W.-D. Eberwein; B. Kerski (Hg.): Die deutsch-polnischen Beziehungen 1949-2000

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Titel
Die deutsch-polnischen Beziehungen 1949-2000. Eine Werte- und Interessengemeinschaft?


Herausgeber
Eberwein, Wolf-Dieter; Kerski, Basil
Erschienen
Anzahl Seiten
219 S.
Preis
DM 44,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ihme-Tuchel, Beate

Dieser neun Beiträge umfassende Sammelband ausgewiesener KennerInnen der Materie analysiert die deutsch-polnischen Beziehungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Dabei befasst sich etwa die Hälfte der Beiträge mit dem Stand und der Belastbarkeit dieser Beziehungen seit den Umbrüchen des Jahres 1989/90.

Wolf-Dieter Eberwein stellt in Anlehnung an Karl W. Deutsch und Ernst-Otto Czempiel integrationstheoretische Überlegungen zur Tragfähigkeit des vom polnischen Außenminister Krzysztof Skubiszewski im Februar 1990 aus der Taufe gehobenen Begriffs einer deutsch-polnischen „Werte- und Interessengemeinschaft“ an. Dieser anspruchsvollen theoretischen Analyse folgt Dieter Bingens gelungene Darstellung des langen Weges der „Normalisierung“ der Beziehungen zwischen der Volksrepublik Polen und der Bundesrepublik Deutschland bis 1990, in denen die DDR immer indirekt präsent blieb. Diese Beziehungen setzten nahezu bei Null an; bis 1955 gab es wenig mehr Positives zu berichten als die „Charta der deutschen Heimatvertriebenen“ von 1950, die einen Verzicht auf Rache und Vergeltung für das erduldete Leid enthielt.

Auch die folgenden Jahre brachten - trotz gewisser Hoffnungen auf die Aufnahme diplomatischer Beziehungen im Umfeld des „polnischen Oktober“ von 1956 - keinen Durchbruch in den Beziehungen, die nicht zuletzt durch die „Hallstein-Doktrin“ blockiert blieben. Eine erste Annäherung setzte erst in den sechziger Jahren mit dem Abschluss eines Handelsvertrages, der neuen Ostpolitik sowie dem Briefwechsel zwischen den deutschen und den polnischen Bischöfen ein. Die Entspannungspolitik der siebziger Jahre mit ihrer Anerkennung der Unverletzlichkeit der bestehenden Grenzen sowie der Zusicherung, dass beide Seiten gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche hegten, brachte bis 1972 einen ersten Durchbruch in den Beziehungen, die allerdings danach bis zum Amtsantritt Michail Gorbatschows 1985 in eine mehr oder weniger ausgeprägte Stagnation verfielen. Erst seit Mitte der achtziger Jahre konnten Tabuthemen wie das Schicksal der Vertriebenen oder die Existenz einer deutschen Minderheit in Polen thematisiert werden. Ein kurzer Abschnitt ist den Umbrüchen von 1989/90 gewidmet.

Ludwig Mehlhorn wiederum fragt, ob es sich bei den Beziehungen zwischen Polen und der DDR um eine „Zwangsfreundschaft“ gehandelt hat. Unter dieser Fragestellung untersucht er nicht nur die offiziellen, sondern auch die gesellschaftlichen Wahrnehmungsmuster in beiden Ländern. Weder für Polen noch für die DDR habe es eine Alternative zur Vasallentreue gegenüber der UdSSR gegeben; zudem habe die westdeutsche Nichtanerkennungspolitik die Volksrepublik Polen in eine Solidarität mit der DDR geradezu gezwungen. Bis zu ihrer Auflösung 1952 hätten auch die Gerlach-Gesellschaft, einige Verlage sowie die 1958 gegründete Initiative „Aktion Sühnezeichen“ sehr viel Positives für die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Polen geleistet.

Basil Kerski untersucht den Anteil der nichtstaatlichen Akteure an der Entwicklung der Beziehungen bis 1990 und hier vor allem die Rolle des kirchlichen Kontaktnetzes (den Briefwechsel der katholischen Bischöfe und die Denkschrift der EKD, die polnischen Klubs der katholischen Intelligenz, den Bensberger Kreis, Aktion Sühnezeichen, Polenseminare und das Anna-Morawska-Seminar) sowie den beachtlichen Einfluss der Exilzeitschrift „Kultura“ für die Herausbildung einer „deutsch-polnischen Interessengemeinschaft“.

Auch die deutschlandpolitische Diskussion der polnischen Opposition seit den siebziger Jahren sowie das Verhältnis der Opposition in der DDR zu Polen werden beleuchtet. Die 1976 entstandene „Polnische Unabhängigkeitsbewegung“ (PPN) forderte zwar wie die polnische Staats- und Parteiführung eine uneingeschränkte Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, konnte aber, anders als diese, in der deutschen Teilung keine Garantie für die Souveränität Polens erkennen. Nach Basil Kerski enthielten die Überlegungen der PPN bereits deutliche Ansätze der erst später postulierten deutsch-polnischen „Schicksals- bzw. Interessengemeinschaft“. Zuletzt wird der Versuch unternommen, die bereits vor 1990 erkennbaren Ansätze einer „Vergesellschaftung der Außenpolitik“ zu erklären.
Markus Mildenberger bilanziert diese „Interessengemeinschaft“ aus dem Abstand von zehn Jahren; für die frühen neunziger Jahre konstatiert er eine „Euphorie“ in den Beziehungen, die jedoch gegen Ende des Jahrzehnts von neuem Misstrauen abgelöst worden sei.

Er fragt, ob der deutsche Regierungswechsel im Herbst 1998 zu einem Paradigmenwechsel in den Beziehungen geführt habe. Helmut Kohls Wahlniederlage sei von der konservativen polnischen Regierung mit Enttäuschung aufgenommen worden; insbesondere Gerhard Schröders Ankündigung, „mehr Realismus“ und stärker deutsche Interessen in der Europapolitik verfolgen zu wollen, habe im offiziellen Polen Befürchtungen vor einer Abkehr Deutschlands von der proeuropäischen Haltung Kohls sowie seiner schwindenden Sensibilität für das historische Sonderverhältnis zu Polen ausgelöst. Dennoch führt Mildenberger in seinem abgewogenen und mit einer beeindruckenden Literaturliste versehenen Beitrag die nachlassende Euphorie im gegenseitigen Verhältnis nicht nur auf Fehlentwicklungen der jüngsten Vergangenheit zurück. Vielmehr habe die „letztlich unverbindliche Harmonie“ der frühen neunziger Jahre infolge der konkreten EU-Beitrittsverhandlungen Polens verblassen müssen. (S. 132)

Die EU-Osterweiterung und die Gestaltung der Kooperation nach dem Beitritt Polens seien die zentralen Fragen für die deutsch-polnischen Beziehungen, nicht aber die Entschädigung der polnischen Zwangsarbeiter oder die Vertriebenenproblematik. In der polnischen Wahrnehmung ist aus dem „deutschen Anwalt“ für eine EU-Mitgliedschaft Polens inzwischen aber ein „deutscher Verzögerer“ geworden. (S. 141) Es verwundert daher nicht, dass Mildenbergers Urteil über die vielbeschworene „Interessengemeinschaft“ recht zwiespältig ausfällt.

Matthias Ecker-Ehrhardt fragt nach den Interessen, Werten und dem Gemeinschaftssinn in den Beziehungen auf der Ebene der Eliten. Ist das im Freundschaftsvertrag skizzierte Projekt knapp zehn Jahre danach bei den Führungsschichten bereits Realität? So lautete zumindest die Fragestellung der vergleichend angelegten deutsch-polnischen Elitenstudie, die 1998 am Wissenschaftszentrum Berlin und am Zentrum für Internationale Beziehungen in Warschau durchgeführt wurde. Obwohl das Verhältnis beider Länder auf Elitenebene in mancher Hinsicht „noch weit vom anvisierten Zustand“ der Freundschaft entfernt ist (S. 170), könne es auf vielen Gemeinsamkeiten aufbauen.

Anna Niewiadomska-Frielings Beitrag ist den Beziehungen im Urteil der öffentlichen Meinung der neunziger Jahre gewidmet. Dazu befasst sie sich mit dem deutschen Polenbild und dem polnischen Deutschlandbild seit dem 19. Jahrhundert. Niewiadomska-Frieling konstatiert eine „dreifache Asymmetrie“: so existierten auffallende Divergenzen zwischen den deutschen Eliten mit ihrem positiven Polenbild und dem nach wie vor negativen und von Unkenntnis geprägten Polenbild der deutschen Gesellschaft. Daneben liege eine Diskrepanz zwischen dem negativen deutschen Polenbild und dem sich entscheidend verbessernden polnischen Deutschlandbild vor.

Darüber hinaus existiere eine Asymmetrie bei dem Deutschenbild der jüngeren polnischen Generation, das sich klar vom nationalen Empfinden der älteren Generation in Polen unterscheide. In Anlehnung an Detlef Pollack geht Niewiadomska-Frieling davon aus, dass bei jenen Deutschen, die Kontakte zu Polen haben, die Einstellungen deutlich positiver ausfallen als bei den übrigen, was auch in umgekehrter Richtung gelte. Entgegen dem weit verbreiteten Vorurteil von der antipolnischen Einstellung der Ostdeutschen sei deren Zustimmung für eine polnische EU-Mitgliedschaft größer als die der Westdeutschen. (S. 183f) Niewiadomska-Frieling hält die in Polen unternommenen Anstrengungen zur Verbesserung der Beziehungen zum deutschen Nachbarn für größer als die deutschen Anstrengungen in umgekehrter Richtung.

Christoph von Marshall wagt einen Ausblick über den Stand der Beziehungen aus deutscher Sicht. Als einen Hauptfehler erachtet er, dass die deutschen Themen in Polen und die polnischen Themen in Deutschland immer noch als eine „von der Außen- und Europapolitik abgekoppelte Funktion populistischer Innenpolitik wahrgenommen und missbraucht werden.“ Die meisten Politiker wagten es nicht, sich entschiedener gegen die Ressentiments ihrer Wähler zur Wehr zu setzen; zudem sei es viel verlockender, sich diese Ressentiments zunutze zu machen. (S. 206)
Den Band beschließt ein polnischer Ausblick über den Stand der Beziehungen von Kazimierz Wóycicki, der vor einer unübersehbaren Belastung des beiderseitigen Verhältnisses warnt, sollten die Eigentumsverhältnisse in den ehemals deutschen Gebieten auch nur ansatzweise angetastet werden. Rückgabeforderungen ehemaliger Eigentümer dürften nicht den „Hauch einer Erfolgswahrscheinlichkeit“ besitzen. (S. 213) Auf welchem Niveau werden sich die deutsch-polnischen Beziehungen mit dem Beitritt Polens zur EU stabilisieren? Gerne würden hier die deutsch-französischen Beziehungen als beispielgebend angeführt, möglich sei aber auch der - wesentlich ungünstigere - Vergleich mit den deutsch-niederländischen Beziehungen.

Dieser Band gibt insgesamt einen hervorragenden Überblick über die jüngste Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen. Besonders positiv ist zudem anzumerken, dass etliche der Texte besonders auch didaktischen Ansprüchen genügen und daher außerordentlich gut für den Einsatz in der Lehre geeignet sind.

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