Titel
Herr, nimm du die Warzen mit!. Laienmedizinische Praktiken in einem Dorf auf der Schwäbischen Alb


Autor(en)
Badura, Matthias
Reihe
Studien und Materialien des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen im Auftrag der Tübinger Vereinigung für Volkskunde herausgegeben von Hermann Bausinger et. al. Bd 26
Anzahl Seiten
142 Seiten, 4 s/w Abb.
Preis
€ 12,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Gesa Kather, University of Liverpool

„Es funktioniert halt!“

Matthias Badura beschäftigt sich in seiner Arbeit mit der laienmedizinischen Praxis des Besprechens bzw. Wegbetens der Verrucae, im Volksmund besser bekannt unter der Bezeichnung Warze, und präsentiert die Ergebnisse seiner Feldstudie, die er in einem Bergdorf auf der Schwäbischen Alb durchgeführt hat. Als Ausgangspunkt für die Analyse seines empirischen Materials zieht er zunächst Konzepte der herkömmlichen Volkskunde bzw. -medizin heran. Über die Konstruktion eines komplexen Argumentationsbogens werden daran anschließend erhellende Erklärungsversuche für gegenwärtige Praxen des Aberglaubens entwickelt und der Gegenstand vor der Folie eines modernen Medikal- bzw. Gesundheitsverhaltens neu kontextualisiert. Hierdurch gelingt Badura ein wichtiger Beitrag, der in der Nähe zu Diskursen über die Biomedizin zu sehen ist. Mit den dargestellten Sichtweisen der hilfesuchenden Akteure werden Praxen der Positionierung deutlich, die einen Gegenpol zu den Legitimierungsstrategien der Biomedizin bilden. Die zunehmende Konsultation laienmedizinischer Praktiker und alternativer Heilmethoden in unserer modernen Gesellschaft lassen somit Rückschlüsse auf den Umgang mit der Biomedizin und ihren Mechanismen der Reproduktion von Authorität zu.

Die Schnittstelle zwischen volkskundlichen Betrachtungsweisen des Aberglaubens, des Volksglaubens sowie der Volksmedizin und kulturanthropologischen Ansätzen, die gegenwärtige kulturelle und soziale Prozesse in spätmodernen Gesellschaften beschreiben, bildet den Kernpunkt der Arbeit. Beginnend mit der Verhandlung des volkskundlichen Bereiches des Volksglaubens/der Volksmedizin nähert sich Badura dem Gegenstand, den er bevorzugt mit dem Begriff „magisches Denken“ anstatt „Aberglaube“ bezeichnet sieht. Das erklärte Ziel der Arbeit ist eine entstigmatisierte Betrachtungsweise alternativer Heilverfahren. Durch ihre Einordnung in ein modernes Medikalverhalten sind Praxen des „magischen Denkens“ als Ausdruck der Bewältigung von Alltagserfahrungen in immer komplexer werdenden Gesellschaften zu sehen und nicht als Zeugnis von Rückständigkeit.

Anhand qualitativer Interviews arbeitet Badura die zugrunde liegenden Sinnzusammenhänge heraus, die für die Akteure bei der Konsultation der Warzenwegbeterin eine Rolle spielen. Nicht zuletzt konfrontiert er seine Informanten auch mit dem Begriff des Aberglaubens. Neben dem Gespräch mit der Hauptakteurin, der Warzenwegbeterin Anna R., führte er Interviews mit Hilfesuchenden und arbeitete aus ihren Legitimatisierungsstrategien drei Grundmotive für das Ausprobieren dieser Heilmethode heraus.

Bei jenen Akteuren, denen die Schulmedizin nicht helfen konnte, wird die Heilungs- und Tröstfunktion zum zentralen Moment (S. 101). Zwar ist der Warzenbefall keine lebensbedrohliche Erkrankung, dennoch leiden viele der Hilfesuchenden sehr darunter, wenn die Warze hartnäckig an sichtbarer Stelle sitzt. So erfahren wir von dem Schlachter, den die Kunden auf seine verunzierten Hände ansprechen, oder von der Mutter, die verzweifelt nach Erleichterung für ihr von der Hauterkrankung gequältes Kind sucht. In diesen Situationen empfinden die Akteure ihr Verhalten als legitim: „Es funktioniert halt!“ lautet die Erklärung, die Badura oft zu hören bekommen hat (S. 125).

Bei der zweiten Gruppe, den Skeptikern, lassen sich hingegen ganz pragmatische Gründe für das Aufsuchen der Warzenwegbeterin finden (S. 103). Sie glauben zwar nicht wirklich an das Warzenwegbeten und oftmals distanzieren sie sich sogar davon. Jedoch sehen sie es als eine Art kostengünstiges Experiment an, das als „softe“ Methode der Gesundheit nicht schaden kann.

Die herausgearbeitete dritte Akteursgruppe ist durch eine deutlich ablehnende Position gegenüber der Schulmedizin gekennzeichnet und die Konsultation der Warzenwegbeterin wird zum Akt der Auflehnung. So ist zu lesen, mit welchem Vergnügen die Informanten ihre Schulmediziner mit den Heilergebnissen der Außenseitermethode konfrontieren, nachdem die Patienten bereits aufgegeben wurden, und welch großes Erstaunen damit ausgelöst würde (S. 105ff.). Deutlich werden der Ärger über eine subjektiv empfundene Arroganz der Ärzte und die Hilflosigkeit des Einzelnen über den versperrten Zugang zu den Logiken und Funktionsweisen der Schulmedizin.

Neben den inneren Beweggründen der Hilfesuchenden untersucht Badura außerdem, mit welchen Kontextualisierungspraxen die Dorfbewohner das Warzenbesprechen in den gesellschaftlichen Diskurs einbetten. Er ist dabei auf Widersprüchlichkeiten gestoßen. Einerseits findet er Anknüpfungspunkte zu einer einem bestimmten Lebensstil zuordnenbaren Heilkunde, die sich durch einen immer facettenreicheren Gesundheitsmarkt und daraus resultierenden, veränderten Diskursen über Außenseiterverfahren etabliert hat. Dieses macht er an dem von seinen Gesprächspartnern immer wieder hergestellten kausalen Zusammenhang zwischen dem Aufsuchen der Wegbeterin und dem Verschwinden der Erkrankung fest. Es handelt sich um eine von allen Menschen für vernünftig erachtete Vorgehensweise, dass man bei einem schwierigen Gesundheitsproblem alle Methoden, und hierzu zählen auch die alternativen Heilverfahren, ausprobiert, so sie potenzielle Genesung versprechen. Entsprechend ist die Praxis der Ingener Warzenbesprecherin auch allen Informanten bekannt gewesen, wenn nicht gar schon in Anspruch genommen worden (S. 121).

Im Gegensatz hierzu steht eine von Badura ausgemachte Trennung von offiziellen und inoffiziellen Diskursen, die an den unterschiedlichen Graden der Attribuierung institutionalisierter Authorität deutlich wird. Somit wird dem Heilerwesen im offiziellen Diskurs nicht die gleiche Authorität wie der Schulmedizin zugestanden, was sich in einem spezifischen „Umgang mit dem Ominösen“ (S. 118ff.) äußert. Fast alle männlichen Informanten samt Kirchenvertretern distanzieren sich in den Gesprächen mit Badura von der Warzenbesprecherin und sehen die Praxen des Aberglaubens als verwerflich an. Die Männer Ingens stellen zwar die Wirksamkeit der Methode nicht in Frage, wenngleich sie sich nicht aktiv an den Konsultationen beteiligen und auch nicht daran glauben. Der Prozess der Entscheidungsfindung bei der Auswahl der Heilmethode wird von den weiblichen Familienmitgliedern der Betroffenen initiiert. Von ihnen kommt in der Regel auch der Vorschlag die Warzenbesprecherin zu konsultieren. Badura weist an dieser Stelle darauf hin, dass die Attribuierung der für die Gesundheit zuständigen und gleichzeitig abergläubischeren Frau oft als gesellschaftliches Phänomen in der Literatur diskutiert wird (S. 121). Aus verständlichen Gründen der Begrenzung seines Themas geht Badura nur am Rande auf den Gender-Aspekt bei der Trennung von offiziellem und inoffiziellem Diskurs ein. Sicherlich wäre es lohnenswert, die hier anklingenden Praxen der Ausgrenzung, mit denen der Zugriff auf und die Veränderung von Machtdiskursen verhindert wird, zum Gegenstand einer weiteren Arbeit zu machen.

Die Stärke der vorliegenden Arbeit, ihre Ansiedelung an der Schnittstelle zwischen der volkskundlichen Aberglaubens- bzw. Volksglaubensforschung und jenen modernen Praxen des Medikalverhaltens im Kontext einer komplexer werdenden Welt macht gleichzeitig auch ihre Schwachstelle aus. Die außerordentlich umfangreiche Arbeit, die zudem methodologisch äußerst gründlich mit Reflexionen über den Feldzugang und einer eventuellen Befangenheit gegenüber dem Feld ausgearbeitet ist und Methoden, Theorien und fachgeschichtlichen Einordnungen ausführlich darstellt, verwirrt gerade wegen ihrer Fülle. Dennoch nimmt der Leser vielerlei Anregungen mit, von denen die besondere Relevanz der Betrachtungsweise von Formen des Aberglaubens bzw. des magischen Denkens als moderne Praxen der Alltagsbewältigung hervorzuheben ist. Insbesondere bei komplexitätstheoretischen Diskussionen hat der Untersuchungsgegenstand des magischen Denkens seine Berechtigung und wird von Badura folgendermaßen auf den Punkt gebracht: „Die Magie [...] ist von einer flüssigen Beschaffenheit. Sie ermöglicht es ihr, sich weich und unscharf (auch) an die Erkenntnismodelle der Moderne anzuschmiegen, in sie einzudringen und sich parasitär mit ihnen zu vermengen – mal um sie zu stützen, mal um gegen sie zu opponieren.“ (S. 11)

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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