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Titel
Kranke Ehre?. Adlige Selbsttötung im Übergang zur Moderne


Autor(en)
Kühnel, Florian
Erschienen
Oldenburg 2013: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
374 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Markus Raasch, Historisches Seminar, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

Der Übergang von der Frühen Neuzeit zur Moderne, der sich konzeptionell als „Sattelzeit“ fassen lässt, gehört zu den bevorzugten Untersuchungsgebieten der seit etlichen Jahren boomenden Adelsforschung. Wenige Phasen der neuzeitlichen Adelsgeschichte haben mehr Aufmerksamkeit gefunden als die Erosion des Alten Reiches und seiner ständisch geprägten Gesellschaftsordnung. Gleichwohl ist das Forschungsinteresse ungebrochen – zumal an den lebensweltlichen Implikationen der „entsicherte[n] Ständegesellschaft“1. Der Bedarf an entsprechenden Tiefenbohrungen kulturalistischer Ausrichtung erscheint unverändert groß. Hier setzt Florian Kühnel mit seiner in Münster entstandenen Dissertation an, wobei sein instruktives Interesse einer Verbindung von Adelshistoriografie und historischer Suizidforschung gilt. Selbsttötungen als zeichenhafte Handlungen deutend, unterzieht er die dazugehörigen Selbst- und Fremddeutungen des Adels aus akteurszentrierter Perspektive einer eingehenden Betrachtung. Im Spiegel von sechs adligen Suizidenten unterschiedlicher regionaler Provenienz (Karl Heinrich von Hoym, Gottlieb Georg Ernst von Arnswald, Alexander Friedrich Georg von der Schulenberg, Johann Jakob von Welser, Franz Sales von Spreti und Heinrich von Kleist) werden mit Hilfe von Ego-Dokumenten – insbesondere Abschiedsbriefen –, Familienkorrespondenz, Kriminalakten, Zeitungsberichten sowie literarischen und publizistischen Quellen die Kontinuitäten und Brüche der Normen- und Wertsysteme am Übergang zur Moderne ins Blickfeld gerückt. Ähnlich gelagerte Selbsttötungen dienen der Vertiefung. Ein eigenes Kapitel erhält zudem der preußische König Friedrich II., dem bekanntlich immer wieder „Todessehnsucht“ unterstellt wurde.

Die Befunde Kühnels nehmen sich eindrucksvoll aus: Die Kohärenz von Suizid und adligem Ehrenkodex ist evident. Die Selbsttötungen fanden statt, weil ein Ehrverlust z.B. wegen überbordender Schulden, einer nicht-standesgemäßen Schlägerei oder einer insgesamt devianten Lebensführung perzipiert wurde. Unter anderem das aufklärerische Nützlichlichkeitsparadigma entfaltete in diesem Kontext eine fatale Wirkung. Bei keinem der Akteure greift jedoch die gängige These, dass ein adliger Suizid nach antikem Vorbild der Restitution verloren gegangener Ehre dienlich sein sollte. Weder in der Eigen- noch in der Fremdwahrung figurierte die Selbsttötung als sozial akzeptierte oder gar geforderte Tat. Lediglich zur Selbstinszenierung spielte der heroische Suizid eine Rolle, wenn etwa Friedrich II. sein zwischen persönlicher Ehrbewahrung und patriotischer Ethik oszillierendes Herrscherverständnis zu konturieren suchte. Diese Zuschreibung besaß freilich ausschließlich topoischen Charakter und fand zudem kaum positive Resonanz. Überzeugend kann Kühnel die Forschungsmeinung relativieren, nach der nur eine moralische, mithin selbst verschuldete, Aporie zu einer Selbsttötung führen konnte: Bis auf eine Ausnahme machten die Suizidenten äußere Ungerechtigkeiten, sei es abstrakt das Schicksal oder konkret das Verhalten anderer, für ihr Handeln verantwortlich. Arnswald imaginierte seine Selbsttötung sogar als einen an ihm begangenen Mord (S. 109ff.).

Die große Stärke des Buches liegt in der seltenen Synthese von akribisch kritischer Quellenarbeit, peniblem Aufzeigen von Begriffs- und Forschungskontexten sowie einer zumeist anschaulichen, flüssig geschriebenen Darstellung. Kühnel reflektiert konsequent die Überlieferungssituation seiner Quellen und lässt diese sodann immer wieder eindrucksvoll sprechen. Ausgehend von seinen kulturwissenschaftlichen Prägungen beweist er profunde Kenntnisse der historischen Suizidforschung und liefert darüber hinaus spannende Exkurse zu Obduktionspraktiken, Suizidwaffen, den Anfängen der Gerichtspsychiatrie oder der Krankengeschichte der Melancholie. So lässt sich sein Buch durchweg gut lesen, obwohl/weil sich auf etlichen Seiten mehr Fußnoten- als Fließtext findet.

Problematisch muten vor allem drei Sachverhalte an:

Zum ersten kommt es – im Text wie in den Anmerkungen (markant z.B. S. 192 u. S. 289f.) – zu Wiederholungen und Redundanzen; nicht immer steht die Länge der Exkurse in einem günstigen Verhältnis zu deren Ertrag. So luzide Kühnel über Unehrlichkeit als rituelle Verunreinigung handelt, so fragwürdig erscheint etwa die diesbezügliche Ausführlichkeit. Denn Imaginationen von Unehrlichkeit treten – wie er selbst konzediert – in den Quellen „sehr unregelmäßig hervor“ (S. 92) und spielen beim Gros seiner Akteure keine Rolle. Manche Sprünge ins 16. oder 20. Jahrhundert wirken interessant, aber wenig zielführend (z.B. S. 47f. oder S. 215). Mitunter verlieren die „dichten Beschreibungen“ Kühnels das eigentliche Erkenntnisinteresse aus dem Blick.

Zum zweiten hätte Kühnel an manchen Stellen stärker differenzieren müssen. Zu Recht akzentuiert er beispielsweise immer wieder die rechtliche und/oder praxeologische Privilegierung adliger Suizidenten. Gleichwohl scheint deren Relativierung doch ebenfalls immer wieder durch: In Preußen wurden Suizidenten beispielsweise standesunabhängig „still“ begraben. In Bayern drohte auch adligen Selbstmördern ein „Esels- oder Hundebegräbnis“ und Sales von Spreti ist wegen der Standeswürde, aber auch durch seine Illuminatenkontakte bevorteilt. Der sächsische Kurfürst gewährte Hoyms zwar ein „stilles“ Begräbnis, lässt aber dessen Güter konfiszieren. Eine adlige Privilegierung ist keinesfalls ein Automatismus, sondern steht wiederholt am Ende intensiver bürokratischer Aushandlungsprozesse. Darüber hinaus spricht Kühnel oft zu pauschal von „den Zeitgenossen“ oder „dem Adel“. Zu vorschnell werden epochenübergreifende Kontinuitätslinien, etwa zum angeblichen Adel der Antike 2, gezogen; zu wenig vertikale, historische oder regionale Adelsdifferenzierungen reflektiert. Das sich im 18. Jahrhundert verschärfende inneradelige Konkurrenzdenken aufgrund extensiver Nobilitierungspraxis findet keine Berücksichtigung.

Zum dritten vermag Kühnel nur begrenzt weiterführende Erkenntnisse zur Adelsgeschichte der „Sattelzeit“ zu liefern. Dies beginnt schon mit der nicht näher begründeten Auswahl der Hauptakteure, die bis auf Kleist alle im 18. Jahrhundert in den Tod gehen, im Falle Hoyms sogar schon im Jahre 1736. Zu kurz kommt insgesamt die Perzeption der adligen Suizide. Zumal bei den bekannteren Fällen hätte man sich eine intensivere Sichtung von Zeitungsmaterial und Reaktionen nicht unmittelbar Beteiligter gewünscht. Auffälligerweise werden in der Einleitung angeschnittene Perspektiven nur mittelbar oder gar nicht wieder aufgegriffen; besteht das Fazit vornehmlich aus einer konzisen Zusammenfassung. Die These von der vermeintlichen Rückwärtsgewandtheit des Adels beispielsweise (S. 20) wird im Folgenden nur bedingt problematisiert. Wenig befriedigend wird die angebliche „konfessionelle Indifferenz“ (S. 22) beim Thema Suizid verhandelt, wenn sich die Argumentation auf einen katholischen Illuminaten kapriziert (Sales von Spreti). Kühnel weist zu Recht auf die historiografische Notwendigkeit hin, den inneradeligen Umgang mit „Grenzübertreter[n] oder Systemverletzer[n]“ (S. 22) ins Blickfeld zu nehmen. Über den (Nicht-)Ort der „Verlierer“ in der Familienmemoria erfahren wir jedoch viel zu wenig. Im Hinblick auf die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzende „Adelskrise“ vermag schließlich vor allem der Suizid Kleists weiterführende Erkenntnisse zu liefern (bei Sales von Spreti muss Kühnel zu oft den Konjunktiv verwenden): Kleist tötete sich nicht ob seines Ungemachs über adligen Bedeutungsverlust, sondern er scheiterte beim Versuch seine Adeligkeit zu überwinden und eine alternative Lebensform zu finden. Der Fall Kleist ist freilich breit beforscht worden und so kann Kühnel letzthin wenig beitragen zu der Frage, ob „Europa am Ende des Ancien Régime mehr denn je durch eine aristokratische Gesellschaftsordnung geprägt“3 oder aber eine „Epoche ohne Adel“4 war. Gerne hätte man mehr erfahren über die semantischen Kontexte des bürgerlichen Ehrbegriffes, den Adel als (Nicht-)Träger der bürgerlichen Leistungsgesellschaft, die Perpetuierung distinktiver (Selbst-)Inszenierungsmuster und die Rolle des Adels als Vorbild – positiv wie ex negativo.

Im Ganzen liefert Kühnel eine wichtige Monografie, die in ihrer Darstellung und inhaltlichen Tiefe weitgehend zu überzeugen weiß. Eine Bereicherung stellt sie vor allem für die historische Suizid-, weniger für die Adelsforschung dar.

Anmerkungen:
1 Ewald Frie, Adelige Lebensweise in entsicherter Ständegesellschaft. Erfahrungen der Brüder Alexander und Ludwig v. d. Marwitz, in: Eckart Conze und Monika Wienfort (Hrsg.), Adel und Moderne. Deutschland im europäischen Vergleich im 19. und 20. Jahrhundert, Köln u.a. 2004, S. 273–288.
2 Zur Schwierigkeit, den Begriff „Adel“ auf die Antike anzuwenden, in Kürze: Andreas Hartmann, Was ist Adel? Bemerkungen eines Althistorikers zu einer angeblichen historischen Konstante, in: Markus Raasch (Hrsg.), Adeligkeit, Katholizismus, Mythos. Neue Perspektiven auf die Adelsgeschichte der Moderne, München 2014, S. 12-34.
3 Ronald G. Asch, Zwischen defensiver Legitimation und kultureller Hegemonie: Strategien adeliger Selbstbehauptung in der frühen Neuzeit, in: Zeitenblicke 4 (2005), Nr. 2, <http://www.zeitenblicke.de/2005/2/Asch> [17.03.2014], Abschnitt 18.
4 Martin Wrede, Ohne Furcht und Tadel – für König und Vaterland. Frühneuzeitlicher Hochadel zwischen Familienehre, Ritterideal und Fürstendienst, Ostfildern 2012, S. 372.