J. Dym u.a. (Hrsg.): Mapping Latin America

Titel
Mapping Latin America. A Cartographic Reader


Herausgeber
Dym, Jordana; Offen, Karl
Erschienen
Anzahl Seiten
338 S.
Preis
$ 39.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Dorsch, Historisches Seminar, DFG-Projektstelle: Kulturelle ZeitRäume einer atlantischen Metropole: São Paulo 1867-1930, Universität Erfurt

Dieser Reader reiht sich in überzeugender Weise in eine in den letzten Jahren erschienene Serie von Titeln ein, die sich mit dem Mapping bestimmter Gebiete auseinandersetzt. Darunter wird in der Tradition der Critical cartography eine Praxis verstanden, die mittels Karten versucht, Räume bildlich zu kreieren und zu (re-)präsentieren. Raum wiederum gilt hier nicht als „neutral abstraction or a homogeneous and disinterested stage upon which human dramas are set“ (S. 7), sondern als soziokulturell gemacht. Harley und Woodward betonten entsprechend den subjektiven Charakter von Karten, die Machtverhältnisse widerspiegeln: „In short, maps exercise, and are instruments of, power.“ (S. 8) Nicht zufällig – so die Herausgeber – setzte das neue Raum- und Kartenverständnis in einer Zeit ein, in der (neo-)koloniale Ordnungen in Frage gestellt wurden. Dieses Werk hat auch die Untersuchung des kartographischen Machens der Idee von Lateinamerika zum Ziel.

Die Einleitung bietet einen konzisen theoretisch-methodischen Überblick. Sie liefert zugleich überzeugendes Anschauungsmaterial, wie die Praxis des Kartenlesens, das Entziffern des Mappings, aussehen kann und welches Potential darin steckt: „learning to read a map is about interrogating what is being shown and what is not, and above all asking who made the map, why, and for whom.“ (S. 3) Dafür werden Konventionen der Kartographie erörtert, die sich seit dem 15. Jahrhundert in Europa ausgebildet hatten, wie Kartusche, Topographie, Nordung, Projektionen, Farbzuweisungen und empirische Feldarbeit. Amerikanische Traditionen blieben allerdings – so die Herausgeber – ebenfalls wirkmächtig. Ausführliche Literaturverzeichnisse zu jedem Kapitel sowie eine Internetpräsenz runden das Werk ab.

Auf rund 300 Seiten analysieren 53 Autor/innen aus unterschiedlichen Disziplinen in 57 Kapiteln insgesamt 98 Karten. Diese wurden von Dym und Offen ausgewählt „for their ability to illuminate spatial processes of specific significance for the history of Latin America.“ (S. xvi) Kritik an der Auswahl bei solch umfassenden Unternehmungen ist natürlich wohlfeil1, aber eine stärkere Berücksichtigung von indigener, insbesondere prä-europäischer Kartenproduktion (nur – oder immerhin – eine) wäre angesichts des machtkritischen Ansatzes konsequenter gewesen.2

Die Auseinandersetzung mit dieser einen Karte ist dann freilich ein vorzüglicher Einstieg: Aus einer Abbildung auf einer Wand im guatemaltekischen Maya-Palast La Sufricaya (spätes 4. Jahrhundert) entwickeln Estrada-Belli und Hurst einen Einblick in die weitgehend unzugängliche Welt der frühen Beziehungen der Maya mit Teotihuacán (nördlich des heutigen Mexiko-Stadt). Ein spezifisches RaumZeit-Denken in den endogenen Karten wird anschaulich herausgearbeitet, nämlich die Kombination von „people and events with representations of places to map history as well as space“ (S. 26) – eine Tradition, die auch die Ankunft der europäischen Kartographie überlebt und diese in Amerika bereichert, etwa in den Relaciones geográficas.3 Ein weiteres viel diskutiertes Werk indigener Kartographie veränderte im 16. Jahrhundert – ähnlich wie die berühmte Waldseemüller-Karte4 – die europäische Weltsicht: Die Karte der Mexica-(Azteken-)Hauptstadt Tenochtitlán, den Briefen von Hernán Cortés an die spanische Krone 1524 beigelegt, präsentierte Europa eine der weltweit größten Städte und das Versprechen einer Hochkultur außerhalb der bisher bekannten Welt. Für Mundy beweist die Karte, die durch Mexica-Informationen geprägt ist, dass nicht-europäische Bewohner/innen eine aktive, aber häufig vernachlässigte Rolle bei der Gestaltung Lateinamerikas übernahmen.

Zwei weitere Karten aus dem kolonialen Neu-Spanien/Mexiko stammen von indigenen Schreibern (tlacuilos), eine zur Stadt Cholula, eine andere wurde von einer adligen Familie aus Texcoco in einem Landstreit gegen den Bischof Zumárraga eingesetzt. Beide verbinden – so Mundy – hybride Inhalte und Formen. Auch die letzte indigene Karte, die berühmte Mapa Mundi de Reino de las In[di]as (1615) von Felipe Guaman Poma de Ayala/Peru, zeigt die Aneignung europäischer Diskursmittel zur (Re-)Präsentation eigener Interessen: Sie entwickelt eine der christlichen Endzeitvorstellung ähnliche Geschichtskonzeption, in der Spanier nur eine beiläufige Rolle spielen: Im 10. Zeitalter erscheint demnach ein „Andean Christian Prince“ (S. 77).

Die spanische Krone versuchte aus der Ferne mit Karten Ordnungsvorstellungen durchzusetzen: So mussten Stadtgründer Karten anlegen, um ihre Ordnungsvorstellungen zu präsentieren. Das Fehlen von Abgrenzungen und der Topographie der Umgebung verweist – so Kagan – auf die Intention des ordnenden Eingreifens der meist rechtwinklig angelegten Städte in die indigene Umwelt. Die Entfernung führte – so Safier eine Karte über den Amazonas analysierend – bei Europäern noch im 18. Jahrhundert zur Integration mythischer Vorstellungen in vermehrt empirisch begründeten Karten. Auch Kreolisierungs- und Unabhängigkeitstendenzen finden sich in dieser raumzeitlichen Konstellation: So informiert laut Carrera eine Karte den Betrachter deutlich „from the perspective of a criollo, someone who lives in New Spain, not someone trying to systematize a physical space into abstract categories“ (S. 112).

Karten aus dem frühen 19. Jahrhundert stammten vor allem aus Europa. Einige Beispiele mit der Präsentation von Ressourcen und der Erschließbarkeit bestimmter Regionen machen dann mit Burnett klar: „Cartography and imperialism have long been comfortable bedfellows“ (S. 132). Die endogene, später einsetzende Kartographie fokussierte sich dann häufig auf die Produktion eines eigenen Geschichtsbewusstseins. Dabei waren Vergleiche mit Europa wichtig, so in einer Karte, die die Oberflächen vieler europäischer Staaten darstellt, die innerhalb des (beanspruchten) Territoriums Argentiniens Platz haben. Die Exportorientierung einiger Staaten wird ebenso thematisiert wie die Möglichkeiten von Karten, insbesondere in stark wachsenden Metropolen (zukünftig geplante) Ordnung zu repräsentieren.

Das 20. Jahrhundert schließlich führte – so die Herausgeber/in in der Kapiteleinführung – zu einer Vervielfältigung von Kartenproduzenten und -konsumenten. Die Ausbildung von eingebildeten Gesellschaften ist ihres Erachtens ein Schwerpunkt: Die Nation wird präsentiert, sei es durch die Betonung indigener Namen (Städte, Regionen …), von ‚natürlichen‘ Besonderheiten oder durch Lieux de mémoire (etwa in Metro-Netzkarten); mittels Grenzziehungen werden Gebiete für eine Gemeinschaft beansprucht, durch Nicht-Darstellung die Existenz von anderen Ansprüchen überschrieben. Die gesüdete Karte von Torres-Garcia stellte 1936 tradierte, die Überlegenheit des Nordens betonende Weltauffassungen in Frage. Hier hätte die explizite Auseinandersetzung mit der Lateinamerika-Idee mittels transnationaler Karten gut an die in Einzelkarten beschriebenen Spezifika anknüpfen können. Dies bleibt jedoch dem/r Leser/in überlassen. Eine in jahrelanger Kooperation mit Indigenen entstandene Participatory Map macht abschließend nochmals den subjektiven Charakter von Karten deutlich.

Viele Beiträge zeigen, wie wichtig die genaue Betrachtung manchmal auch nur kleiner Details der Karten ist: Welche Räume (wie Wege, Telefonleitungen, Touristenattraktionen) werden (farblich) hervorgehoben, welche weggelassen (Hindernisse, Entfernungen), welche werden wie kartiert (etwa ein Fluss als friedlicher Kanal oder als reißender Strom). So ist der Band nicht nur eine gelungene Kartensammlung, die wichtige Tendenzen der Lateinamerika-Geschichte/-Geschichtsschreibung zeigt, sondern auch eine gelungene Einführung, die Neugierde für das kartographische Arbeiten weckt. Sie führt den Leser zu einer kritischeren Lesart von Karten, die nicht mehr nur als „simply factual and unproblematic“ (S. 6, Abb. 0.3) hingenommen werden können. Der Band sollte in keiner Bibliothek zu Kartographie bzw. (Latein-)Amerika fehlen.

Anmerkungen:
1 So ist die regionale Aufteilung bemerkenswert, bspw. erhält Mexiko/Neu-Spanien 17 Karten, das (heute) größte Land Brasilien fünf und damit drei weniger als Guatemala.
2 Vgl. Barbara E. Mundy, The mapping of New Spain. Indigenous cartography and the maps of the relaciones geográficas, Chicago 1996.
3 Vgl. zu indigenen RaumZeitlichkeiten auch: Ingrid Kummels, Von Zuania bis Abya Yala. Indigene Amerika-Bilder und -Projekte, in: Ursula Lehmkuhl / Stefan Rinke (Hrsg.), Amerika – Amerikas. Zur Geschichte eines Namens. Von 1507 bis zur Gegenwart, Stuttgart 2008, S. 227-247.
4 Vgl. Rezension von Sebastian Dorsch zu: Stefan Rinke, Revolutionen in Lateinamerika. Wege in die Unabhängigkeit 1760-1830, München 2010, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 59 (2011) 11, S. 968f.

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