Titel
Rosenkranz und Kriegsvisionen. Marienerscheinungskulte im 20. Jahrhundert


Autor(en)
Scheer, Monique
Reihe
Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen 101
Anzahl Seiten
457 S., 50 Abb.
Preis
€ 27,00
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Oliver Grasmück, Reutlingen

Monique Scheer nimmt sich in ihrer nun in überarbeiteter Buchform vorliegenden Dissertation „Rosenkranz und Kriegsvisionen“ (entstanden im Rahmen des Tübinger SFB „Kriegserfahrungen. Krieg und Gesellschaft in der Neuzeit“) eines Themas an, das nur vordergründig in den Bereich katholischer Theologie gehört: den „Marienerscheinungskulten im 20. Jahrhundert“. Dieses zunächst religiöse Phänomen ist jedoch immer untrennbar verbunden mit der gesellschaftlich-politischen Situation seiner Zeit, insbesondere mit Krieg und Frieden. Paradigmatisch für das Phänomen steht dabei die Vision dreier Kinder im portugiesischen Fátima 1917, gut ein Jahr nach der Kriegserklärung des Deutschen Reiches an Portugal: eine religiöse Vision in Kriegszeiten. Und genau dieser ihrer Meinung nach bisher vernachlässigte Aspekt steht im Zentrum von Scheers Interesse: Sie will mit ihrer Arbeit die Perspektive auf das Phänomen „Marienerscheinung“ als Produkt von „Krisensituationen“ hin zur nicht zu unterschätzenden besonderen Bedeutung von Krieg und Kriegserfahrung erweitern.

Im Mittelpunkt von Scheers Interesse stehen dabei vor allem die letzten Kriegsjahre und die Nachkriegszeit in Deutschland. Ausgehend von Fátima und dem sich hieraus entwickelnden und über die ganze katholische Welt verbreitenden Kult arbeitet Scheer die besonderen kriegsassoziierten Aspekte seiner Verbreitung und seines Wiederaufblühens in den späten 1940er und 1950er-Jahren in Deutschland heraus. Dabei betrachtet sie unter anderem sowohl amtskirchlich organisierte Maßnahmen, wie die „Peregrinatio Mariae“ der Erzdiözese Köln (1954), als auch die Arbeit einzelner katholischer Publizisten, die sich der Verbreitung des Erscheinungskultes besonders verpflichtet sahen. So war etwa Ludwig Fischer mit seinem „Boten von Fátima“ bereits seit der Zwischenkriegszeit fester Teil der deutschen Fátima-Rezeption. Darüber hinaus bietet Scheer einen chronologischen Überblick über die Ereignisse rund um vier kirchlich nicht anerkannte Marienerscheinungen im Nachkriegsdeutschland: Pfaffenhofen (1946), Tannhausen (1947-48), Fehrbach in der Pfalz (1949-1952) und Heroldsbach-Thurn (1949-1952).

Im zweiten Teil der Arbeit verschiebt sich der Schwerpunkt grundlegend. Im Mittelpunkt steht nun nicht mehr das öffentliche Frömmigkeitsgeschehen der Marienerscheinung, sondern vielmehr der mit diesem assoziierte ikonografische Typus der „Immaculata“ und dessen symbolische Assoziation mit der Kriegsthematik, die sich, so Scheer, bis in die Zeit der Religionskriege des 17. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt und dessen Wiederauftauchen im 19. und 20. Jahrhundert sich als „Reaktivierung“ (S. 263) von tiefer liegenden „Bedeutungssedimenten“ (S. 291) verstehen lassen soll.

Materialreich lässt Scheer im Rahmen ihrer Analyse Originalquellen von Anhänger/innen und Gegner/innen, Theologen/innen, Kirchenleuten und „einfachen“ Gläubigen zu Wort kommen. Dabei greift sie teils auf veröffentlichtes Material, Erbauungsliteratur, Periodika und monografische Werke der katholischen Publizistik zurück. Dies ergänzt sie immer wieder durch eigene Forschungsarbeit in insgesamt neun kirchlichen und weltlichen Archiven in Köln, Süddeutschland und Österreich. Darüber hinaus erschließt Scheer in ihrer Arbeit die verstreute Sekundärliteratur zum Thema Marienfrömmigkeit, Erscheinungen und Erscheinungskulten und stellt sie in den neuen Zusammenhang der „Kriegserfahrung“.

Für beide Themen und Thesen ihrer zwei Haupteile bemüht sich die Autorin, den Leser/innen viele Hintergrundinformationen an die Hand zu geben und die historische Herleitung früh zu beginnen. Leider geht dies jedoch zuungunsten der argumentativen Übersichtlichkeit. So lenkt etwa die meines Erachtens zu umfangreiche Darstellung der unterschiedlichen marianischen Laienorganisationen vom eigentlichen Thema, dem Erscheinungskult (nicht: der Marienfrömmigkeit) unter dem besonderen Aspekt der „Kriegserfahrung“ ab, seine Relevanz wird nicht ausreichend klar gemacht. Dies ist an mehreren Stellen zu bemängeln: beim Lesen der zwar detailreichen, meist jedoch zu wenig analytisch verdichtenden Darstellungen theologischer Debatten, der Organisation von Wallfahrten etc. vermisst man als Leser/in immer wieder eine explizite Bezugnahme auf das große Rahmenthema, die meist erst in nachgestellten Resümees oder in vereinzelten Fußnoten erfolgt. Wenn dabei aus methodischen Gründen eine konsequente Trennung von Darstellung und analytischer Verdichtung gewünscht war, dann wäre zumindest ein Vorziehen der Interpretation vor die Darstellung, die Aufwertung eingeschobener interpretatorischer Abschnitte sowie eine stärkere Vermittlung zwischen den einzelnen Teilen eine große Lesehilfe gewesen. Gerade dem für die Arbeit so zentralen Begriff der „Kriegserfahrung“, der leider an vielen Stellen unscharf bleibt, hätte deutlich mehr Prominenz in der Interpretation eingeräumt werden können. Auch ein Vorziehen des analytisch dichten Kapitels „Marienerscheinung als krisenbedingte Revitalsierungsbewegung“ (S. 392ff.) an eine frühere Stelle der Arbeit und eine Darstellung des Materials unter Rückgriff auf die dort eingeführten religionswissenschaftlichen Begriffe wie „Krisenkult“ und „Fundamentalismus“ hätten einen Zuwachs an systematischer Klarheit erbracht.

Mit Beginn des zweiten Hauptteils zur Ikonografie und religiösen Bedeutung der Immaculata haben die Leser/innen zunächst den Eindruck, eine völlig neue Arbeit in der Hand zu halten. Von den Auseinandersetzungen des Katholizismus mit der Moderne im 19. und 20. Jahrhundert sowie der deutschen Nachkriegsgeschichte geht es nun zurück bis in die Zeit der Religionskriege des 17. Jahrhunderts. Ziel dieses weiten Rückgriffs ist es, kriegsassoziierte „Bedeutungssedimente“ der Immaculata-Ikonografie herauszuarbeiten. So stellt Scheer – neben der eigentlichen, durchdacht bebilderten ikonografischen Analyse – die Verbindung marianischer Symbolik mit Schlachtenglück (etwa Schlacht von Lepanto; Typus der „Maria vom Siege“) oder die Verwendung von Maria als Siegessymbol (Mariensäulen in München, Wien, Prag) auch die theologischen Interpretationen einer „kriegerischen Madonna“ (Maria als die Vernichterin der Ungläubigen) heraus. Die Ausführungen ab S. 263 sind ebenso materialreich wie die vorigen und bieten interessante Einblicke in die Assoziation von Mariensymbolik und Krieg, auch wenn die mit doch recht großen Zeiträumen operierenden ideengeschichtlichen Herleitungen nicht immer überzeugen. Der Bezug zum vorigen Teil der Untersuchung bleibt jedoch, abgesehen von der allgemeinen Kriegsthematik, zunächst unklar. Erst ab S. 339 wird der Bogen zu den Erscheinungskulten im 19. und 20. Jahrhundert wieder geschlagen. Aus meiner Sicht ließe sich das „Immaculata-Kapitel“ problemlos als eigenständige Studie lesen, deren Herauslösung die Argumentation der Arbeit nicht durchbrochen, sondern ihr vielmehr größere Stringenz gebracht hätte. Der explizite Rückbezug katholischer Nachkriegspublizisten auf die Schlacht von Lepanto bei gleichzeitiger Verwendung von Kriegsrhetorik im Zusammenhang mit dem Fátima-Kult und dem „Kampf gegen den Bolschewismus“ wäre auch ohne die umfangreiche historische Herleitung dieser von der Autorin als „Reaktivierung“ bezeichneten Entwicklung verständlich geworden.

Monique Scheer erweist sich insgesamt als Kennerin der marianischen Frömmigkeitsgeschichte. Ihre Perspektive geht über eine rein volkskundliche Betrachtung deutlich hinaus, was sich gerade an der Einordnung der hier analysierten Phänomene „popularer Religiosität“ in den theologischen Diskurs, an der Einbettung in länger wirkende historische Entwicklungen wie an detaillierten kunsthistorischen Analysen zeigt. Scheer fügt mit ihrer Studie und dem besonderen Blick auf die Bedeutung der „Kriegserfahrung“ der religions- und geschichtswissenschaftlichen Deutung von Marienerscheinungen einen wertvollen, ausbaufähigen Beitrag hinzu.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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