H. Hale: The Foundations of Ethnic Politics

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Titel
The Foundations of Ethnic Politics. Separatism of States and Nations in Eurasia and the World


Autor(en)
Hale, Henry E.
Reihe
Cambridge Studies in Comparative Politics
Erschienen
Anzahl Seiten
296 S.
Preis
£ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Obertreis, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

„Ethnicity is about uncertainty reduction while ethnic politics is about interests.“ Diesen Lehrsatz bleut der Politikwissenschaftler Henry E. Hale seinen Lesern immer wieder ein, denn er steht für die von ihm entworfene Großtheorie zur Erklärung des Zusammenhangs von Ethnizität und Politik. Der Verfasser demonstriert seine Theorie anhand des Separatismus in der späten Sowjetunion („Eurasia“) mit ihren zahlreichen, sehr verschiedenen ethnischen Gruppen, die über eigene administrativ-territoriale Einheiten verfügten. Besondere Berücksichtigung finden hier die Unionsrepubliken Usbekistan und Ukraine. Westliche Experten sahen in Usbekistan mit seiner muslimischen Bevölkerung und den deutlichen kulturellen Unterschieden zum russisch-dominierten Zentrum sehr viel mehr Potential für Separatismus. Letztlich war es jedoch die kulturell dem Zentrum nahestehende Ukraine, die sich Anfang Dezember 1991 für unabhängig erklärte und damit, so Hale, der Sowjetunion den Todesstoß versetzte.

Im Unterschied zu anderen Theoretikern der Ethnopolitik bezieht Hale Ergebnisse psychologischer Forschung in seine grundsätzlichen Überlegungen ein. Die Verringerung von Unsicherheit sei ein fundamentales Movens, das Menschen dazu bringe, sich in Gruppen aufzuteilen. Ethnizität sei ein Mittel der Unsicherheitsreduzierung, der Einschätzung fremder Menschen im Rahmen von Identitäts- und Gruppenbildung. Sie biete als schnelle Orientierungshilfe den Vorteil markanter Kennzeichen (wie Hautfarbe, Sprache), die häufig mit anderen, weniger leicht wahrnehmbaren Kategorien (wie geographische Herkunft, sozialer Status, Entwicklungsstand) korrespondierten. Seine Theorie nennt der Autor „relational“, weil es bei Ethnizität darum gehe, dass Individuen Informationen darüber gewinnen, wie die soziale Welt sie betrifft.

Unter den von der Ethnopolitik verfolgten Interessen versteht Hale vor allem die Maximierung von „life chances“, die nicht nur materielle Versorgung, sondern auch Macht und Status beinhalten können. Mit diesen Definitionen grenzt er seinen Ansatz von der bisherigen Forschung ab, welche er in zwei große Lager aufteilt: die einen sähen Konflikte in der Ethnizität selbst, die Werte beinhalte, angelegt. Die anderen meinten, Ethnizität sei letztlich zweitrangig, denn es gehe bei ethnischen Konflikten in erster Linie um die Vertretung allgemeinerer Interessen.

Bisherige Erklärungen für den Zusammenbruch der Sowjetunion sind häufig von einem wachsenden Nationalismus in den nicht-russischen Unionsrepubliken ausgegangen, der quasi automatisch zur Sezession geführt habe. Hale dagegen sieht im Zentrum dieses und jedes anderen Konflikts in Ethnoföderationen die Frage, wie stark die Mitglieder der Föderation von ihr profitieren und wie sie ihre längerfristigen Perspektiven in der Gemeinschaft beurteilen. Für Gorbatschow stellte sich demnach die Herausforderung, den Republiken zu garantieren, dass sie in einer künftigen Union nicht ausgebeutet würden. Hale analysiert im Detail die Haltung der usbekischen und der ukrainischen Republik zur bestehenden und zur anvisierten erneuerten Union in den Jahren 1990 und 1991. Aus seinen empirischen Ergebnissen zieht er dabei häufig auch theoretische Schlüsse. Ausgeprägtes Bewusstsein für ethnische Andersartigkeit bringe die Gesellschaften ethnoföderaler Regionen dazu, in der Ausbeutung durch die Föderation ein größeres Risiko zu sehen, aber das privilegiere nicht eine bestimmte Strategie beim Umgang mit diesem Risiko.

Der Grad der Zustimmung der Republiken zu einer Erneuerung der Union hing von der jeweiligen Ausrichtung der Politik Moskaus ab. Dies wird an den verschiedenen Phasen von Gorbatschows Politik in Bezug auf die Verhandlungen zum Unionsvertrag deutlich. Erst der gescheiterte Putsch gegen Gorbatschow im August 1991 führte in beiden Republiken endgültig zum Umschwung und brachte erneutes Misstrauen und Angst vor der militärischen Bedrohung durch Moskau. Während man in der Ukraine nun eine Möglichkeit für tatsächliche Sezession gegeben sah, strebte man in Usbekistan nicht nach tatsächlicher staatlicher Unabhängigkeit, sondern wollte sich durch die Unabhängigkeitserklärung vom Ende August eine bessere Position für die Verhandlungen um die neue Union sichern.

Ein weiterer Faktor war die Beeinflussung des Abstimmungsverhaltens der Bevölkerung und der öffentlichen Meinung durch die Republikführungen (framing). Hale betont, dass es in der entscheidenden Phase im Herbst 1991 in beiden Republiken die Option gegeben habe, die Mehrheit der Bevölkerung sowohl für die „Unabhängigkeit“ als auch für die „Union“ zu gewinnen. Beeinflusst wurde die Bevölkerung vor allem durch die Formulierung der Frage, die im Referendum zur Unabhängigkeit gestellt wurde.

Um nun zu erklären, wieso die Ukraine sich letztlich für die Sezession entschied, während Usbekistan bis zum bitteren Ende auf die Erneuerung der Union setzte, kommen die Interessen der Republiken ins Spiel. Ausschlaggebend waren der ökonomische Entwicklungsstand und die mit der Union verknüpften Hoffnungen. Während die Ukraine im Rahmen der Sowjetunion eine gut entwickelte Republik war und schon auf die EU schielte, zählte Usbekistan zu den weniger entwickelten und sah sich ökonomisch von Russland abhängig. Seine Theorie wendet Hale auch für die Zeit nach der Auflösung der Sowjetunion an und zeigt damit, dass sie auch für bereits unabhängige Staaten Bestand hat. Aus der Untersuchung der Phase von 1991 bis 2007 ergibt sich, dass auch hier die Ukraine wesentlich „separatistischer“, also der Integration in die neu gegründete GUS abgeneigter war als Usbekistan. Die anhand der beiden Republiken gewonnenen Ergebnisse stützt der Autor mit Daten aus zwölf Ethnoregionen der Sowjetunion von 1991 ab. Es zeigt sich der generelle Trend: die Menschen in den ökonomisch weiter entwickelten Regionen tendierten mehr zu Separatismus als die in den weniger entwickelten.

Bei der Anwendung dieser Ansätze auf andere Fälle von Separatismus in Ethnoföderationen (etwa Jugoslawien oder Indien) zeigt sich, dass der Entwicklungsstand der jeweiligen Region gemessen an anderen Regionen desselben Landes immer von Bedeutung ist, aber nicht immer mit der gleichen Kausalität wie in der Sowjetunion. Wie Donald L. Horowitz für Afrika und Asien konstatiert hat, neigen hier eher die ‚rückständigen’ Gruppen zu Sezessionismus als die weiter entwickelten, es ist also genau umgekehrt wie in der Sowjetunion. In diesem Fall, so Hale, überwiege offenbar die koloniale Erfahrung, die die ärmsten Regionen dazu bringe, von der Union mehr Ausbeutung zu fürchten als Unterstützung. Man müsse also postkoloniale von postkommunistischen Ländern unterscheiden. Generell solle man bei „ethnischen“ Konflikten und Ethnopolitik die ökonomischen Interessen der Bevölkerung mehr beachten. Ethnische Grenzen und Differenzen sind für den Verfasser nicht Grund für Separatismus und Konflikte, sondern können im Rahmen eines Konfliktes mit Bedeutung aufgeladen werden.

Am Schluss steht die naive Hoffnung des Autors, durch seine Theorie in Zukunft ethnischen Konflikten vorbeugen zu können. Wenn man Interessen in Übereinstimmung bringen und Unsicherheit managen könne, könne Kooperation statt Konflikt befördert werden. Zu dieser Naivität gesellen sich in Hales Studie eine etwas holzschnittartige Präsentation der bisherigen Forschung sowie ein Überbetonen des Innovationspotentials der eigenen, ständig angepriesenen Theorie. Zwischen individueller und kollektiver Ebene unterscheidet Hale theoretisch nicht, und seine Auffassung von dem Umverteilungsproblem in einer Union und seine Definition von Nationalismus und ethnischen Gruppen werden zu wenig diskutiert. Gesellschaften bestehen in seinem Modell letztlich nur aus den „Massen“ und der Führung, dabei ist bekannt, dass für die Entwicklung von Nationalismus bestimmte Bevölkerungsgruppen ausschlaggebend sind. Zu den weiteren Mankos zählt das Fehlen eines Literaturverzeichnisses (das allerdings auf der Website des Autors zu finden ist).

Andererseits besticht diese Studie durch ihre Stringenz und Klarheit. Der dichte Zusammenhang von Theorie und Empirie gelingt in dieser Form selten, und das oben kritisierte Holzschnittartige hat den Vorteil, einen Einstiegs-Überblick über die bisherige Forschung zu bieten. Die hier präsentierte Sicht auf den Zusammenbruch der Sowjetunion unter Berücksichtigung zahlreicher, auch symbolischer Faktoren ist sehr anregend. Es ist ein großes Verdienst von Hales Beitrag, dass er der auf Nationalismus fixierten Interpretation, die bisher häufig dominierte, etwas entgegensetzt. Damit eröffnet er die Arena für eine umsichtigere Diskussion über den Einfluss von ethnischen Faktoren, Nationalismus, ökonomischen Hintergründen und politischen Ereignissen auf den Zusammenbruch des sozialistischen Großreiches. Auch in Anwendung auf Ethnopolitik weltweit sind Hales Erklärungsansätze sicher bedenkenswert. Hier ist sein zentraler Beitrag wohl die konsequent weitergedachte analytische Trennung von Ethnizität und Ethnopolitik. Insgesamt ist dies eine Studie, die Forschungsansätze aus verschiedenen Disziplinen zusammenführt, beachtliches innovatives Potential hat und die in der Geschichts- und Politikwissenschaft auf großes Interesse stoßen sollte.

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