H.-G. Haupt (Hg.): Ende der Zünfte

Titel
Das Ende der Zünfte. Ein europäischer Vergleich


Herausgeber
Haupt, Heinz-Gerhard
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 151
Erschienen
Göttingen 2002: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 36.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Engel, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte Georg-August-Universität Göttingen Platz der Göttinger Sieben 5 37073 Göttingen

Historische Themen und Fragestellungen unterliegen, nie war es deutlicher, ausgeprägten Konjunkturen. Die Geschichte der Zünfte am Vorabend der Industrialisierung ist ein Thema, welches die meiste Zeit des 20. Jahrhunderts nicht nur in Rezession, sondern in tiefer Depression verharrte – als eine Geschichte stumpfsinnigen Niedergangs begriffen, atmete der Gegenstand eine wenig betörende Muffigkeit. Der hier betrachtete Sammelband kommt nun – laut Werbetext auf dem Einband – "zu einer radikalen Neubewertung der Rolle der Zünfte im 18. Jahrhundert". Ist also ein neuer Aufschwung der frühneuzeitlichen Zunftforschung eingeläutet? Im Prinzip ja, aber ... der Reihe nach.

Nach der Fokussierung auf den Einband zunächst noch ein kurzes Wort zur äußeren Form des Buches. Die Gestaltung ist ansprechend und nur in einer Weise ernsthaft kritikwürdig – leider wurde bei der Satzerstellung vollständig auf Kopfzeilen verzichtet. Dieses leicht zu generierende Layoutelement hätte die Orientierung im Sammelband ganz wesentlich erleichtert. Behelfsweise kann man beim Durchblättern einen Blick auf die Sprache der in den Fußnoten zitierten Literatur werfen, denn dem Untertitel "Ein europäischer Vergleich" wird der Band wahrlich gerecht. Nach einer umfassenden Einleitung folgen "Länderberichte" zum Zunftwesen im Alten Reich – bzw. beispielhaft in Süddeutschland, Rheinland und Westfalen und drittens Österreich –, der niederländischen Republik, den österreichischen Niederlanden, Frankreich, Italien, Spanien, Schweden, Ungarn und sogar dem ottomanischen Reich. Obwohl die Beiträge unterschiedliche zeitliche, thematische und argumentative Schwerpunkte setzen, kann man sich den bei Sammelbänden üblichen Klageruf mangelnder Stringenz hier wirklich sparen: Die unterschiedlichen Perspektiven ergänzen sich auf durchaus vorteilhafte Weise.

Nicht zuletzt ist dies auch das Verdienst der Einleitung des Herausgebers Heinz-Gerhard Haupt, die stärker als manche Einzelbeiträge auf die versprochene "Neubewertung" der Zünfte fokussiert und ein Fundament von Positionen und Fragen zusammenträgt, auf das hin sich die Beiträge lesen lassen. Haupt hebt zunächst die beharrliche Abneigung der historischen Forschung hervor, die weniger der Zunftgeschichte als vielmehr den Zünften selbst entgegenschlüge und diese als retardierende Elemente einer im Aufbruch befindlichen Wirtschaft bzw. Gesellschaft werte – als Kronzeuge wird natürlich Gustav Schmoller mit seinem Diktum vom kleinbürgerlichen Spießbürgergeist der Zünfte aufgerufen (9). Haupt dagegen rät erstens dazu, "in den zünftigen Institutionen eher anpassungsfähige und vielfältige Gebilde als starre Relikte der Vergangenheit zu sehen" (10), relativiert zweitens den Antagonismus zwischen Handelskapital/Protoindustrialisierung und Zunftordnung (20) und bestreitet drittens die Grundsätzlichkeit des Interessenkonflikts von zünftiger Selbstverwaltung und territorialstaatlicher Souveränität (31). In Ansätzen versucht er diese Positionen mit entsprechenden Belegen zu stärken – vor allem aber weckt er Neugier, inwieweit sich seine Bewertung in den Abhandlungen der einzelnen Beiträger widerspiegelt.

Im ersten "Länderbericht" sekundiert Reinhold Reith den von Haupt entwickelten Positionen und führt die diagnostizierte Abneigung der Historikerzunft gegen die frühneuzeitliche Zunft historiografisch noch näher aus. Im weiteren Gang versucht er dann in mehreren thematischen Abschnitten anhand vieler Einzelbeispiele aus dem süddeutschen Raum das Negativbild der fortschrittsfeindlichen Zunft zu relativieren. Im zweiten Beitrag zum deutschen Raum entwirft Wilfried Reininghaus anhand des vergleichsweise eng umrissenen Beispiels Rheinland und Westfalen ein konzises und vor allem abwägendes Bild. Er beleuchtet sowohl die enger werdenden Spielräume der Zünfte und Konflikte mit der protoindustriellen Neuorganisation der Arbeit als auch ihre verbleibende Machtposition und die grundsätzliche Möglichkeit zur Vereinbarkeit von Zunft und exportgewerblicher Entwicklung. – Einen Treppenwitz stellt übrigens dar, dass dem deutschen Raum zwar gleich zwei Beiträge gewidmet werden, aber in der Beschränkung auf Süd- und Westdeutschland ausgerechnet ein Staat nur gestreift wird, an dem der vielgeschmähte Schmoller einige seiner Anschauungen gewonnen hat: Preußen 1. Das Fehlen eines Beitrags über Großbritannien ist angesichts der dortigen geringeren Bedeutung zünftiger Organisationen im 18. Jahrhundert vielleicht zu verschmerzen.

Josef Ehmers Aufsatz zum habsburgischen Österreich ist ein resümierender Forschungsbericht, der sich auch um einen geschlosseneren inhaltlichen Überblick über das Zunftwesen in dem von ihm behandelten Raum bemüht. Er verdeutlicht insbesondere, dass die These des vorgeblichen Niedergangs des Zunftwesens in der Frühen Neuzeit im österreichischen Fall – auch in einigen anderen Beiträgen deutet sich dies an – nicht zu halten ist und unter Umständen ins Gegenteil verkehrt werden muss 2. Sandra Bos, Piet Lourens und Jan Lucassen können für die niederländische Republik anhand der zuverlässigeren Quellenlage sogar noch präzisere Auskünfte zu den Konjunkturen von Zunftgründungen vornehmen, die im konkreten Fall mit Versorgungskrisen korrelieren. In einer vertiefenden Analyse stellen sie für die Niederlande nicht die ökonomische Regulierung, sondern die soziale Fürsorge der Zünfte als deren Hauptfunktion heraus.

Catharina Lis und Hugo Soly bemühen sich in ihrem Beitrag über das einflussreiche Zunftwesen der österreichischen Niederlande vor allem um Differenzierung. Es zeigt sich, dass die Interessen am und die Affinität zum Zunftwesen bei den Meistern stark von ihrer sozialen und wirtschaftlichen Stellung und ihrer Nähe zum Exportgewerbe abhing, bei den Gesellen von ihrem Selbstverständnis und bei den Stadtregierungen von den wechselnden Interessenlagen. Philippe Minard betont für den französischen Fall ebenso den Vorrang der unterschiedlichen und wechselnden Interessen der Akteure in der Analyse, welche die Zünfte stärker als Instrument zur Durchsetzung individueller Ziele erscheinen lassen. Im konkreten politischen Prozess der Aufhebung der Zünfte wird deutlich, wie wenig diese Aufhebung logischer Schlusspunkt eines Verfallsprozesses ist und wie stark wiederum widerstreitende Interessenlagen den Prozess beeinflussten. Am Beispiel der Republik Venedig und des Herzogtums Mailand vertieft Daniela Frigo das Problem des Verhältnisses von Staat und Zunft, indem sie zunächst die politischen Funktionen der Zünfte und dann den komplexen Prozess ihrer Reformierung und schließlichen Abschaffung herausarbeitet. Pere Molas Ribalta konzentriert sich für Spanien noch etwas stärker auf zeitgenössische und spätere Diskurse um Nützlichkeit oder Schädlichkeit der Zünfte.

Die drei abschließenden Beiträge portraitieren, was das Zunftwesen betrifft, eher periphere Regionen. Lars Edgren stellt mit Schweden den Fall einer sehr späten Blüte des Zunftwesens – nämlich erst nach 1720 – vor, die zudem von der Zentralregierung initiiert war und ihren Bedürfnissen nach Kontrollfunktionen des Gewerbes diente. Tamas Faragó sieht in Ungarn – verursacht durch die Zeit der osmanischen Fremdherrschaft – einen Nachzügler, der in zeitlicher Differenz und mit räumlichen Unterschieden (West-Ost-Gefälle) Anschluss an die Verhältnisse in Österreich suchte – dies wird partiell auch quantitativ belegt und analysiert. Anders als Ungarn standen die Regionen des Balkans auch noch im 18. Jahrhundert unter ottomanischer Herrschaft; Svetla Ianeva zeigt, inwiefern die korporatistische Organisation des Handwerks trotz Förderung des Exportgewerbes staatlichen Interessen diente und also ein "Ende der Zünfte" hier noch fern war.

In der Zusammenschau der einzelnen Argumentationen, die mehrheitlich auf die Erschütterung eines negativen Generalurteils über "die" Zünfte im 18. Jahrhundert abzielen, ist die Verführung groß, lediglich ein neues Generalurteil zu fällen – so verkündet etwa der Werbetext pauschal: "Zünfte waren selbst wichtige Instrumente der Modernisierung". Unzweifelhaft bleibt aber, dass das "Modell Zunft" – so man es als Idealtypus aus den ursprünglichen spätmittelalterlichen Realtypen herausdestillieren kann – im 18. und frühen 19. Jahrhundert in den modernen Regionen Europas in eine Krise geraten war: Wo die realen zünftigen Kooperationen auf korporatistischen Prinzipien beharrten, gerieten sie oft in einen nicht zu gewinnenden Konflikt mit Handelskapitalismus, Protoindustrialisierung bzw. dem modernen Territorialstaat und müssen dann – unabhängig von Zu- oder Abneigung – als retardierendes Element gesehen werden. Wo sie im ökonomisch-politischen Bereich – nach Ausweis vieler Belege in diesem Sammelband – umgekehrt innovative und modernisierende Rollen spielten, waren sie zumeist entweder dazu instrumentalisiert worden bzw. hatten sich von korporatistischen Prinzipien entfernt. Dies bedeutet nun eben gerade nicht, wie Schmoller und andere diagnostizierten, dass die zünftigen Organisationen verkrusteten und degenerierten, sondern vielmehr, dass nur das "zünftige" (d.h. besser korporatistische) Prinzip zu einem unzeitgemäßen geworden war. Dies scheint als einziges Urteil von einiger Allgemeinheit in dieser Sache möglich zu sein; eine "radikale Neubewertung" ist es sicher nicht.

Vieles spräche also dafür, allgemeine sozioökonomische Organisationsprinzipien der jeweiligen Wirtschaftsordnung und die realen Organisationen in der Analyse stärker zu trennen – womöglich sogar, sich von dem programmatisch missverständlichen Begriff "(neuere) Zunftforschung" zu trennen, der – wenn auch antagonistisch gemeint – Denkkategorien der älteren Historiografie und das Bild der spätmittelalterlichen Zünfte assoziiert. Haupt selbst weist ja auch darauf hin, dass sich das Forschungsinteresse stärker der sozialen und kulturellen Dimension zuwendet und eine Tendenz besteht, "Zünfte von der Strategien ihrer Mitglieder" – und man möchte ergänzen: aller Akteure – zu betrachten (13).

Wie ist abschließend der vorliegende Band in dieses Forschungsfeld einzuordnen? Der Habitus "radikalen Neubewertens" wirkt etwas überzogen, bedenkt man, das "neuere Zunftforschung" seit über 20 Jahren betrieben wird und im übrigen der dem Sammelband zugrundeliegende Kongress bereits sieben (!) Jahre zurückliegt. Als Marketingmaßnahme ist es andererseits verständlich, da das Thema in Deutschland zurückhaltender als anderswo aufgenommen zu werden scheint. Der Titel trifft nicht ganz den Inhalt des Bandes, insofern die Beiträge nur auf die Zünfte im 18. Jahrhundert fokussieren, obwohl "Das Ende der Zünfte" ja realiter zumeist erst im 19. Jahrhundert zu suchen ist. Man möchte den Titel aber auch programmatisch verstehen und hofft, hier einen Knotenpunkt vor sich zu sehen: Das Ende einer mit überkommenen Bildern und Denkschemata kämpfenden "Zunftforschung" und das Fundament einer unverkrampfteren und aufmerksamer begleiteten Sozialgeschichte von Interessengruppen in (vorrangig) ökonomischen Aktionsfeldern. Dies ist natürlich eher eine Frage der Rezeption – der Band selbst jedenfalls bildet als facettenreiche und doch stringente Kompilation eines Forschungsstands in europäischer Dimension einen unverzichtbaren Bezugspunkt entsprechender sozioökonomischer Geschichtsschreibung.

Anmerkungen
1 Gustav Schmoller, Das brandenburgisch-preußische Innungswesen von 1640 bis 1806, in: Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 1 (1888), S. 325-383.
2 Allerdings ist sein Indikator für Aktivität – die Zahl der noch auffindbaren Zunftordnungen eines Jahrhunderts – auch von der 'Richtung Mittelalter' abnehmenden allgemeinen Überlieferungsdichte beeinflusst.

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