Titel
Der Judenweg. Ein Beitrag zur Geschichte und Kulturgeschichte des ländlichen unterfränkischen Judentums aus Sicht der Flurnamenforschung


Autor(en)
Rösch, Barbara
Reihe
Jüdische Religion, Geschichte und Kultur 8
Erschienen
Göttingen 2009: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
491 S.
Preis
65 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rotraud Ries, Johanna-Stahl-Zentrum für jüdische Geschichte und Kultur in Unterfranken, Würzburg

Jahrhundertelang und in großer Dichte haben Juden zwischen dem Spätmittelalter und dem 19. Jahrhundert in manchen Regionen, besonders aber in Süddeutschland auf dem Lande gelebt. Die baulichen Spuren dieser Geschichte – so weit überhaupt noch sichtbar – kennen wir: zu allererst Synagogen und Friedhöfe, daneben Schulen, Wohnhäuser und vereinzelt Ritualbäder oder Laubhütten. Wenig beachtet hingegen wurden bislang die weiteren Spuren in der Landschaft, die in Gestalt von Flurnamen zum Teil bis heute nachweisbar und zum Teil noch geläufig sind.

Flurnamen sind keine jüdischen Spuren wie die eben genannten baulichen Relikte. Vielmehr handelt es sich um Sedimente der Etikettierung jüdischen Lebens durch die christliche Bevölkerung, die als Benennung für Wege und Orte Eingang in das lokale Gedächtnis gefunden haben und dann aufgezeichnet und kartiert wurden. Hierzu gab die Dichte der jüdischen Bevölkerung in den ländlichen Gebieten Süddeutschlands in besonderer Weise Anstoß. Fast alle Juden, und das konnten 20-30 % oder mehr der Bevölkerung eines Dorfes sein, waren hier ständig unterwegs, um sich ihren kargen Lebensunterhalt zu verdienen. Dies unterschied sie wesentlich von der christlichen Dorfbevölkerung. Die Etikettierung von Wegen als „Judenwege“ ist also eine psychologisch erklärbare Strukturierung der Alltagswahrnehmung von Nichtjuden, in die die verbreiteten gesellschaftlichen, durch Religion und Politik geprägten Bilder der eine gesellschaftliche Sonderrolle einnehmenden Juden eingingen.

Weil der Zusammenhang zwischen dem Leben und Bewegen der Juden in der Landschaft und den heute noch greifbaren Flurnamen ein eher indirekter ist, muss der konkrete Aussagewert der Flurnamen für die jüdische Geschichte genau hinterfragt werden. Damit ist bereits eines der Ergebnisse der Studie angesprochen, die Rösch 2006 an der Universität Potsdam als Dissertation eingereicht hat. Ihr Anliegen gründet in dem letzten Forschungsprojekt des 1993 tödlich verunglückten Augsburger Volkskundlers Prof. Dr. Günther Kapfhammer, mit dem die Autorin zusammenarbeitete und in dessen Projekt die ersten Erhebungen zum Flurnamenbestand und zu alten Karten und Messtischblättern durchgeführt wurden. Auch schriftliche Anfragen bei den beteiligten Kommunen, die Nachfrage nach lokalen Informationen und Erinnerungen waren Teil des Vorgehens.

In der Summe ist eine beeindruckende Sammlung von Flurnamen, das heißt Wege- und Ortsnamen außerhalb von Siedlungen, aus ganz Deutschland zusammengekommen, die ihren Schwerpunkt in Süddeutschland hat. In einem umfangreichen Anhang werden alle Namen mit Orts-, Zeit- und Quellenangabe aufgelistet, die den Wortbestandteil „Jude“ oder „Juden“ tragen, das heißt Judenwege, -straßen, -gassen, -steigen, aber auch Judenbäume, -steine, -brunnen oder -brücken. Die Auswertung der Toponyme konzentriert Rösch dann auf eine Region: den sogenannten Waldsassengau westlich von Würzburg. Diese Auswahl ist gut begründet, da Unterfranken in den bayerischen Flurnamensammlungen breit erfasst ist und eine hohe Dichte an Belegen aufweist.

Nach zwei einleitenden Kapiteln strukturiert die Autorin ihre Befunde in vier großen Kapiteln, in denen sie zunächst meist den Befund für die Untersuchungsregion präsentiert, bevor sie weitere Belege liefert, um das Bild überregional einzubetten. Zunächst werden geografisch-beschreibend die Wege vorgestellt und mit einem verdienstvollen längeren Überblick über die jüdische Siedlungsgeschichte im Waldsassengau kontextualisiert (Kapitel 3). Dem folgen Ausführungen zu den Judenwegen als Orten der jüdischen Alltagsgeschichte (Kapitel 4), als Folge repressiver Politik (Kapitel 5) sowie als Indiz und Folge der gesellschaftlichen Randständigkeit der Juden (Kapitel 6). Angesichts des etikettierenden Charakters der Flurnamen und der starken Abhängigkeit (fast) aller Facetten jüdischen Lebens von den politischen Rahmenbedingungen und der darin festgelegten gesellschaftlichen Position führt dieses Verfahren zu einer gewissen Langatmigkeit und zu einigen Redundanzen. Denn viele Wege verdankten ihre Benennung eben ihrer Multifunktionalität, dienten den Viehhändlern ebenso wie den Bettlern oder den Bewohnern kleiner Siedlungen auf dem Weg zur Synagoge oder zum nächsten Friedhof.

Ausführlich geht Rösch im Rahmen dieser Kapitel auf die jeweils angesprochenen Aspekte und Bestimmungsfaktoren jüdischen Lebens ein und bietet eine wichtige Zusammenschau regionaler kultureller Informationen. Dies betrifft besonders die wirklich jüdischen Wege: zur Synagoge, zur Mikwe und zum Friedhof, die Bräuche auf dem Weg zum Friedhof; dazu Schabbeswege, also Spazierwege innerhalb des am Schabbat erlaubten Bezirks, und Wege zur Schule. Starken Eindruck auf die Etikettierungen der nichtjüdischen Bevölkerung machten daneben die in großer Anzahl umher ziehenden jüdischen Händler, erst recht, wenn sie mit Vieh unterwegs waren und bisweilen Flurschäden anrichteten. Nicht nur Wege wurden nach den sie benutzenden Juden benannt, sondern auch Orte auf diesen Wegen: Brunnen, Brücken, Fährstellen, Orte für die Rast, etwa unter markanten Bäumen. Orte, die die prekäre Lebenssituation der Juden besonders deutlich markierten, waren schließlich die Zollstellen. Hier erlebten nicht nur die Juden selbst die demütigende und finanziell erdrückende Situation, für sich selbst wie sonst nur für Vieh einen Leibzoll – und ganz besonders für Tote einen Totenzoll – zahlen zu müssen. Sondern dieses fand eben auch in aller Öffentlichkeit, auf der Straße statt. Nichtjuden waren daher Zeugen und der Status der Juden in der Gesellschaft wurde täglich demonstriert. Teil der Erinnerung, die in Flurnamen gespeichert wurde, sind schließlich auch die Orte des Unglücks: Stellen, an denen Juden durch Unfälle oder Mord ums Leben kamen. Hier wünschte man sich einen Vergleich mit der Memorierung ähnlicher Ereignisse innerhalb der nichtjüdischen Gesellschaft.

So verdienstvoll und ergiebig die Sammlung der Toponyme ist, so stellt doch die Verortung der Arbeit in der Flurnamenforschung eine besondere Hypothek dar. Dies betrifft zum einen den Entstehungskontext der Flurnamensammlungen durch ortskundige Zuträger ausgerechnet kurz vor oder in der NS-Zeit, zum anderen den ideologischen Ballast dieser Forschungsrichtung. Damit setzt sich die Autorin gleich zu Beginn ihrer Studie kritisch auseinander, nämlich mit den antisemitischen Tendenzen der Forschungsrichtung und deren Bemühen, Spuren jüdischen Lebens in den Flurnamen zu ignorieren oder sie hinweg zu interpretieren (Kapitel 2). Über die Forschungskritik hinaus hätte es der Prägnanz der Arbeit gut getan, auch bei der Analyse des Namensbestandes schärfer zu trennen zwischen Quellen und Interpretationen in den Flurnamensammlungen und nicht jedes abstruse Zitat wieder zu geben.

Mit der großflächigen Erhebung der Flurnamen hat die Autorin einen neuen und wichtigen Beitrag geleistet, die Spuren jüdischen Lebens auf dem Lande zu kartieren. Dazu liefert sie die regional verfügbaren Angaben zum jüdischen Alltag. Der Zusammenhang zwischen beidem bleibt jedoch eher lose und damit das Ergebnis letztlich konzeptuell nicht ganz überzeugend. Es bestätigt das, was wir weitgehend wussten: dass nämlich die Juden auf dem Land zu einer hohen Mobilität gezwungen waren, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen und um ihre Religion zu leben; dass sie an vielen kleinen und kleinsten Grenzen für den Leibzoll und mehr noch für den Transport von Leichen zum Friedhof zur Kasse gebeten wurden; dass sie sich Wege suchten, um Leibzollstellen oder aber die Begegnung mit Personen zu vermeiden, die ihnen feindlich gesonnen waren, dass ihnen aber andererseits bestimmte Wege vorgeschrieben wurden, um sie aus einem Ort heraus zu halten. Viel, allzu viel musste die Autorin für diese Feststellungen mit Plausibilitäten arbeiten, um den Zusammenhang zwischen jüdischer Siedlung, jüdischer Infrastruktur und „Juden“-Flurnamen herzustellen. Es wäre sicher ein lohnender Versuch, einmal exemplarisch in einer Mikroanalyse diesen Zusammenhängen genauer nachzugehen. Ihre Charakteristik der Judenwege spricht jedoch für sich: „Ein Judenweg stellt in der Regel die kürzeste, zugleich billigste und vermeintlich ungefährlichste Verbindung zwischen zwei bestimmten Orten dar ….“ (S. 357) „Viele Judenwege, solange sie nicht dem täglichen Kontakt benachbarter jüdischer Gemeinden dienten, führten fern von Dörfern und Siedlungen durch wenig frequentierte Wälder, Äcker und Wiesen, […] nicht selten […] direkt auf Grenzlinien.“ (S. 358) Es waren, so ließe sich ergänzen, überwiegend von Juden frequentierte, jedoch keine geheimen Wege, denn sonst ließe sich ihre Etikettierung als Judenwege nicht erklären. Als fremd und unheimlich mögen sie jedoch durchaus wahrgenommen worden sein, als abgelegen und von minderer Qualität so wie die Geländestücke, die man den Juden für ihre Friedhöfe überließ.

Der ansprechend gestaltete Band ist mit Karten, Abbildungen und Tabellen ausgestattet, umfasst auch die für wissenschaftliche Arbeiten erforderlichen Register, darunter ein Flurnamen- und ein Ortsverzeichnis. Das von gründlicher Lektüre zeugende Literaturverzeichnis weist gleichwohl bedauerliche Lücken auf: Weder das Buch von Imke König, noch die für die Geschichte der süddeutschen Landjuden wichtigen Publikationen von Sabine Ullmann sind berücksichtigt.1 Der Studie von Rösch ist trotz solcher Einwände zu wünschen, dass sie und damit ihr Befund an Flurnamen künftig stärker in den Forschungen zur jüdischen Regionalgeschichte Berücksichtigung finden.

Anmerkung:
1 Imke König, Judenverordnungen im Hochstift Würzburg (15.-18. Jahrhundert), Frankfurt am Main 1999 (Studien zu Policey und Policeywissenschaft); Sabine Ullmann, Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750, Göttingen 1999 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 151).

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