Auf der Suche nach dem freien Sprechen

Kübra Gümüşay untersucht in „Sprache und Sein“ die Wirkung von Vorurteilen auf die alltägliche Weltwahrnehmung und die öffentliche Diskurskultur

Von Maximilian LippertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Lippert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bücher zu bestimmten Wort- und Ausdrucksformen sowie zur Art und Weise, wie diese im politischen Diskurs bewusst eingesetzt werden und wie sie nach demokratischen Idealen eigentlich aussehen sollten, erleben derzeit eine Konjunktur, die sicherlich durch die aktuelle Debattenkultur in Parlamenten, Talkshows und nicht zuletzt den sozialen Medien bedingt ist. So sind in den letzten Jahren etwa Elisabeth Wehlings Politisches Framing, Robert Habecks Wer wir sein könnten oder auch Heinrich Deterings Was heißt hier „wir“? zu derartigen Themen und Fragen erschienen. In diese Auswahl reiht sich nun auch die türkeistämmige Journalistin und Aktivistin Kübra Gümüşay mit ihrem Langessay Sprache und Sein ein, dessen Titel eher an Wittgenstein oder Heidegger erinnert. In ihrem Buchdebüt fragt die Autorin, „wie Sprache unser Denken prägt und unsere Politik bestimmt“, und begibt sich auf die Suche nach einem Sprechen, das die Menschen nicht weiterhin „auf Kategorien reduziert“, sondern sie individuell und „in ihrem Facettenreichtum existieren lässt“.

Um einführend aufzuzeigen, wie Sprache unsere Selbst- und Weltwahrnehmung lenkt, wählt Gümüşay einen sprachkontrastiven Zugang, im Zuge dessen sie die Ausdrucksmöglichkeiten verschiedener Sprachen miteinander vergleicht und die Schwierigkeiten schildert, gewisse Worte mit all ihren Konnotationen von einer Sprache in eine andere zu übersetzen. Dabei betrachtet die bilingual aufgewachsene Autorin nicht nur Sprachen, in welchen beispielsweise der Sprechende nicht das deiktische Zentrum darstellt, in denen keine Vergangenheitsformen von Verben oder keine geschlechtsspezifischen Personalpronomina existieren, sondern illustriert ihre Ausführungen auch mit allerlei persönlichen Anekdoten und Einsichten: „Türkisch ist für mich die Sprache der Liebe und Melancholie. Arabisch eine mystische, spirituelle Melodie. Deutsch die Sprache des Intellekts und der Sehnsucht. Englisch die Sprache der Freiheit.“

Doch Sprache ist nicht zuletzt auch politisch. Da sie nur das erfassen könne, was die jeweils Mächtigen einer Sprachgemeinschaft, welche Sprache zu formen und Geschichten zu erzählen vermögen, selbst erleben, seien gesellschaftlich weniger mächtige und besonders verschiedene marginalisierte Gruppen aufgrund der mangelnden Repräsentanz ihrer Existenzen und Belange in der Sprache benachteiligt. Ihre spezifische Perspektive sei aus der Sprache und somit schließlich aus dem öffentlichen Diskurs exkludiert. Jene Personengruppen, welche die gesellschaftliche Norm repräsentieren, nennt Gümüşay fortan die „Unbenannten“, während alle anderen zu „Benannten“ werden, die von ersteren, die gleichzeitig auch als „Benennende“ fungieren, in allerlei Kategorien und Schubladen gesteckt werden. Ganz auf ihre Kategorie reduziert und jeglicher Individualität beraubt, werden die „Benannten“ schließlich zu Objekten degradiert, laut Gümüşay geradezu „entmenschlicht“. Anstatt als Individuen mit all ihrer Individualität, Komplexität und Ambiguität wahrgenommen zu werden, erhalten Menschen bestimmter gesellschaftlicher, sozialer oder religiöser Gruppen im Alltag wie im politischen Diskurs Kollektivnamen und werden so von anderen (und manchmal auch sich selbst) als Träger entsprechender Stereotypen aufgefasst: „Die jüdische Frau. Der Schwarze Mann. Die Frau mit Behinderung. Der Mann mit Migrationshintergrund. Die muslimische Frau. Der Geflüchtete. Die Homosexuelle. Die Transfrau. Der Gastarbeiter.“ Sprache schaffe demnach Grenzen in der Wahrnehmung und schränke gleichzeitig die Handlungsfreiheit bestimmter Menschen ein. Für Gümüşays eigenes Alltagshandeln bedeutet das konkret: „Wenn ich, eine sichtbare Muslimin, bei Rot über die Straße gehe, gehen mit mir 1,9 Milliarden Muslim*innen bei Rot über die Straße. Eine ganze Weltreligion missachtet gemeinsam mit mir die Verkehrsregeln.“

Gümüşay schildert nun in mehreren Kapiteln die Wechselbeziehung zwischen Sprache und – wie sie es nennt – „politischer Unmenschlichkeit“ anhand von allerlei Beispielen, persönlichen Erfahrungen sowie wissenschaftlichen Studien. Dabei sei Sprache stets der Ausgangspunkt oder sprachliches Handeln der eigentliche Akt der alltäglichen Diskriminierung. Die Ausführungen reichen von der Benennung akuter struktureller Benachteiligung, über teilweise überempfindliche Reaktionen beispielsweise auf Fragen nach den ethnischen Wurzeln, bis hin zu Forderungen nach der aktuell kontrovers diskutierten political correctness im Sprachgebrauch. Dass zwischen erfahrener Alltagsdiskriminierung auf der einen und nicht polemisch gemeinten sprachlichen Konventionen oder Simplifizierungen auf der anderen Seite oft nur ein schmaler Grad liegt, des Einen Wahrnehmung und des Anderen Intention auch auseinanderfallen können, steht außer Frage. Aber wenn die Autorin eine „Oma“, die „den Enkel in der Wanne schrubbt, damit er bisschen heller wird“, als ein Paradebeispiel für sich in Sprache manifestierendem „Alltagsrassismus“ nennt, beschuldigt sie nicht nur eine Person, die in ihrer Sozialisation wahrscheinlich nicht die Problematik jener sprachlichen Wendung kennenlernen konnte, sondern blendet auch völlig aus, dass diese Person vermutlich nicht wie Gümüşay in London studiert oder regelmäßig Zugang zu wissenschaftlichen Paneldiskussionen hat. Und so fragt die Autorin in ihrem Essay zwar im Hinblick auf die nicht nur sprachlichen Diskriminierungen verschiedener Personengruppen: „Was haben diese Missstände gemeinsam?“ und möchte nach den „strukturellen Ursachen hinter den Symptomen“ suchen, blendet aber grundsätzlich den Zusammenhang zwischen ökonomischen Verhältnissen und gruppenbezogener Diskriminierung vollständig aus. In jenen „Rechten“, welche mit ihren sprachlichen Setzungen vermeintlich den gesellschaftlichen Diskurs bestimmen, sieht sie deshalb auch nicht mehr als „Hassende[]“ oder „Skrupellose[]“ ohne bestimmte sozioökonomische Dispositionen oder Interessen. Wenn Gümüşay von „soziale[r] Ungleichheit“ spricht, bezieht sie sich vorrangig auf die Gruppen verschiedener Minderheiten. Ihr Progressivismus steht somit ganz im Zeichen jener Identitätspolitik, der die Tendenz innewohnt, Gesellschaften oder Gesellschaftsschichten mehr zu spalten als zu einen.

Gümüşay möchte schließlich nichts weniger als einen „tatsächlichen Kulturwandel“. So fordert sie etwa, dass Kinder und Jugendliche in der Schule neben Autoren wie Goethe und Schiller auch solche aus anderen Kulturkreisen wie beispielsweise den türkischen Dichter Necip Fazıl Kısakürek lesen. Dass dieser als islamisch-totalitärer Denker ethnische Säuberungen propagierte und Ideengeber für die heute noch anhaltende Diskriminierung von Minderheiten in der Türkei ist, scheint sie jedoch nicht zu stören. Um auch die deutsche Sprache dahingehend umzugestalten, dass sie künftig geschlechtergerechter wird und auch wirklich alle repräsentiert, entscheidet sich die Autorin in Sprache und Sein gegen das generische Maskulinum und verwendet stattdessen das Gendersternchen. Doch was ist der Subtext, wenn sie dieses manchmal vergisst oder gar bewusst weglässt, wenn einerseits die Rede von einer privilegierten „Akademikerfamilie“ ist, andererseits jedoch von einer walisischen „eigentlich linken Arbeiter*innenstadt“, in welcher wiederum 60 Prozent der „Wähler“ für den Brexit gestimmt haben, welcher für Gümüşay selbstredend ein genuin politisch rechtes Anliegen zu sein scheint?

Neben derlei Ungereimtheiten wird auch die Frage nach „neue[n] Formen des Sprechens und Denkens“, in denen wir frei und gleichberechtigt miteinander kommunizieren können, welche im Verlaufe des Essays immer wieder aufgeworfen wird, anhand verschiedener Beispiele nur allzu abstrakt beantwortet. Konkrete Ideen, wie misslingende Kommunikation in Debatten um gesellschaftliche Themen anders gestaltet werden könnte, nennt die Autorin nicht. Auch das zentrale Problem, Menschen durch Sprache vorurteilshaft zu begegnen und behandeln, kann sie nicht auflösen, ist kategoriales Denken doch eine substanzielle kognitive Fähigkeit der Menschen zur Weltwahrnehmung und -bewältigung. Gümüşays Essay ist schließlich weniger eine theoretisch fundierte Kritik sprachlicher Ausdrucksformen als vielmehr eine Beschäftigung mit problematischen Narrativen. Dabei schlagen die anekdotenhaften Schilderungen leider allzu oft in Strukturlosigkeit um, wozu auch die aphoristisch anmutenden und teilweise dekontextualisierten Zitate beitragen.

Gümüşays Verdienst in Sprache und Sein ist das Postulat eines Ideals demokratischen Sprechens: freiheitlich, pluralistisch und frei von Diskriminierung. Sie versteht es, die Selbstreflexion des Lesers anzuregen und Fragen hinsichtlich gesellschaftlicher Missstände aufzuwerfen, bleibt die Antworten jedoch schuldig. Indem sie schließlich dafür plädiert, den Absolutheitsanspruch der eigenen Perspektive zu hinterfragen und abzubauen, außerdem gemeinsame Sinnstiftungsprozesse und mehr Empathie fordert, spricht sie das moralische Empfinden des Einzelnen an und spart die Perspektive auf gesellschaftlich bedingte Ursachen für die destruktive Diskurskultur sowie auf derselben Ebene zu erzielende Lösungen aus. Einer der Gewährsmänner der Autorin, Kurt Tucholsky, schrieb einmal: „Sprache ist eine Waffe. Haltet sie scharf.“ Gümüşays Ausführungen hätte etwas mehr analytische Schärfe gut getan.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Kübra Gümüşay: Sprache und Sein.
Hanser Berlin, Berlin 2020.
208 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783446265950

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