M. Eriksson u.a. (Hgg.): Streitkulturen

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Titel
Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit


Herausgeber
Eriksson, Magnus; Krug-Richter, Barbara
Erschienen
Köln 2003: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Joachim Eibach, Universität Potsdam

Die Geschichtswissenschaft hat in den letzten Jahren viel zum Verständnis von Alltagskonflikten in der Vormoderne beigetragen. Gingen die kulturhistorischen Darstellungen älterer Art von Johan Huizinga und Norbert Elias noch pauschal von regellosen Gewaltausbrüchen der Akteure aus, so bemüht sich die neue Kulturgeschichte um einen ‚genauen Blick‘ auf die Mikrophysik der Konflikte. Es geht um ein näheres Verständnis, das Wie und Warum der Konflikte. Mittlerweile ist klar, dass aus Raufhändeln in Bauernschenken oder Randalen von Handwerkergesellen nicht einfach auf ‚primitive‘ Kulturen geschlossen werden kann. Zudem muss das resistente, in Form und Funktion vielfältige Auftreten der Gewalt in der Moderne irritieren. Die halkyonischen Zeiten, in denen sich eine selbstgewisse, optimistische Gegenwart im Spiegel der ‚unzivilisierten‘ Vormoderne sonnte, scheinen – nicht nur aus Gründen der ökonomischen Krise – vorbei zu sein.

Der von Magnus Eriksson und Barbara Krug-Richter herausgegebene Sammelband behandelt in dreizehn Beiträgen und einer Einleitung ‚Streitkulturen‘ der ländlichen Gesellschaft. Ein zentrales Motiv der Beiträge wird bereits in den ersten Zeilen der Einleitung genannt: Die offensichtliche Konflikthaftigkeit einer Gesellschaft muss nicht unbedingt negativ verstanden werden, sondern verweist auf die Fähigkeit, mit Konflikten kommunikativ umzugehen, diese auszuhalten und insofern, wie der von Eriksson und Krug-Richter zitierte Jan Peters es ausdrückt, auf „eine hoch entwickelte Fähigkeit zur Gemeinschaft“ (S. 1). Zur Lösung von Konflikten konnten die Akteure Gerichte einschalten. Sie konnten es aber auch bleiben lassen. Streitigkeiten wurden mittels Einsatz von physischer Gewalt, durch Schlichter oder auch rein verbal von den Streitenden selbst gelöst. Ausgangshypothese von Eriksson und Krug-Richter ist indessen, dass Gewaltpraktiken in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit eine spezifische Bedeutung zukam. Die meisten Beiträge behandeln in mikrohistorischer Manier einen lokalen bzw. regionalen Kontext des Alten Reichs, wobei sehr unterschiedliche herrschaftliche Verhältnisse vorliegen: Gutsherrschaften in Ostelbien, landesherrliche Ämter im Südwesten etc. Der zeitliche Schwerpunkt liegt im 18. Jahrhundert. Das (späte) 16. Jahrhundert wird nur in dem Beitrag von Monika Mommertz angesprochen. Mehrere Leitfragen ‚umklammern‘ den Band, wenn sie auch nicht durchgängig in den Beiträgen thematisiert werden: die Frage der Legitimität von Gewalt entsprechend der zeitgenössischen Vorstellung vom Widerspruch zwischen gerechter Gewalt (‚potestas‘) und ungerechter Gewalt (‚violentia‘); die Untersuchung charakteristischer Modi und Kontexte der Konfliktaustragung; die Analyse des Verhältnisses von Obrigkeit und Untertanen als kommunikative Praxis; der Fokus auf Sprechweisen und Argumentationsmuster.

Das Thema ‚Streitkulturen‘ entpuppt sich als ausgesprochen vielgestaltig. Peter Wettmann-Jungblut und Gudrun Gersmann behandeln mit der Geselligkeitsgewalt in Wirtshäusern eine Form des Streitaustrags, die als besonders charakteristisch für die Frühe Neuzeit gilt. Wettmann-Jungblut erstellt mit Blick auf neuere soziologische und kriminologische Forschungen auf hohem Niveau einen Problemaufriss zum Thema Gewalt, wobei er auch auf einen Rest an Nicht-Erklärbarkeit des Phänomens Gewalt hinweist. Er konstatiert, dass Gewaltanwendung in der Frühen Neuzeit in hohem Maße sozial akzeptiert war. Gersmann führt an, dass der Ausschluss aus gemeinschaftsstiftenden Ritualen in Wirtshäusern und auf Festen stigmatisierend wirkte und ein Mittel innerdörflicher Disziplinierung war. Die Konfliktanfälligkeit der Geselligkeit ist vor diesem symbolisch-funktionalen Hintergrund zu sehen. Gersmann und Barbara Krug-Richter verweisen in Anlehnung an Forschungen von Rainer Walz auf den agonalen Charakter der dörflichen Streitkultur. Es ging beim Streiten also nicht so sehr um Inhalte als um eine Art Wettkampf nach allgemein bekannten Spielregeln. Krug-Richter geht dabei wie andere Autoren des Sammelbands davon aus, dass der Hinweis auf die Relevanz der Ehre nicht alles erklärt. Mit der bäuerlichen Fehde in Brandenburg untersucht Monika Mommertz ein Phänomen, das bislang in der Forschung kaum Beachtung gefunden hat. Auch hier geht es um die Regelhaftigkeit des Konflikts. Die Fehde hatte vor allem präventive Funktion. Sie galt als legitime Praxis mit dem Ziel, sich außerhalb gerichtlicher Institutionen mit dem Gegner zu vertragen. Indessen zeigen die Artikel von Magnus Eriksson zu einer Gutsherrschaft auf der Insel Ummanz bei Rügen und von André Holenstein zur Markgrafschaft Baden, dass die Untertanen durchaus aus freien Stücken den Weg vor die Justiz suchten, um diese für ihre Interessen zu nutzen. Die Vertreter der Obrigkeit wirkten hier vor allem als Vermittler und Schlichter. Holenstein konzipiert Herrschaft in methodisch weiterführender Weise als „kommunikatives Verhältnis zwischen Akteuren in ungleicher hierarchischer Stellung“ (S. 336f.).

Einige Beiträge untersuchen Argumentationsmuster, Sprechweisen und auch Sprachlosigkeit, also in einem weiteren Sinne den Diskurs vor und außerhalb des Gerichts. Michaela Hohkamp analysiert Grenzen zwischen legitimer und nicht-legitimer Gewalt in der Herrschaft Triberg: Gewalt unter Gleichen galt als unrechtmäßig, diejenige in hierarchischen Beziehungen, z.B. im Haus, dagegen durchaus als legitim. Der Hinweis auf die veränderliche Unterscheidung zwischen ‚potestas‘ und ‚violentia‘ und damit den Wandel der Vorstellungen berührt einen entscheidenden Punkt, den man in dem Sammelband insgesamt stärker hätte fokussieren können. In einem weiteren Beitrag analysiert Hohkamp mit Christiane Kohser-Spohn die argumentativen Strategien von Denunzianten und Denunzierten vor Gericht. Andrea Griesebner kontrastiert Strafnormen mit der Gerichtspraxis in einem österreichischen Landgericht. Sexuelle Gewalt in der Ehe war kein strafrechtlich definiertes Delikt und kam schon deswegen vor Gericht nicht zur Anklage. Griesebner vermutet aber den Grund für diese Sprachlosigkeit nicht zuletzt in der von der katholischen Ehe- und Sexualmoral vorgeschriebenen Pflicht, „dem Ehemann ‚willens zu sein‘“ (S. 119). Die Beiträge von Michaela Schmölz-Häberlein und Axel Lubinski zu inhaltlich äußerst verschiedenen Konflikten belegen erneut, dass die Sprachkonventionen den Streitaustrag unmittelbar prägten. Schmölz-Häberlein zeigt, dass es bei konfessionell codierten Konflikten in dem von katholischem Gebiet umgebenen badisch-lutherischen Amt Hochberg faktisch um „Fragen von ‚Nahrung‘ und Herrschaft“ ging (S. 334). Lubinski legt dar, wie adlige Gutsbesitzer in Mecklenburg die Vertreibung von Bauern von ihren Höfen aufklärerisch verbrämten, indem sie sich des Arguments ökonomischer Vernunft bedienten. Laut Lubinski deutet sich im ‚rückständigen‘ Mecklenburg während des 18. Jahrhunderts bereits die später in Preußen-Deutschland so wirksame Symbiose von Adel und Bürgertum an.

Zwei Beiträge zeigen, zugespitzt formuliert, wie frühneuzeitlich das 19. Jahrhundert war. Walter Rummels Thema ist das katholische Rheinland unter preußischer Herrschaft. Als Eingangsbeispiel dient ein nächtlicher Überfall der Burschen des Moselorts Traben auf den Nachbarort Trarbach aus dem Jahr 1903 zur Entwendung eines prestigeträchtigen Schiffsankers. Man hat es gewissermaßen mit einem Stück ‚Volkskultur‘ par excellence zu tun! Gleichwohl konstatiert Rummel eine zunehmende Unterdrückung der tradierten Sozial- und Rügekultur im Dorf durch den modernen Staat. Manfred Gailus richtet sich in seinem Artikel zu ländlicher Gewalt im östlichen Preußen um 1848 gegen eine erinnerungspolitisch motivierte Entsorgung unangenehmer Aspekte der 48er-Revolution. Für Gailus war die Revolution „im Kern durch physische Gewalt definiert“ (S. 179). Im Hinblick auf den Charakter der die Revolution tragenden liberalen Bewegung ist dies wohl diskutabel. Gailus kann aber zeigen, dass es im staatlich wenig durchdrungenen Ostelbien 1848 zu zahlreichen Fällen von entritualisierter Selbstjustiz durch Bauern und zu exzessivem Einsatz der Prügelstrafe als ‚Herrenrecht‘ kam. Eine Formulierung von Thomas Lindenberger und Alf Lüdtke zitierend, weist Gailus dabei auf einen Aspekt hin, der auch in den zahlreichen Forschungen zum Konnex von Gewalt und Ehre bzw. Sozialer Kontrolle in der Frühen Neuzeit ausgeblendet wurde: Körperliche Schmerzzufügung aus Lust (S. 184).

Um verschiedene Verfahren und Praktiken von ‚Streitkulturen‘ zu erhellen, ist die Nebeneinanderstellung von Beiträgen zu verschiedenen Regionen durchaus sinnvoll, ergibt aber noch nicht, wie beabsichtigt, eine „regional vergleichende Perspektive“ (S. 8). Dazu wären übergreifend argumentierende, die relevanten Befunde systematisierende Artikel notwendig. Auch die forschungsstrategisch zu verstehende Bemerkung, dass die historische Kriminalitätsforschung bislang „primär schwere Formen von Gewalt“ untersucht habe (S. 5), ist angesichts der Arbeiten von Martin Dinges, Peter Schuster oder Michael Frank nicht zutreffend. 1 Insgesamt aber verdeutlicht der gleichwohl anregende und lesenswerte Band, dass der Streitaustrag von kulturellen Regeln geprägt war, die keineswegs notwendigerweise durch die Obrigkeit vorgegeben waren. Der Meinung von Eriksson und Krug-Richter, dass physischer Gewaltzufügung beim Konfliktaustrag ein hoher Stellenwert zukam, ist zuzustimmen. Dies gilt allerdings auch für die Lebenswelten der Stadt, für die sich etwa in puncto Geselligkeitsgewalt oder Justiznutzung ganz ähnliche Phänomene zeigen ließen. Was war hier also charakteristisch für die ländliche Gesellschaft? Die meisten Beiträge des Sammelbands präferieren überdies einen synchronen Ansatz. Ein Desiderat für die Forschung zum gewalthaften Streitaustrag im Allgemeinen bleibt so die Frage nach dem soziokulturellen Wandel: Wer partizipierte wann bzw. wann nicht mehr an Fehden, Wirtshaushändeln oder Straßengewalt? Blieben die Regeln des Konflikts stets gleich oder sind hier nicht regional spezifische Veränderungen feststellbar, die mit säkularen Entwicklungen wie sozialem Wandel, Obrigkeitsbildung und Ent- oder Re-Ritualisierung von Praktiken korrespondierten?

Anmerkung:
1 Dinges, Martin, Der Maurermeister und der Finanzrichter. Ehre, Geld und soziale Kontrolle im Paris des 18. Jahrhunderts, Göttingen 1994; Frank, Michael, Dörfliche Gesellschaft und Kriminalität. Das Fallbeispiel Lippe (1650-1800), Paderborn 1995; Schuster, Peter, Eine Stadt vor Gericht. Recht und Alltag im spätmittelalterlichen Konstanz, Paderborn 2000.

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