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Wissenschaft und Ideologie. Linguistische Analyse des deutsch-polnischen Diskurses zur Ethnogenese der Slawen aus kontrastiver Sicht

von Barbara Jachym (Autor:in)
©2022 Monographie 338 Seiten

Zusammenfassung

Das Buch strebt eine linguistische Analyse der deutsch-polnischen Polemik zur Ethnogenese der Slawen (1918-1938) an. Die Untersuchungen basieren auf den Forschungsergebnissen der linguistischen Diskursanalyse und als Analysenbasis wurde das Mehr-Ebenen-Modell (DIMEAN) von Spitzmüller/Warnke adaptiert. Das Hauptaugenmerk richtet sich auf die Untersuchung der Akteure und der intertextuellen Relationen. Eine große Rolle fällt dem historischen Kontext und den Medien zu, die nicht nur als Diskursplattform, sondern auch als Mitspieler im Diskurs zu verstehen sind. Die Studie bezweckt, den in einer konkreten Situation wurzelnden Diskurs, in dem Wissenschaft, Politik und Öffentlichkeit zusammenfließen und seine Akteure in ihrer Wechselrelation mit dem Diskurs wie auch ihre Sprachverwendung zu untersuchen.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Vorwort
  • Einleitung
  • I. Theoretische Fragestellungen
  • 1. Zur Unordnung des Diskurses
  • 1.1 Diskursbegriff
  • 1.1.1 Habermas und sein Diskursverständnis
  • 1.1.2 Foucault und sein Diskursverständnis
  • 1.2 Diskursverständnis in der germanistischen Linguistik
  • 1.3 Postfoucaultsche linguistische Diskurskonzepte im Bereich der germanistischen Linguistik – Auswahl
  • 1.3.1 Heidelberger-Mannheimer Forschergruppe
  • 1.3.1.1 Historische Semantik / Diskurssemantik
  • 1.3.1.2 Sprachgeschichte als Mentalitätsgeschichte
  • 1.3.2 Düsseldorfer Schule
  • 1.3.3 Kritische Diskursanalyse (KDA)
  • 1.3.4 Diskursverständnis von Gerd Fritz
  • 1.3.5 Der linguistische Diskursbegriff integriert in ein kommunikatives Handlungsmodell
  • 1.4 Exkurs: Diskurs in der polonistischen Forschung
  • 1.5 Der linguistische Diskursbegriff in der vorliegenden Analyse
  • 2. Intertextualität als diskurskonstituierende Größe
  • 2.1 Ausgewählte Intertextualitätskonzepte
  • 2.2 Diskursivität 
  • 3. Sprache und Wissen im Text und Diskurs
  • 3.1 Text als Zugriffseinheit zum Diskurs
  • 3.2 Wissenschaftsbetrieb und Sprache
  • 3.3 Wissen in der Wissenschaft
  • 3.4 Auseinandersetzungen und wissenschaftliche Kontroversen
  • II. Material und Methode
  • 1. Analysemodell. Diskurslinguistische Mehr-Ebenen-Analyse
  • 2. Gegenstand des Diskurses
  • 3. Diskursakteure
  • 3.1 Józef Kostrzewski
  • 3.2 Bolko Freiherr von Richthofen
  • 3.3 Kostrzewski vs. Richthofen
  • 4. Diskursverlauf und Korpus-Beschreibung
  • 4.1 Diskursverlauf
  • 4.2 Korpusbeschreibung
  • 5. Exkurs: Die Sachlage und die Auseinandersetzung heute
  • III. Analytischer Teil
  • 1. Transtextuelle Ebene
  • 1.1 Historizität
  • 1.1.1 Der historische und politisch-gesellschaftliche Kontext des Diskurses
  • 1.1.1.1 Deutschland
  • 1.1.1.2 Polen
  • 1.2 Intertextualität/Diskursivität im Korpus und ihre Funktion
  • 1.2.1 Text-Textwelt-Relationen im Korpus
  • 1.2.2 Text-Text-Relationen im Korpus
  • 1.2.2.1 Makro-Taxonomie der Text-Text-Relation
  • 1.2.2.2 Text-Text-Relationen im Korpus
  • 1.2.2.3 Platzierung der markierten Relation
  • 1.2.2.4 Art der Bezugnahme
  • 1.2.2.5 Art und Weise der Markierung
  • 1.2.2.6 Intensität intertextueller Relation
  • 2. Akteurebene
  • 2.1 Medialität des Diskurses
  • 2.1.1 Presse als Plattform der Auseinandersetzung
  • 2.2 Printmedienspektrum im Diskurs vor dem Hintergrund der geschichtlichen Geschehnisse
  • 2.3 Akteure in Diskursen
  • 2.4 Akteure im Diskurs zur Ethnogenese der Slawen 
  • 2.4.1 Interaktionsrollen
  • 2.4.2 Soziale Position der Akteure
  • 3. Intratextuelle Ebene
  • 3.1 Wortorientierte Analyse
  • 3.1.1 Nominationen und Prädikationen
  • 3.1.2 Wichtige Nominationssektoren und dazugehörige Prädikationen
  • 3.2 Exkurs: Metaphernlexeme
  • 3.3 Exkurs: Typografie
  • 4. Zusammenfassung und Ausblick
  • Quellenverzeichnis
  • Tabellenverzeichnis
  • Abbildungsverzeichnis
  • Literaturverzeichnis
  • Anhang
  • Reihenübersicht

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Vorwort

Dafür, dass dieses Buch zustande gekommen ist, habe ich vielfältigen Dank abzustatten. Mein besonderer Dank gilt Frau Prof. Dr. Zofia Bilut-Homplewicz für die wissenschaftliche Betreuung, anregende Gespräche und zahlreiche wertvolle Hinweise und Bemerkungen. Herzlichen Dank gebührt ebenfalls Herrn Prof. Dr. Thomas Saile (Lehrstuhl für Vor- und Frühgeschichte der Universität Regensburg), von dem ich wegweisende Anmerkungen zum Kapitel über die Entwicklung des Faches Archäologie wie auch zum Forschungsstand im Bereich der Slawenfrage (Teil II, Kap. 2, 3, 4, 5 und Teil III, Kap. 1.1) erhalten habe. Sehr anregend waren ebenfalls die Begegnungen mit Herrn Prof. Dr. Heinz Helmut Lüger und Frau Prof. Dr. Dorota Kaczmarek, denen dafür ebenfalls großer Dank gebührt. Herzlichen Dank möchte ich auch Frau Prof. Dr. Joanna Pędzisz für die Begutachtung dieses Buches aussprechen. Frau Prof. Dr. Zofia Berdychowska bin ich für ihre wertvollen Bemerkungen zum Manuskript zu Dank verpflichtet. Weiterhin bedanke ich mich bei meinen Kolleginnen und Kollegen Archäologen vom Institut für Archäologie an der Universität Rzeszów für inspirierende Gespräche und Hilfe bei der Zusammenstellung der Korpustexte wie auch für die Bereitstellung der archäologischen Fachliteratur. Namentlich erwähnen möchte ich an dieser Stelle Dr. Maciej Dębiec, Prof. Dr. Marcin Wołoszyn sowie Dr. Andrzej Prinke (Archäologiemuseum in Poznań), von dem ich viele schwer zugängliche Quellentexte erhalten habe. Bedanken möchte ich mich ebenfalls bei meinen Kolleginnen, den Germanistinnen Prof. Dr. Anna Hanus, Dr. Iwona Szwed und Dr. Bogusława Rolek, die mir ihre Materialien bereitgestellt haben. Meinen deutschen Freunden danke ich für das Korrekturlesen großer Teile dieser Monografie. Schließlich danke ich meiner Familie, insbesondere meinen Eltern und meinem Mann, die mich in dieser Zeit sehr unterstützt haben, was ich zu schätzen weiß.

Rzeszów, März 2022

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Einleitung

Der im Titel dieses Buches als Thema benannte, im Mittelpunkt der vorliegenden Analysen stehende Diskurs wird wegen seiner hohen Frequenz in wissenschaftlichen Texten mehrerer Disziplinen und von vielen Forschern als ein Modewort und inflationärer Terminus bezeichnet (vgl. z. B. Spitzmüller/Warnke 2011: 5). Die Verbreitung des Begriffs in vielen Wissenschaftsbereichen verursacht eine Bedeutungskonkurrenz, die durch die jeweilige Forschungsperspektive bedingt ist (Kap. 1, Teil I). Die vorliegende Studie baut auf dem im Anschluss an Foucault erarbeiteten Diskursbegriff wie auch auf deren Rezeption in der germanistischen Linguistik auf.

Das Buch besteht aus drei Teilen: I. Theoretische Fragestellungen (S. 15), II. Material und Methode (S. 73) und III. Analytischer Teil (S. 117). Teil I (Theoretische Fragestellungen) umreißt den Diskursbegriff sowie seine Bedeutungsgeschichte (Kap. 1.1) und schildert einige Diskurskonzepte im Bereich der germanistischen Sprachwissenschaft (Kap. 1.2 und 1.3). Den Ausgangspunkt bilden hier die sozialphilosophischen Diskurskonzepte von Michel Foucault und Jürgen Habermas (Kap. 1.1.2 und 1.1.1). Der Exkurs (Kap. 1.4) ist dem Diskursbegriff in der polonistischen Forschung gewidmet. Im Kapitel 1.5. wird der für die vorliegende Studie geltende Diskursbegriff ausgearbeitet. Dem schließt sich noch Kapitel 2 an, worin ausgewählte Intertextualitätskonzepte und Diskursivität erörtert werden, sowie Kapitel 3, das die Zugriffseinheit zum Diskurs – den Text und die wirklichkeitskonstituierende Macht von Sprache in den Blick nimmt, mittels derer das Wissen konstituiert, gesichert und auch infrage gestellt wird.

Im Teil II (Material und Methode) soll zuerst die verwendete Methodologie beleuchtet werden. Im Mittelpunkt des Kapitels 1 steht das als Analysegrundlage angenommene Mehr-Ebenen-Modell von Warnke und Spitzmüller (2011). Ferner wird auf den Diskursverlauf (Kap. 4.1) und den Korpus (Kap. 4.2) wie auch auf das zur Rede stehende Diskursthema (Kap. 2) und auf die handelnden Akteure (Kap. 3) eingegangen. Der Exkurs (Kap. 5) widmet sich dem gegenwärtigen Forschungsstand zum behandelten Thema (Ethnogenese der Slawen).

Im analytischen Teil (III) werden die gewählten methodologischen Analyseschritte im Bereich der einzelnen Analyseebenen beschrieben und auf der Grundlage der in den Teilen I und II skizzierten theoretischen Grundannahmen und Voraussetzungen am Beispiel des Diskurses zur Ethnogenese der Slawen praktisch umgesetzt. Dem schließt sich das Quellen- und Literaturverzeichnis an. Der Anhang enthält eine Auswahl von Quellentexten.

Ziel des Vorhabens ist eine kontrastive Analyse des Diskurses zur Ethnogenese der Slawen, der in den 1920er-Jahren seinen Höhepunkt erreicht hat. Mittels der Verfahren einer linguistischen Mehr-Ebenen-Analyse soll dieser Ausschnitt der Wirklichkeit näher beleuchtet werden. Das Korpus bilden 42 Texte hauptsächlich zweier Autoren – Józef Kostrzewski und Bolko Freiherr von Richthofen, die in der ←11 | 12→Zeitspanne 1918–1937 erschienen sind. Diese Auseinandersetzung kann als Diskurs bezeichnet werden, da sie die Merkmale eines solchen besitzt. Die Untersuchungen basieren auf den Forschungsergebnissen der linguistischen Diskursanalyse; als Analysebasis wurde das Mehr-Ebenen-Modell (DIMEAN) von Spitzmüller/Warnke (2011) adaptiert. Das erwähnte Modell ermöglicht, verschiedene Analyseebenen zu integrieren und diejenigen Kategorien zu wählen, die für das gegebene Textkorpus relevant sind. Aus forschungspraktischen Gründen erwies es sich als unmöglich, sämtliche Diskursaspekte in die Analysen einzubeziehen. Deshalb galt es, eine bestimmte Forschungsperspektive einzunehmen und sich lediglich auf ausgewählte Aspekte zu konzentrieren, um demzufolge bestimmte methodische Analyseschritte einsetzen zu können. In Bezug auf die genannten Voraussetzungen wurde das Hauptaugenmerk auf die Untersuchung der Akteure (Teil III, Kap. 2.3) und der intertextuellen Relationen (Teil III, Kap. 1.2) gerichtet, wobei hier ebenfalls dem historischen Kontext (Teil III, Kap. 1.1) eine bedeutende Rolle beigemessen wurde.

Die vorliegende Studie bezweckt, den in einer konkreten historischen und gesellschaftlichen Situation wurzelnden Diskurs, in dem mehrere Bereiche (wissenschaftlicher, politischer, öffentlicher Bereich) zusammenfließen, sowie seine Akteure in ihrer Wechselrelation mit dem Diskurs zu untersuchen und zugleich Unterschiede, bzw. Gemeinsamkeiten in der Sprachverwendung (Teil III, Kap. 3) zu registrieren.

Die analysierte Polemik ist ein Textgeflecht, ein in der Zeit gesponnener Dialog von Texten zu einem Thema und dabei nur ein Diskursstrang (vgl. Jäger 1993) aus einer breiten Auseinandersetzung über die Vergangenheit europäischer Völker und, was dabei oft hervorgehoben wurde, ihrer Rechte auf bestimmte Territorien. Eine entscheidende Rolle fällt hier den Medien zu, die in diesem Fall für die Öffentlichkeit der Debatte gesorgt haben. Die Medien, hier ausschließlich Printmedien, sollen nicht nur als Diskursplattform verstanden werden, sondern auch als Mitspieler im Diskurs, da ihnen durch ihr politisches Engagement (vgl. Teil III, Kap. 2.1) eine die Wirklichkeit interpretierende Rolle zukommt.

Das Ziel einer linguistischen Diskursanalyse ist „die Beschreibung sprachlicher Manifestationen bestimmter Wissens- und Denkstrukturen einer Gesellschaft“ (Spieß 2011b 180). Mit der im Titel angegebenen Formulierung aus kontrastiver Sicht wird keine kontrastive Diskursanalyse1 im engeren Sinne angestrebt. In der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die Untersuchung einer in zwei Sprachgemeinschaften, innerhalb einer bestimmten Zeitspanne parallel geführten, sogar kettenartig vernetzten Auseinandersetzung in Form von Kontroversenbeiträgen. Die von zwei Akteuren verfassten Beitragsketten werden miteinander verglichen, somit gewinnt man zugleich Einblicke in die in den jeweiligen Sprach- und ←12 | 13→Kulturgemeinschaften diskursiv erzeugten Weltbilder (vgl. Czachur 2011a). Es handelt sich hier natürlich nur um bestimmte Aspekte des Weltbildes; z. B. das Fremd- und Eigenbild der an dieser Polemik Beteiligten, die Gegenüberstellung von Slawen – Germanen (deutsche und polnische Sichtweise) bzw. der polnischen Wissenschaft(ler) und der deutschen Wissenschaft(ler), wie auch um Strategien, die dazu verhelfen sollen, ein bestimmtes Bild der gegnerischen Partei in der Öffentlichkeit zu schaffen. „Die kontrastive Diskurslinguistik ist nicht am Vergleich von Sprachen interessiert, sondern am Vergleich des diskursspezifischen Sprachgebrauchs und an den ihm zugrunde liegenden kulturellen Sprachgebrauchsmustern“ (Czachur 2020: 205) ihr Ziel ist also, so Böke/Niehr/Wengeler (2000), „die Erschließung gesellschaftlicher Einstellung einer nationalen Sprachgemeinschaft zu einem Thema, einer Erscheinung sowie die Erschließung ihres gesellschaftlichen Bewusstseins in einer bestimmten Zeit“ (zit. nach Czachur 2011b: 151). Mittels einer solchen Diskursanalyse werden die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten im Bereich der kulturspezifischen diskursiven Weltbilder, Sichtweisen, die im Diskurs sprachlich produziert werden und in denen sich die Wertvorstellungen und Denkschemata einer bestimmten Gemeinschaft widerspiegeln, wie auch ihre Bedeutung in dieser Diskursgemeinschaft (auch Sprach- und Kulturgemeinschaft) ermittelt (vgl. Czachur 2011a: 152). Das Vergleichen bedarf mindestens zweier Elemente, die zu einer gemeinsamen Klasse gehören und die dann miteinander verglichen werden können (comparata) wie auch eines Kriteriums (tertium comparationis), „das diesen Vergleich überhaupt erst sinnvoll erscheinen lässt“ (Czachur/Dreesen 2019: 64). Beim Vergleichen zweier Diskurse, die zwar das gleiche Thema berühren, aber in zwei verschiedenen Sprachgemeinschaften und in zwei Sprachen siedeln, muss man die für beide Sprachen, Kulturen, Gemeinschaften adäquaten Kategorien wählen, dank denen das Vergleichen als möglich erscheint (ebd.: 68). Die Bestimmung eines tertium comparationis setzt den Fokus, unter dem der jeweils einzelsprachliche Diskurs untersucht wird (vgl. Rocco/Dreesen/Krasselt 2021: 293). Dabei gilt es, so Czachur und Dreesen (2019), hervorzuheben, dass „[…] der Vergleich von Diskursen gleichzeitig der Vergleich von sozial geteilten Wissensformationen, kollektiven Konzeptualisierungen, von Commonsense, die sprachlich durch Diskurse und in Diskursen erzeugt werden […]“ (ebd.: 69) ist. So bildet das Vergleichen für die kontrastive Diskurslinguistik die Grundlage für interkulturelles Verstehen; der Sprachvergleich ist zugleich Kulturvergleich (ebd.: 63), da Sprache „als ein durch Kultur hervorgebrachtes Produkt und ein Kultur hervorbringender Prozess“ (ebd.: 75, nach Schröter 2014: 36) zu deuten ist, der soziale Interaktion voraussetzt.

Die kontrastive Analyse bedarf, wie oben angemerkt wurde, eines tertium comparationis, d. h. einer dritten Bezugsgröße, auf welche die Entitäten bezogen werden können, um sie gegenüberzustellen (vgl. ebd.: 153). Das Analyseinstrumentarium, mit dem der Diskurs beschrieben werden kann, liefert das von Warnke und Spitzmüller entwickelte DIMEAN-Modell (2011), und die dieses Modell bildenden linguistischen Kategorien können hier als tertium comparationis gelten. Durch ihre die Einbeziehung in die Analyse eines Diskurses können bestimmte (vom ←13 | 14→Forscher beabsichtigte) Elemente des diskursiven Weltbildes rekonstruiert werden. Czachur (2019) spricht von einer dreistufigen Herangehensweise beim Diskursvergleich, was in den dargestellten Analysen auch nachvollzogen wird: Erstens soll die erkenntnisleitende Größe bestimmt werden – in dem analysierten Diskurs sind es u. a. die Akteure in ihrer Wechselrelation mit dem Diskurs und ihren kulturspezifischen Sichtweisen, die sich in ihrer Sprachverwendung manifestieren; zweitens soll die konzeptionelle Größe gewählt werden, womit die zu vergleichenden Diskurse in den unterschiedlichen Diskursgemeinschaften gemeint sind – hier der in zwei Sprachen geführte Diskurs zur Ethnogenese der Slawen; drittens muss der Forscher das passende Analyseinstrumentarium finden – hier DIMEAN – mit dessen Hilfe die erkenntnisleitenden Größen zu ermitteln sind (vgl. Czachur (2019): 74).


1 Mehr zur kontrastiven Diskurslinguistik in Czachur (2019, 2020); Czachur/Dreesen (2019); Rocco/ Dreesen/ Krasselt (2021).

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I. Theoretische Fragestellungen

1. Zur Unordnung des Diskurses2

Bis zur Mitte vorigen Jahrhunderts galt der Satz als die zentrale und oberste Einheit der linguistischen Analysen. Es gab zwar schon früher im Bereich des linguistischen Strukturalismus wie auch davor vereinzelte Ansätze, die Ebene des Textes in die Untersuchungen einzubeziehen und über die Satzgrenze hinaus zu blicken,3 doch erst Anfang der 1960er-Jahre gelangte der Text in den Blickwinkel der Linguistik und die Textlinguistik etablierte sich, nicht ohne kritische Stimmen, als eine eigenständige Teildisziplin der Linguistik. Es wird oft darauf hingewiesen, dass die Etablierung der Textlinguistik eine Art Protest „gegen strukturalistisch orientierte Linguistik“ war (vgl. u. a. Bilut-Homplewicz 2013: 133). Auf die einzelnen Entwicklungsphasen der Textlinguistik kann in der vorliegenden Arbeit nicht näher eingegangen werden, es sollte aber vermerkt werden, dass es sich hier nicht nur um eine bloße Erweiterung des Gegenstandsbereichs der Sprachwissenschaft handelt.

Die pragmatisch ausgerichtete Textlinguistik hat darauf verwiesen, dass Texte als grundlegende Kommunikationseinheiten gelten können. Sie sind also Produkte der Interaktion, des sozialen Handelns und müssen in ihrer Einbettung in den gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Kontext wie auch vor dem Hintergrund ihrer gegenseitigen Relationen betrachtet werden (vgl. z. B. Klemm 2002b: 157). Der Gegenstandsbereich der Textlinguistik wurde erweitert; nun gerieten auch textübergreifende Einheiten wie Textvernetzungen bzw. transtextuelle Relationen (als Intertextualität bekannt) zwischen den Texten in das Blickfeld der linguistischen Analysen. Dass Texte nicht voneinander isoliert behandelt werden können, da sie in konkreten, kulturell und gesellschaftlich verankerten Sprachsystemen entstehen, war schon bekannt, und daraus ergab sich die Notwendigkeit, den unbestrittenen Einfluss von Gesellschaft, ihrer Denkweise und Kultur auf die in solchen Milieus produzierten Texte zu beschreiben. Man suchte nach einer solchen Analysedimension, welche die Mengen von Texten nicht nur als Sammlung von Einzeltexten darstellen würde, sondern sie in ihren vielfältigen gegenseitigen Relationen, mit dem Entstehungskontext und ihrer Einbettung in eine konkrete gesellschaftliche sowie kulturelle und politische Situation erfassen könnte. Als eine solche Kategorie erwies sich der Diskurs, der die Aufmerksamkeit der Forscher auf die Bedeutung der Kommunikations- und Argumentationsprozesse und ←15 | 16→auf die Geltung der Sprache selbst für gesellschaftliche Wissenskonstruktion und Wissenssicherung wie auch für Meinungsbildungsprozesse lenkte (vgl. Konerding 2009: 155). Als Folge dieser Entwicklung etablierte sich die textübergreifende Einheit des Diskurses als eine neue Analysedimension. Die für die Textlinguistik wesentliche Relation Satz – Text wird oft mit der Relation Text – Diskurs verglichen. Während aber die Etablierung der Textlinguistik als „revolutionär“ bezeichnet werden kann, wird die Diskurslinguistik eher als eine Art evolutionärer Vorgang betrachtet (vgl. Bilut-Homplewicz 2013: 134). In dem Prolog zu ihrem Buch Diskurslinguistik. Eine Einführung in die Theorien und Methoden der transtextuellen Sprachanalyse betonen Spitzmüller und Warnke, dass Diskurs ein Konzept ist, welches für die Sprachwissenschaft vom hermeneutischen Nutzen sei, „[…] denn es fokussiert eine fundamentale und zuvor nur unzureichend bis gar nicht beachte Funktion von Sprache, nämlich die gesellschafts- und wissenskonstituierende Funktion […].“ (Spitzmüller/Warnke 2011: 10).

Der Frage, ob Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt sei und als solches zum Gegenstand der Linguistik werden könne, sind Busse und Teubert schon 1994 in dem zu jener Zeit revolutionären und immer noch zitierten Aufsatz Ist Diskurs ein sprachwissenschaftliches Objekt? Zur Methodenfrage der historischen Semantik (vgl. Busse/Teubert 1994) ausführlich nachgegangen, und sie wurde schließlich bejaht. Um aber von einer eigenständigen Disziplin zu sprechen, muss man zunächst ihren Gegenstand genau definieren, was in Bezug auf den Diskurs keine leichte Aufgabe ist, schon wegen seiner facettenreichen Verwendung und weil „der Ausdruck Diskurs […] – hochgradig ambig ist, häufig vage gebraucht und mit unterschiedlichen (und teilweise widersprechenden) Konzeptionen und Theorien verbunden wird“ (Busse/Teubert 1994: 3). Der Diskursbegriff wird nämlich in vielen kulturwissenschaftlich ausgerichteten Gebieten breit reflektiert. Der diskurstheoretische Ansatz, der u. a. Foucault zu verdanken ist, wurde von zahlreichen sozial- und geisteswissenschaftlich ausgerichteten Disziplinen aufgegriffen und an ihre eigenen Erkenntnisinteressen und Forschungsgegenstände jeweils angepasst. So entstanden auf einer fast gemeinsamen theoretischen Basis unterschiedliche Forschungskonzepte, die zum Teil auch mit unterschiedlichen Methoden vorgehen. Viele Wissenschaftler sprechen deshalb in Bezug auf den Diskurs von einem Allerwelt- und Modewort, von einem inflationären Schlagwort bzw. seiner inflationären Verwendung (vgl. z. B. Kerchner/Schneider 2006, W. Heinemann 2011, Spitzmüller/Warnke 2011). Als Ursache dafür nennt man die Usualität des Begriffs (vgl. Heinemann 2011: 32) und die Diffusität seiner Gebrauchskontexte (vgl. Kohlhaas 2000). Angesichts solcher Einwände ist eine kritische Reflexion des Terminus Diskurs angebracht.

1.1 Diskursbegriff

Wie bereits angemerkt, ist der Ausdruck Diskurs polysem. Diese begriffliche Polysemie hat mehrere Ursachen. Zu diesen zählt u. a. seine schon erwähnte Transdisziplinarität. Diskurs wird nämlich in vielen Disziplinen diskutiert und unter ←16 | 17→unterschiedlichen Aspekten beleuchtet. Der Begriff Diskurs steht in vielen Geistes- und Sozialwissenschaften im Mittelpunkt der Forschung und wird jeweils unterschiedlich konzeptualisiert, u. a. in der Philosophie, Soziologie, Literaturwissenschaft, und endlich in der Sprachwissenschaft und jeweils aus spezifischer fächergebundener Perspektive gesehen (vgl. dazu z. B. Schalk 1997/98: 56). Selbst in der germanistischen Linguistik existieren unterschiedliche Diskurskonzepte, die schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sind. Es ist des Weiteren anzumerken, dass Diskurs neben fachsprachlichen bzw. wissenschaftlichen Bedeutungsvarianten auch noch in die Bildungssprache (u. a. Medien, Politik) eingedrungen ist und eine Bedeutungserweiterung in der Allgemeinsprache erfahren hat, welche sich mit wissenschaftlichen Definitionen nicht ganz deckt. Auch im gemeinsprachlichen Sinne bleibt der Begriff polysem. Beide Bedeutungssphären beeinflussen sich gegenseitig und daraus ergibt sich auch eine terminologische Vielfalt des Begriffs.

Überdies geht dieser Bedeutungsumfang mit der der Etymologie des Wortes Diskurs einher. Es leitet sich vom lateinischen discursus/discurrere ab, was ein Hin- und Herlaufen / Auseinanderlaufen bedeutet, verstanden auch als das Auseinanderlaufen von unterschiedlichen Ansichten, im Sinne des polemisierenden Erörterns (vgl. Heinemann 2011: 33), als „[…] eine (thematische) Erörterung oder allgemein ein Gespräch, Unterhaltung; besonders auf das wahrheitssuchende philosophische Gespräch eingeschränkt (,diskursivʻ im Sinne von ,Gründe und Gegengrunde in der Für- und Widerrede erörterndʻ)“ (Ehlich 2007: 3). Das Wort besaß schon seit seinem lateinischen Ursprung einen inhomogenen Charakter. Es bedeutete ursprünglich eine ununterbrochene Bewegung oder Tätigkeit, plötzliche Richtungsänderung, Blutkreislauf bzw. Venen- und Aderverlauf. Es wurde bis in das 20. Jahrhundert auch als „Rede“ konzipiert – und diese Bedeutung, modifiziert als dialogische Rede, etablierte sich in der deutschen Bildungssprache (vgl. u. a. Miller 2010, Gardt 2007: 27). In der Standardsprache bezeichnet Diskurs im deutschen Sprachraum eine Art öffentlicher Diskussion, eine Auseinandersetzung über gesellschaftlich oder politisch relevante Themen, die die Öffentlichkeit bewegen und Kontroversen erregen, eine methodisch aufgebaute Abhandlung über ein bestimmtes wissenschaftliches Thema. Oft wird er im Zusammenhang mit institutioneller Kommunikation verwendet z. B. als Mediendiskurs, politischer Diskurs, juristischer Diskurs.4

Bis heute vereint der Begriff in sich sowohl mehrere standardsprachliche als auch fachsprachliche, metaphorische und abstrakte Bedeutungen. „[…] [Sie variieren von der altlateinischen Bezeichnung für, B. J.] eine dispersive Bewegungsart über die Unterscheidung göttlicher und menschlicher Vernunft, die generische, teilweise institutionalisierte Verwendung für Abhandlung, Rede, Ansprache, Vortrag, die kognitive Bezeichnung für Überlegung oder Verständigkeit, bis hin zur ←17 | 18→pejorativen Konotierung als weitschweifiger Rede oder undiszipliniertem oft auch situationsblindem Parlieren, […]“ (Kohlhaas 2000: 36).5 Am Rande sei auch erwähnt, dass Diskurs mit seiner Polysemie keine Ausnahme ist und sein Schicksal anderen unscharfen Termini ähnelt, die neben einer fachlichen eine allgemeinsprachliche Bedeutung haben, um hier nur Begriffe wie Wort, Satz oder Text zu erwähnen. Der diffuse Bedeutungspluralismus eines Begriffs, der überdies auch in der Alltagskommunikation vorkommt und deshalb vertraut erscheint, lässt es, schon um Missverständnisse zu vermeiden, in der Forschungspraxis notwendig erscheinen, stets vorab zu klären, welche Bedeutung gemeint ist (vgl. dazu Busch 2007; Heinemann 2011; Bilut-Homplewicz 2012). Aufgrund der semantischen Vagheit des Diskursbegriffes wie auch der Vielfalt der mit ihm verbundenen Diskurstheorien ist jeweils darzulegen, welche von ihnen dem in der vorliegenden Monografie verwendeten linguistischen Diskursbegriff zugrunde liegen. In Deutschland wurde das Diskursverständnis vor allem durch die Diskursmodelle von Jürgen Habermas und Michel Foucault geprägt (vgl. Heinemann 2011; Konerding 2009), wobei die sozialphilosophischen Überlegungen Foucaults als eine Anregung für weitere Modifikationen zu verstehen sind. Die Berufung in diesem Beitrag auf die theoretischen Annahmen von Foucault und Habermas hängt vor allem damit zusammen, dass ihre Werke insbesondere die linguistisch orientierte Diskursforschung maßgeblich beeinflusst haben, wie das u. a. Heinemann und Konerding betonen (vgl. Heinemann 2011; Konerding 2009). Im Folgenden werden die wichtigsten Aspekte der Konzepte von Habermas und Foucault skizziert.

1.1.1 Habermas und sein Diskursverständnis

Seit Anfang der 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts entwickelte der deutsche Sozialphilosoph Jürgen Habermas (1981) seine Theorie des kommunikativen Handelns, worin der Ausdruck Diskurs in einer spezifischen Bedeutung verwendet wurde. Der Diskurs im Sinne von Habermas ist aber keine reale Situation, es ist ein angestrebter Zustand, ein Ideal, das erreicht werden sollte (vgl. Habermas 1981). Seine Theorie eines herrschaftsfreien Diskurses verstand er als die unabdingbare Ethik gesellschaftlicher Kommunikation (vgl. Konerding 2009: 158). Den Begriff Diskurs verwendet er als die Bezeichnung für „[…] ethisch geregelte Verfahren der begründungspflichtigen, argumentativen Verhandlung von strittigen Themen, […] in deren Rahmen die Kontrahenten ihre Position jeweils rechtfertigen müssen“ (ebd.: 159).

Details

Seiten
338
Jahr
2022
ISBN (PDF)
9783631883532
ISBN (ePUB)
9783631883549
ISBN (MOBI)
9783631883556
ISBN (Hardcover)
9783631883341
DOI
10.3726/b19896
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2022 (Dezember)
Schlagworte
linguistische Diskursanalyse deutsch-polnischer Diskurs Mehr-Ebenen-Modell (DIMEAN) von Spitzmüller/Warnke Ethnogenese der Slawen
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2022. 338 S., 2 farb. Abb., 8 Tab.

Biographische Angaben

Barbara Jachym (Autor:in)

Barbara Jachym ist Germanistin und Fremdsprachendozentin am Sprachzentrum und am Lehrstuhl für Angewandte Linguistik der Universität Rzeszów. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören kontrastive Studien im Bereich der Text- und Diskurslinguistik, wie auch Fremdsprachendidaktik. Sie befasst sich ebenfalls mit der Übersetzung der Texte aus dem Gebiet der Archäologie und Geschichte.

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Titel: Wissenschaft und Ideologie. Linguistische Analyse des deutsch-polnischen Diskurses zur Ethnogenese der Slawen aus kontrastiver Sicht
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