einen Protagonisten in das Licht der wissenschaftlichen Öffentlichkeit gerückt, der wie kaum ein anderer die imperial-kolonialistischen Träume im Dritten Reich verkörperte. Wer war Otto Schulz-Kampfhenkel? 1910 geboren wuchs Schulz-Kampfhenkel, so Stoecker in einem ausführlichen biographischen Abriss, wie viele andere seiner akademisch gebildeten Zeitgenossen in einer „völkischen, antiliberalen und antipluralistischen Gedankenwelt“ (S. 12) auf. Wie selbstverständlich trat Schulz-Kampfhenkel, als er in Freiburg im Breisgau Zoologie sowie als Nebenfach Geologie/Paläontologie und Philosophie studierte, in eine der rechtskonservativ-völkischen Burschenschaften ein.

Angesichts dieses Hintergrundes überrascht kaum, dass er zu der übergroßen Mehrheit der deutschen Funktionseliten gehörte, die sich bereitwillig den Nationalsozialisten als ‚Experten’ anboten, selbstredend auch, um eigene Ambitionen zu verwirklichen, die wiederum vorzüglich mit den imperialistischen, aber auch kulturpolitischen Konzepten des NS-Regimes zusammenpassten. Bereits März und April 1930 hatte Schulz-Kampfhenkel eine erste zoologische Sammlungsreise in die tunesische Westsahara unternommen, die damals weit schlechter zugänglich war als heute. Ihr folgten wenig später eine weitere Expedition nach Afrika, diesmal in den „Negerstaat“ Liberia, sowie von 1935 bis 1937 schließlich die von Schulz-Kampfhenkel geleitete Expedition in das brasilianische Amazonas-Gebiet – beide Forschungsreisen bereits mit „Filmkamera und Jagdwaffe als gleichwertigen Instrumenten zur Eroberung des Urwaldes“ (S. 15). Für die Amazonas-Reise kam ein leichtes Wasserflugzeug hinzu, das vom Göring-Ministerium finanziert war und damit versinnbildlichte, dass (nicht nur) während der NS-Zeit „Wissenschaft“ bzw. mindestens zentrale Einzeldisziplinen „als quasi-militärische Eroberung“ (S. 41) konzipiert wurden. Der Plan einer Sibirien-Expedition musste 1941 schließlich fallen gelassen werden.

Welcher ideologische Grundton vor allem die Expedition nach Südamerika beherrschte, lassen Augusto Oyuela-Caycede, Manuela Fischer und Renz Duin bereits im Untertitel ihres Beitrages anklingen: „Von ‚Waldmenschen’ und ‚Herrenmenschen’“. Die Forschungsreise in das Amazonasgebiet brachte Schulz-Kampfhenkel den Durchbruch, nicht in den Wissenschaften – dort blieb er immer Außenseiter –, aber in den Medien. Mit seinen vom UFA-Verleih präsentierten und intensiv beworbenen Filmen über außereuropäische Natur-Exotik und vermeintlich erste Begegnungen mit indigenen Gruppen gelangen Schulz-Kampfhenkel mediale Inszenierungen, die zwischen der „romantisierenden Darstellung eines untergehenden Paradieses am Ende der Welt“ (S. 43) und kriegerisch-männlicher Abenteuerlust oszillierten. Aber auch seine in den Expeditionsgebieten ‚erworbenen’ „kolonialen Sammlungen“ fanden große Aufmerksamkeit, teilpräsentiert in Ausstellungen, bevor sie an die Berliner Museen für Völker- bzw. Naturkunde abgegeben wurden.

Im Frühjahr 1942 avancierte Schulz-Kampfhenkel zum Leiter einer „Gruppe Forschung“, die dem im vom faschistischen Italien unterworfenen Südlibyen deutschen „Sonderkommando Dora“ zugeordnet war. Es handelte sich dabei um einen von der Auslandsabteilung aufgestellten Spezialverband des OKW, der in Libyen streng geheime Erkundungsaufgaben durchführte. Die von Schulz-Kampfhenkel geleitete Forschungsgruppe sollte Militärkarten erstellen und dabei eine „interdisziplinäre Kartierungsmethode zur großräumlichen Evaluation ungenügend kartographierter Regionen“ praktisch erproben. Im Mai 1943 wurde Schulz-Kampfhenkel zum Leiter der „Forschungsstaffel z.b.V.“ gemacht, eine „geistig-militärische Spezialeinheit“, die „Einsatzgruppen“ in ganz Europa aufstellte, u.a. um „militärische Geländebeurteilungskarten“ für Luft- und Bodenangriffe zu erstellen. Karsten Plewnia untersucht die Praxis dieser „Forschungsstaffel“ exemplarisch für deren „Feldforschung“ im Karstgebiet Jugoslawiens 1944/45. Auf den Zenit seiner wissenschaftlichen Karriere gelangte Schulz-Kampfhenkel, als er zum Beauftragten für Sonderfragen der erdkundlichen Forschung im 1937 gegründeten und 1942 reorganisierten Reichsforschungsrat (RFR) wurde, der – in großen Teilbereichen tatsächlich auch ziemlich effizient – die reichsdeutsche Forschung koordinieren und stimulieren sollte.2 Für Flachowsky steht dessen Engagement exemplarisch für „den hohen Grad der Selbstmobilisierung der Geographen während des Zweiten Weltkriegs“. Nach 1945 gab sich Schulz-Kampfhenkel, während der NS-Zeit ein Tausendsassa, der wohl auch wegen seines martialischen und eigentümlich doppelbödigen Namens („Kampfhenkel“) so große Resonanz gefunden hatte, dann ostentativ unpolitisch. Das war ein Rollentausch, den auch zahllose weitere Mitglieder der NS-Funktionseliten vornahmen und der Schulz-Kampfhenkel ganz ähnlich wie so vielen auch erfolgreich gelang. Flachowsky, Stoecker und Ohl zeigen, dass es Schulz-Kampfhenkel zwar nicht mehr gelang, in der bundesdeutschen Hochschulwissenschaft Fuß zu fassen; aber er konnte sich seit den 1950er-Jahren als erfolgreicher Unterrichtsfilmer profilieren.

Der Band vertieft die bisherigen Untersuchungen zu den Kolonialplanungen ‚klassischen Typs’ und erweitert sie zugleich, indem er – über den biographischen Zugriff – den Fokus auch auf Südamerika sowie Teile des („fern“-)asiatischen Kontinents richtet. Das anregende Werk provoziert zu einer These: Die NS-Diktatur war fundamental bellizistisch grundiert. Ein Nationalsozialismus ohne Krieg ist undenkbar. ‚Koloniale’ Priorität besaßen ohne Zweifel die Ostraumplanungen, die bekanntlich nicht nur von der SS massiv vorangetrieben und teilrealisiert wurden. Letztendliches Ziel des Hitler-Regimes war jedoch die Weltherrschaft. In einem nächsten Schritt war, wie namentlich Linne überzeugend gezeigt hat, die Unterwerfung des afrikanischen Kontinents (sowie des „Nahen“ Osten) geplant. Nach dem Zusammenbruch Frankreichs und der vorübergehenden Defensive, in die Großbritannien 1940/41 geriet, schien eine Verwirklichung dieses Plans ‚zum Greifen’ nahe. Mittelfristig (und die durch das Bündnis mit Japan sowie die bis Ende 1941 andauernde Neutralität) war zu diesem Zeitpunkt nicht generell, aber doch in verschiedenen NS-Institutionen vermutlich an eine Art imperiale Dreiteilung der Welt gedacht – die wiederum eigentümlich mit den von George Orwell in „1984“ zu Papier gebrachten Fiktionen korrespondiert. Langfristig freilich hätte sich der nationalsozialistische Bellizismus wohl auch damit nicht begnügt und die alleinige Weltherrschaft angestrebt. Die Beschwörung einer gemeinsamen „Front der weißen Rasse“ gegen Japan, wenn man sich erst einmal Afrikas, Südamerikas und des asiatische Festlandes bemächtigt habe, durch Schulz-Kampfhenkel lässt dies erahnen. Gewiss lagen seinen Expeditionen nach Afrika sowie Südamerika und den Plänen für eine Forschungsreise nach Sibirien keine koordinierten Konzepte der zuständigen NS-Herrschaftsträger zugrunde, auch wenn sich andere Nationalsozialisten vor allem für Sibirien und Südamerika als Einwanderungs- und Siedlungsländer „für ein nordisches Herrenvolk“ erwärmen konnten und zum Beispiel das einflussreiche Reichsamt für Wirtschaftsausbau auf den Ausbau der europäischen „Rohstoffbasis“ durch koloniale „Ergänzungsräume“ hoffte oder die Kolonialverbände nach Beginn des Zweiten Weltkrieges enormen Zulauf erhielten. Wenn die BILD-Zeitung Ende Oktober 2008 titelte, „Hitler wollte den Regenwald erobern“ und erklärte, es hätte 1940 nach dem Zusammenbruch des französischen Kolonialreiches ernsthafte „Pläne für eine Invasion“ in „Französisch-Guayana“ gegeben, die durch die Expeditionen Schulz-Kampfhenkels vorbereitet worden seien, dann ging einem der im Konstruieren von Legenden ohnehin begabten Journalisten dieses Blattes die Phantasie durch. Angesichts so mancher irrwitziger Pläne der Nationalsozialisten sind solcherart Phantastereien freilich nicht gänzlich abwegig. Der Gold- und Diamantenreichtum in Französisch- und Britisch-Guayana würde das chronisch devisenschwache Dritte Reich mit einem Schlag von allen finanziellen Problemen erlösen: Auch mit diesem Argument hatte Schulz-Kampfhenkel für seine Südamerika-Expedition geworben. Der Hype, der um ihn – und ähnlich um Sven Hedin 3 – und seine Expeditionsreisen ab 1939 gemacht wurde, beflügelte jedenfalls kolonialistische Phantasien der Zeitgenossen und war Nahrung auch für ausgreifende bellizistische Träumereien.

Anmerkungen:
1 Vgl. vor allem Karsten Linne, „Weiße Arbeitsführer“ im „kolonialpolitischen Ergänzungsraum“. Afrika als Ziel wirtschafts- und sozialpolitischer Kolonialplanungen in der NS-Zeit, Bremen 2002; ders., Deutschland jenseits des Äquators? Die NS-Kolonialplanungen für Afrika, Berlin 2008.
2 Zum RFR selbst vgl. die bahnbrechende Studie von Sören Flachowsky, Von der Notgemeinschaft zum Reichsforschungsrat. Wissenschaftspolitik im Kontext von Autarkie, Aufrüstung und Krieg, Stuttgart 2008, zu Schulz-Kampfhenkel: S. 336-346.
3 Vgl. z.B. Astrid Mehmel, Sven Hedin und die nationalsozialistische Expansionspolitik, in: Irene Diekmann u.a. (Hrsg.), Geopolitik. Grenzgänge im Zeitgeist, Bd. 1.1, Potsdam 2000, S. 189-238.

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