Fuhrmann: Volksvermehrung als Staatsaufgabe?

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Titel
Volksvermehrung als Staatsaufgabe?. Bevölkerungs- und Ehepolitik in der deutschen politischen und ökonomischen Theorie des 18. und 19. Jahrhunderts


Autor(en)
Fuhrmann, Martin
Erschienen
Paderborn 2002: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
458 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Niels Grüne, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Angesichts des Gewichts, das die sozialhistorische Forschung der demografischen Dynamik des 18. und 19. Jahrhunderts zumisst, erstaunt es, dass bis vor kurzem keine umfassende Untersuchung der zeitgenössischen deutschen Bevölkerungstheorie und -politik existierte. Mit einer bei Diethelm Klippel an der Universität Bayreuth entstandenen rechtsgeschichtlichen Dissertation hat Martin Fuhrmann diese Lücke nun in solider und nicht selten luzider Manier gefüllt. Die Arbeit fokussiert auf die „Frage, ob - und wenn ja, inwieweit [...] - sich Bevölkerungstheorien und bevölkerungspolitische Überlegungen auf die Diskussion des Eheschließungsrechts, der Eheschließungsfreiheit und insbesondere auf die Formulierung von Ehehindernissen auswirkten“ (S. 12). Diese engere Thematik tangiert zahlreiche Aspekte der ökonomischen Anthropologie und der politischen Philosophie, die Fuhrmann mit beleuchtet. Seine Studie weitet sich so in den gelungensten Abschnitten zu einem problemzentrierten Wegweiser durch das staatswissenschaftliche Denken von der Blüte des kameralistischen Paradigmas um 1760 bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als die Entpolitisierung der juristischen Diskussion und die gesetzliche Verankerung der Eheschließungsfreiheit in den meisten deutschen Ländern die Debatte entschärften.

Methodisch verpflichtet sich Fuhrmann der Neuen Ideengeschichte à la Skinner und Pocock. Rund 400 „naturrechtliche, kameralistische, polizeiwissenschaftliche und ökonomische Schriften sowie bevölkerungstheoretische Spezialabhandlungen“ legen der Studie ein breites Spektrum „mittlere(r) Texte“ zugrunde (S. 18). Obwohl die Selektionskriterien des Korpusaufbaus nicht expliziert werden, spricht bei näherer Betrachtung wenig gegen Fuhrmanns Zuversicht, ein „repräsentatives Bild“ (S. 18) zu zeichnen. Zugleich ist es sein Ziel, den Wandel der Bevölkerungs- und Ehekonzepte im Umfeld der „ideologischen Auseinandersetzung um die Veränderung oder Legitimierung der politisch-sozialen Wirklichkeit“ (S. 19) zu verorten. Die empirische Einlösung glückt zwar nur partiell, wobei man besonders eine differenzierte Interpretation der Autoren im Spiegel regionaler Entwicklungsprofile und territorialer Normenproduktion vermisst. Kurzbiografische Exkurse zu den Gewährsmännern hätten deshalb die Beweisführung spürbar vertieft, zumal berufliche Interessendivergenzen etwa im Spannungsfeld zwischen den älteren Justiz- und neueren Kameralbehörden der spätabsolutistischen Territorialverwaltungen die jeweilige Sichtweise sicherlich nicht unbeträchtlich imprägnierten. Immerhin aber verlieren Fuhrmanns Detailanalysen selten die epochalen Problemkonstellationen - etwa die Herrschaftsintensivierung des reformabsolutistischen Fürstenstaates oder den Pauperismus des Vormärz - aus dem Auge, womit sie mehr realgeschichtliche Bodenhaftung als so manche diskurshistorische Gipfelwanderung aufweisen.

Die Aufteilung in sieben Hauptkapitel gehorcht im Wesentlichen der von Fuhrmann herausgeschälten Periodisierung der bevölkerungstheoretischen Diskussion. Den Auftakt bilden der Kameralismus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts (S. 23-71), seine ehe- und familienpolitischen Implikationen (S. 72-114) sowie mit dem Physiokratismus sein konsequentester, im deutschsprachigen Ancien Régime jedoch nur sporadisch durchschlagender Konkurrenzentwurf (S. 115-127). Die Kapitel vier und fünf sind dem liberalen Paradigmenwechsel seit den 1790er Jahren (S. 128-167) und den korrespondierenden eherechtlichen Postulaten (S. 168-205) gewidmet. Danach wendet sich Fuhrmann den Alternativen einer streng liberalen Bevölkerungspolitik im 19. Jahrhundert zu (S. 206-283). Das Schlusskapitel bricht mit dem chronologischen Gliederungsschema, indem es ausführlich die Spielarten der Malthus-Lektüre diskutiert (S. 284-412). Dabei rollt es bereits skizzierte Strömungen aus einem rezeptionsgeschichtlichen Blickwinkel nochmals auf - eine klug gewählte Darstellungstechnik, um die z. T. krassen Verzerrungen der malthusianischen Lehre in der deutschen Publizistik aus deren spezifischen Denktraditionen und gesellschaftlichen Argumentationshintergründen zu erklären.

Für das 18. Jahrhundert konstatiert Fuhrmann, dass die Autoren der Polizei- und Kameralwissenschaft und des älteren Naturrechts unter dem Eindruck kriegsbedingter Bevölkerungsverluste zum einen überzeugt waren, „daß die Wohlfahrt der Staaten [...] von der Höhe der Bevölkerungszahl abhänge“ und die „euphorische Befürwortung der Volksvermehrung [...] als das zentrale Leitmotiv der meisten theoretischen Erörterungen [...] über Staatswohl und Staatspolitik angesehen werden“ (S. 23) könne. Fuhrmanns Charakterisierung der spätaufklärerischen politischen Ökonomie entbehrt zwar nicht logischer Brüche, etwa wenn er dem Kameralismus eine „statische Auffassung von der Unvermehrbarkeit der ökonomischen Ressourcen“ (S. 24) zuschreibt, für die Populationistik kurz darauf hingegen feststellt, dass sie von der „prinzipiell unbegrenzte(n) Erweiterbarkeit der ökonomischen Ressourcen“ (S. 30) ausgegangen sei. Insgesamt decken sich seine Beobachtungen jedoch mit den Konturen, die Frederick G. Whelan für den damaligen populationstheoretischen Mainstream in Frankreich, Großbritannien und Nordamerika umrissen hat. 1 Entscheidend ist aber zum anderen, dass sich die „populationistische Haltung“ (S. 23f.) unter eudämonistischem Vorzeichen mit einem Modell nahezu unbegrenzter staatlicher Lenkungsbefugnisse verband (S. 61-71), die in Bevölkerungsfragen in die intimste Lebenssphäre vordringen sollten. So folgten die praktischen ehe- und familienpolitischen Forderungen nicht nur einem pronatalistischen Kurs, wenn man beispielsweise die Bekämpfung der Ehelosigkeit von Soldaten und katholischen Geistlichen und - allerdings nicht unumstritten - die Aufhebung armutsindizierter Ehehindernisse verlangte. Denn für gewöhnlich wurde damit zugleich eine statistische und medizinalpolizeilich auch eugenische Kontrolle des generativen Verhaltens propagiert, in deren Zuge die spätabsolutistischen Obrigkeiten die Ehe „verstaatlichte(n)“ (S. 78). In Anbetracht der zuweilen bizarren reproduktionsstimulierenden Anregungen einiger Schriftsteller, wie von Justis Vorschlag, „Menschereyen“ als öffentlichen Beischlafhäusern für Frauen ohne Heiratschancen zu schaffen (S. 88), ist hier indes die durchgängige Unterbelichtung der bevölkerungs- und ehepolitischen Realität besonders nachteilig, da sich nur an deren Messlatte die Prägekraft der elitären Wunschkataloge adäquat beurteilen ließe.

Mit gewissen Vorläufern im Physiokratismus bahnte sich laut Fuhrmann erst in den 1790er Jahren eine Zäsur an. Nicht allein mehrten sich die Stimmen gegen die bisher fast einhellig begrüßte demografische Expansion, vielmehr vollzog sich unter dem Einfluss der ökonomischen Klassik und der Aufwertung individueller Freiheits- und Schutzrechte im jüngeren Naturrecht auch ein Umschwung in der Austarierung ,privater‘ Integrität und herrschaftlicher Eingriffskompetenzen. Die Trennung von Staat und Gesellschaft in der liberalen Theorie buchstabierte sich in Bevölkerungsfragen zu einer negativen Politik aus, die eine Beseitigung künstlicher Ehehindernisse betreiben, ansonsten aber die Entscheidung über Heirat und Fortpflanzung der Verantwortung jedes Einzelnen überlassen sollte. Fuhrmann illustriert dies eingehend an dem Göttinger Historiker und Staatenkundler August Ferdinand Lueder (S. 131-146), dessen um 1810 entworfenes „radikalliberales Kontrastprogramm“ (S. 131) zwar nicht mehrheitsfähig gewesen sei, mit der Perhorreszierung jeglicher aktiven Bevölkerungspolitik aber den Autonomiegedanken energisch zu Ende geführt und zudem in seiner beißenden Statistikkritik, mit der übrigens ein Konservativer wie August Wilhelm Rehberg sympathisieren konnte, eine „Vorform des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung“ (S. 146) verfochten habe.

Die ideenhistorische Pointe der Arbeit liegt allerdings in dem Nachweis und der plausiblen Begründung, dass und warum die liberale Wende in Deutschland eine Episode blieb und seit ca. 1820 von einer intellektuellen Bewegung abgelöst wurde, die sich zwar in der Mehrheit auf Freiheitsprinzipien berief, in ihren konkreten Handlungsempfehlungen jedoch unübersehbare „Kontinuitäten zur reformabsolutistischen Bevölkerungs- und Ehepolitik“ (S. 206f.) enthüllte und pars pro toto das „Dilemma des deutschen Liberalismus“ (S. 207f.) in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts exemplifizierte. Fuhrmann macht dafür primär die sozioökonomischen Erschütterungen des vormärzlichen Pauperismus verantwortlich, in dessen Bann das temporäre Vertrauen in die demografische Selbstregulierungskapazität der Gesellschaft so nachhaltig erodiert sei, dass der Ruf nach staatlichen Restriktionen, nun zur Eindämmung der mutmaßlichen Bevölkerungsexplosion durch Eheverbote für Mittellose, Massendeportationen oder gar Zwangssterilisationen, nicht verstummen wollte. Erhellend ordnet Fuhrmann die Krisenreaktion in einen allgemeineren geistesgeschichtlichen Kontext ein, indem er etwa der deutschen Smith-Rezeption und dem „Aufkommen einer korporatistischen Wirtschaftstheorie ab den 1810er Jahren“ (S. 228) nachgeht, durch die das Freiheitscredo der britischen Klassik etatistisch ausgehöhlt wurde (S. 226-231). Wie stark dieser Impuls den Frühliberalismus affizierte, zeigt sich auch daran, dass mit dem Tübinger Staatswissenschaftler Robert von Mohl ein dezidierter Anhänger einer dirigistischen Bevölkerungspolizei die Artikel „Bevölkerung“ und „Gesundheitspolizei“ zur zweiten Auflage des „Staats-Lexikons“ von Rotteck und Welcker beisteuerte (S. 217-223; S. 266f.). Man wird Fuhrmann vielleicht nicht in der skeptischen Frage folgen wollen, „ob unter dem Gesichtspunkt der Theorie der Staatstätigkeit der häufig kritisierte Wohlfahrtsstaat des 18. Jahrhunderts tatsächlich vom „liberalen“ Staat des 19. Jahrhunderts abgelöst wurde“ (S. 234). Zweifellos bestätigt sich hier aber, dass man zumindest den südwestdeutschen Frühliberalismus weniger aus dem klassischen angelsächsischen Liberalismus als aus den verfassungs- und sozialpolitischen Problemen und Zielvisionen einer vorindustriellen Gesellschaft herleiten sollte, die es den meisten Autoren der 1830/40er Jahre z. B. geraten scheinen ließen, den Kommunen eine erhebliche Mitsprache in Niederlassungs- und Verehelichungsfragen einzuräumen. Für die dogmengeschichtliche Kategorisierung ergeben sich daraus gewisse Zuordnungsschwierigkeiten, wie neuere Überblicksdarstellungen veranschaulichen. 2 Fuhrmann identifiziert solche Ambivalenzen in Anlehnung an Lothar Gall denn auch einsichtig als Symptom der liberalen Utopie einer bürgerlichen Gesellschaft unabhängiger und politisch mündiger Eigentümer, die in der gegebenen sozialen Situation indes eine klassenspezifische Diskriminierung unterbürgerlicher Schichten in Ehe- und Fortpflanzungsbelangen autorisierte (S. 279-283).

Die deutsche Malthus-Rezeption liest sich vor diesem Panorama schließlich wie ein einziges Missverständnis, das z. T. bis in die jüngste Literatur reicht. Zunächst rehabilitiert Fuhrmann den häufig als pessimistischen Naturalisten geschmähten anglikanischen Pfarrer, indem er anhand der späteren Auflagen des „Essay on the Principle of Population“ demonstriert, dass Malthus unter geeigneten Bildungsvoraussetzungen durchaus auf die generative Rationalität breiter Bevölkerungskreise baute und daher ganz im Sinne der ökonomischen Klassik für staatliche Nichteinmischung plädierte (S. 284-303). Bezeichnenderweise favorisierte diesen Ansatz in Deutschland jedoch lediglich eine Handvoll „echter“ Malthusianer wie Karl Salomo Zachariä, Karl Arnd oder Wilhelm Roscher (S. 311-318). Die Mehrheit - von den „Liberalinterventionisten“ wie Robert von Mohl, Karl Heinrich Rau und Karl von Rotteck (S. 319-345) über Konservative vom Schlage Adam Müllers oder Franz von Baaders (S. 352-379) bis zu den Kathedersozialisten (S. 379-397) – rezipierte indes nur die vermeintliche Überbevölkerungsphobie Malthus’, während sie seinen therapeutischen „Anti-Etatismus“ (S. 294) zugunsten das Gemeinwohl wahrender Interventionsstrategien ablehnte. Diesen wohlfahrtspolizeilichen „Staatsmalthusianer(n)“ (S. 330) zufolge erwarb die Obrigkeit durch ihre sozialen Unterstützungsgarantien die Lizenz, in das Reproduktionsverhalten namentlich der Unterschichten einzugreifen, um künftige Versorgungsfälle zu vermeiden. Die kleine Gruppe strikter Liberaler hingegen - so die Ironie der Wirkungsgeschichte - polemisierte gegen einen fehl gedeuteten Malthus, um mit der Doktrin von der Unmöglichkeit demografischer Überhitzung in einer dynamischen Wachstumsökonomie ihr umfassendes Deregulierungprojekt bevölkerungstheoretisch zu flankieren.

Wenngleich es Fuhrmanns Arbeit trotz der materialgesättigt verfolgten Fragestellung letztlich an einer übergreifenden Thesenführung mangelt, sind die Artikulationsformen und Ursachen der vielfach belegten Kontinuität wohlfahrtsstaatlich-paternalistischen Denkens und der spiegelbildlichen Schwäche liberaler Positionen sicherlich als die bemerkenswertesten Resultate der Studie anzusehen.

Anmerkungen:
1 Whelan, Frederick G., Population and Ideology in the Enlightenment, in: History of Political Thought 12 (1991), S. 35-72.
2 Vgl. etwa Heidenreich, (Hg.), Politische Theorien des 19. Jahrhunderts. Konservatismus - Liberalismus - Sozialismus, Berlin 2002, wo etwa der erwähnte Robert von Mohl nicht nur unbesehen dem Liberalismus zugerechnet wird, sondern der zugehörige Beitrag von Michael Henkel (S. 343-368) auch Hinweise auf die genannten illiberalen Momente vermissen lässt.