D. Kammerer: Bilder der Überwachung

Cover
Titel
Bilder der Überwachung.


Autor(en)
Kammerer, Dietmar
Reihe
edition suhrkamp 2550
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
383 S.
Preis
€ 13,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Achim Saupe, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Dietmar Kammerers kulturwissenschaftliche Dissertation „Bilder der Überwachung“ beschäftigt sich aus historischer, (technik)soziologischer und mediengeschichtlicher Perspektive mit der alltäglichen Präsenz der Überwachungskameras und ihrem Aufstieg in den letzten drei Jahrzehnten in Großbritannien und Deutschland. Kammerer unterscheidet dabei die staatlich und privat produzierten Überwachungsbilder von jenen „Bildern der Überwachung“, die als kulturelle Repräsentationen Eingang in Werbung, Medien, Film und Künste gefunden haben und zum alltäglichen Bilderhaushalt gehören.

Eine der Ausgangsüberlegungen des Autors ist es, dass das Sehen, Beobachten und Beobachtetwerden eine Geschichte hat. In einem kurzen historischen Überblick verortet Kammerer zunächst die Vorfahren der Überwachungsbilder in der Einführung der öffentlichen Straßenbeleuchtung 1667 in Paris. Die nächtliche Beleuchtung der Stadt wurde von staatlicher Seite als moralische Aufgabe der Sicherheit und Sittlichkeit begriffen, während sie später als alptraumartige Helligkeit ohne Rückzugsmöglichkeiten aufgefasst werden konnte. Eine zweite historische Linie erkennt Kammerer in der Einführung der Verbrecherfotografie und ihrer Standardisierung durch Alphonse Bertillon (1853–1914). Die frühe Verbrecherfotografie, die durch ein gesprochenes Portrait und die körpervermessende „Bertillonage“ ergänzt wurde, erscheint so als ein Vorläufer aktueller biometrischer Fotografien. Neben den erweiterten Möglichkeiten der Identifizierung von Tatverdächtigen resultierte aus der Entwicklung der Verbrecherfotografie der Anspruch einer Objektivierung und neuen Wissenschaftlichkeit polizeilicher Methoden, deren Versprechen Sicherheit hieß und die für deviante Individuen einen Abschreckungscharakter haben sollte.

Kammerer richtet dann den Blick auf die Vorgeschichte der Videoüberwachung in der Bundesrepublik mit den „fernseh-ferngelenkten“ Verkehrsleitzentralen (S. 47) in den 1950er-Jahren, die fotografische „Rotlicht-Überwachung“ in Frankfurt am Main und die Einführung des mobilen „Fernsehaufnahme-Wagens“ in den 1960er-Jahren. Für die 1990er-Jahre erläutert er, dass ausgehend von einem Pilotprojekt in Leipzig ein Anstieg der Überwachung öffentlicher Plätze, Straßen und Parks zu verzeichnen ist, die zuvor zu so genannten „Kriminalitätsschwerpunkten“ erklärt wurden. Für Großbritannien, welches international eine Vorreiterrolle in der Überwachung des öffentlichen Raumes einzunehmen scheint, erkennt Kammerer in dem Fall des Jungen James Bulger, der 1993 von zwei Jugendlichen in einem nordenglischen Einkaufszentrum entführt und später ermordet wurde, einen zentralen Wendepunkt der öffentlichen Diskussion über die Videoüberwachung. Bulgers Tod wurde dazu genutzt, eine Ausweitung des „Closed Circuit Television“ (CCTV) vorzunehmen – also jener Fernseh-, Video- bzw. nunmehr digitalisierten Bilder, die dem Namen nach nur einem geschlossenen Benutzerkreis zur Verfügung stehen. Kammerer verzichtet dabei leider auf eine Einordnung der Kameraüberwachung in die neuere Geschichte der britischen Kriminalpolitik, die andernorts als eine konservative law-and-order-Politik seit dem Ausgang der 1970er-Jahre beschrieben worden ist.1

Die Wirksamkeit der Videoüberwachung wird überschätzt – das zeigt Kammerer anhand von aktuellen, allerdings noch wenigen empirischen Studien überzeugend. Er resümiert, dass es in videoüberwachten Bereichen zu keiner deutlichen Verringerung von Straftaten gekommen ist, sondern allenfalls zu einem leichten Rückgang von Eigentumsdelikten und Sachbeschädigungen. Die Videoüberwachung trägt so weder zur Verbrechensbekämpfung noch zur Verhinderung oder Aufklärung von Verbrechen wesentlich bei, und selbst ihr Abschreckungseffekt ist oft nur kurzfristig und marginal. Auch ein Ansteigen des subjektiven Sicherheitsempfindens ist kaum zu registrieren, und so können kameraüberwachte Orte paradoxerweise als besonders gefährlich wirken, weil dort Kameras aufgestellt sind.

Doch wie begründet sich der fortwährende Ausbau der Videoüberwachung? Kammerer verweist auf die Konjunkturen der Sicherheitshysterien und Sicherheitsversprechen. Er diskutiert die Videoüberwachung im Rahmen einer Entwicklung von der Disziplinar- zur Kontrollgesellschaft, wobei er sich zwischen Foucault, Deleuze und neueren „Surveillance Studies“ bewegt. Mit Georg Simmel hält Kammerer die Intersubjektivität des Sichansehens fest, um dann mit Jean-Paul Sartre das Dispositiv eines nicht-reziproken Blickverhältnisses zu beschreiben. Durch die Trennung von Auge und Blick sowie dessen Loslösung von einem anwesenden Gegenüber werden nach Kammerer jener Schrecken und jene Scham ausgelöst, die für ihn den „Kern des Funktionierens der Videoüberwachung“ ausmachen (S. 110). Dabei präzisiert Kammerer Foucaults Beschreibung der Machtmechanismen von Benthams Panopticum, indem er verdeutlicht, dass die panoptische Macht keine zentrale Zwangsgewalt ist, die auf der Sichtbarkeit der Insassen beruht, sondern dass sie sich vielmehr auf die „Sichtbarkeit der Unsichtbarkeit der Macht“ stützt (S. 117).

Kammerer setzt sich mit dem Inneren des Kontrollraumes, der fragilen Beweiskraft von analogen und digitalen Überwachungsbildern vor Gericht und in der Polizeipraxis sowie neuen Techniken der Identifizierung wie der „face recognition“ auseinander. Dabei dekonstruiert er überzeugend sowohl die Mythen „bewährter Technik“ der Überwachungsbefürworter als auch die Szenarien der Gegner und Paranoiker, die in der „totalen Überwachung“ den Siegeszug des „Big Brother“ vermuten. Befürworter und Kritiker unterschätzen gleichermaßen, wie sehr gerade die Flut der aufgezeichneten und gespeicherten Bilder einer totalen Kontrolle entgegensteht.

Die Ikonografie der Videoüberwachung verknüpft Kammerer historisch mit der Darstellung des „Auges Gottes“ und des „Auges des Gesetzes“.2 Überwachungsbilder in populären Filmen kommen ebenso zur Sprache wie ihre spielerische Dekonstruktion in verschiedenen Kunstprojekten der „counter-surveillance“, die die Widersprüche und Funktionsmechanismen der Kontrollkultur aufdecken wollen. Anhand der vermeintlich „letzten“ Überwachungsbilder von James Bulger, Lady Di und Mohammed Atta verweist Kammerer auf die „Hilflosigkeit angesichts des Unvermeidbaren“ (S. 322) einerseits und die Suggestion von Handlungsfähigkeit andererseits. Was aus dem Videomaterial immer wieder herausgegriffen und medial inszeniert wird, ist die Schwelle zum Tod: Die Bilder folgen der Logik einer „rite de passage“, indem sie Todgeweihte und Todesbringende zeigen. So besteht die letztlich scheiternde Allmachtsfantasie der Überwachungsbilder darin, dass sich die Zukunft wenigstens nachträglich voraussagen lässt.

Das körnige Bild der elektronischen Augen hält das Belanglose, Zufällige und Chaotische des Alltags fest, was Kammerer dazu führt, statt der Faszination dieser Bilder eher ihre Redundanz, Monotonie und Banalität zu betonen. Dass er das voyeuristische Moment, welches gerade der medialen Repräsentation der Überwachungsbilder etwa im „real crime-television“ und im Kinofilm eingeschrieben ist, nicht überbewertet wissen will, ist erstaunlich. Denn schließlich hat Kammerer eine implizite These: In den Überwachungsbildern und ihren medialen Repräsentationen verbinden sich die Bildräume des Panoptischen und des Populären, der Überwachung und des Spektakels. Damit gelingt ihm eine diskussionswürdige Kritik Foucaults, der bekanntlich das panoptische Modell der Disziplinierungsmechanismen auch als Verdrängung des strafenden Spektakels verstanden hatte.

So spricht Kammerer von einer mehrfach codierten Kontrollkultur: Die Repräsentationen der Sicherheitsgesellschaft sind im Zuge des Umgangs mit Kontrolltechnik alltäglich geworden; der vorsorgende Kontrollstaat wird zunehmend als selbstverständlich angesehen. Die kontrollierende Überwachung wirkt präventiv und disziplinierend, da durch die Überwachung das potenzielle Verhalten der Individuen zur Beurteilung steht und derjenige, der sich beobachtet weiß, tendenziell sein Verhalten an bestehende oder auch nur imaginierte Normen anpasst (vgl. S. 350). Der Reiz des elegant formulierten, äußerst facettenreichen und ellipsenförmig angelegten Buches liegt in einem entspannten und zugleich sensiblen Umgang mit der Thematik. Den von ihm geforderten „nicht-konspirativen“ Blick (S. 352) hält Kammerer konsequent ein. Er relativiert einige überspitzte Thesen der in der Tradition des Poststrukturalismus stehenden „Surveillance Studies“, während er sich gleichzeitig reserviert gegenüber Versuchen zeigt, die Analyse der Überwachungstechniken und -bilder für eine Gesellschaftskritik zu nutzen.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa Paddy Hillyard / Janie Percy-Smith, The Coercive State, London 1988.
2 Vgl. Michael Stolleis, Das Auge des Gesetzes. Geschichte einer Metapher, München 2004.