K. Crawford: European Sexualities 1400-1800

Cover
Titel
European Sexualities 1400-1800.


Autor(en)
Crawford, Katherine
Reihe
New Approaches to European History 38
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 246 S.
Preis
£ 15.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Elena Taddei, Institut für Geschichte und Ethnologie, Universität Innsbruck

„But sexuality as the preeminent personal referential frame is quite new historically. This book ist in part about how this happened.” (S. 4) Dies ist eines der Ziele, welches Katherine Crawford in ihrer Arbeit zur Sexualität in der Frühen Neuzeit verfolgt. Neu ist dabei der Ansatz, dass Sex und Sexualität(en) eine eigene Geschichte haben, deren Ideen, Auffassungen und Praktiken sich im Laufe der Zeit änderten und sich von Raum zu Raum unterschieden. Die Problematik und Unzulänglichkeit der Definition von „Sex“ wird gleich zu Beginn und im Verlauf der Arbeit mehrmals thematisiert und zeigt sich schon im Titel: Es gibt nicht eine sondern mehrere, von Menschen in sozialen Gefügen geschaffene Sexualitäten.

Die Autorin fasst Sexualität als Begriff für alle Aktivitäten und Werte, die man einem sexuellen Akt und einem sexuellen Verhalten zuschreibt, zusammen („a term encompassing the activities and values associated with sexual acts and behaviors“, S. 3). Sie betont, dass bisher noch nicht eindeutig genug hervorgehoben worden sei, wie sehr die Sexualität sich im Laufe der Zeit geändert hat. Sie versucht dabei, zwischen den Ansätzen des Essentialismus (es gibt einen unveränderbaren essentiellen Aspekt von Sexualität) einerseits und des Konstruktivismus (Sexualität hängt von der jeweiligen – sozialen – Struktur ab) andererseits zu vermitteln und wählt als Zugang einen Empirismus der die gelebte Erfahrung des Einzelnen und ihr Muster, also die Kollektiverfahrung, verbindet. Dieser Zugang basiert auf den neuen Methoden der Sozialwissenschaften und der gender studies, die sich seit den 1970er-Jahren mit den sexuellen Aspekten des Lebens, der Ehe, der Geburt, der Schwangerschaft und der demographischen Entwicklung – wenn oft auch ausschließlich statistisch, wie die Autorin kritisch anmerkt (S. 5) – beschäftigen.

Wie Crawford zeigt, ist die Sexualität nicht etwas Verborgenes, über das man nicht spricht, sondern sie drückt sich in der Frühen Neuzeit in verschiedenen sozialen Aspekten aus: Gesundheit, Macht, Ansehen werden durch Nachkommenschaft (= Sex) dargestellt. Wenn Foucault behauptet, dass Sexualität (noch) nicht eine persönliche identitätsbildende Sache sei (S. 5), sondern ein Akt an sich, der in der Gemeinschaft be- oder verurteilt wird, so meint Crawford, dass der Mensch der Frühen Neuzeit sehr wohl durch seine sexuellen Praktiken identifiziert wurde.

Das Buch konzentriert sich auf die Zeit von 1400 bis 1800, wobei in jedem der thematischen Schwerpunkte, nach denen sich das Buch gliedert, das späte 17. und das 18. Jahrhundert meist nur gestreift oder in einem Satz von der Renaissance in die Zeit um 1800 übersprungen werden (S. 45, S. 111). Die einzelnen Kapitel konzentrieren sich auf die für die Zeit wichtigen sozialen Strukturen: Familie und Ehe, Religion, Medizin und Wissenschaft, Recht und Verbrechen bzw. Abweichung „von der Norm“. Das Ziel der einzelnen Kapitel ist es, die Entwicklung, Veränderung, teilweise aber auch Rückbesinnung auf Früheres zu zeigen, wobei die Zeit bis circa 1650 stets den größeren Teil ausmacht. Abhängig von der jeweiligen Forschungssituation sind manche Aspekte für einzelne Länder und historische Gebiete besser untersucht, andere weisen auf Desiderata in der Forschung hin. Insgesamt widerspiegelt das Buch den reichen Bestand an Arbeiten vor allem zum Italien der Renaissance.

Crawfords vorrangiges Ziel ist es, zu sensibilisieren. Sie beweist mit zahlreichen Quellenzitaten und Ergebnissen von Einzelstudien, dass Sexualität eine von vielen Variabeln abhängige, veränderbare und sich ständig verändernde Sache war und ist. Die Arbeit endet mit der Gretchenfrage: Warum macht Sexualität so viel Angst? Die historische Antwort darauf ist, wie vor allem im ersten Kapitel dargestellt wird, dass Sexualität mit Fortpflanzung zu tun hat und diese gesellschaftlich oft unterschiedlich problematisiert wird: Zu viele Kinder sind ebenso ein Problem wie zu wenige oder keine. Außerdem ist die Fortpflanzung nicht eine rein sexuelle bzw. biologische Angelegenheit, sondern Ausdruck von Macht, sozialem Status, Intimität und Gefühl.

Oft ist Sexualität ein Ausdruck von Ungleichheit, wie Crawford eindrücklich darstellt: Bei den homoerotischen Begegnungen in Griechenland oder Rom, bei denen ein mächtigerer, älterer Mann über den jüngeren, einfluss- und protektionsbedürftigen verfügte, oder im Christentum, in dem die Frau sexuell, physisch, psychisch, intellektuell und emotional schwächer eingestuft wurde. Unter der Vorherrschaft der Kirche entwickelten sich dann zwei die Sexualität und damit die Gesellschaft ordnende Stränge: die Höherschätzung von Jungfräulichkeit, Enthaltsamkeit und Keuschheit und die „Duldung“ des der Fortpflanzung dienlichen Geschlechtverkehrs innerhalb des Ehebündnisses. Was darüber hinaus ging, also Sex mit Prostituierten, Sodomie und Masturbation wurde entweder als notwendiges Übel zum Schutz der schwächeren Frauen vor sexuellen Übeltätern geduldet oder als Ausdruck ihrer eigenen unbändigen Lust kritisiert oder als Verbrechen gegen die Ehe (weil nicht zu Fortpflanzungszwecken), gegen die Gesellschaft (Inzest, illegitime, der Gemeinschaft zu Lasten fallende Kinder) oder gegen Gott (Blasphemie) gewertet.

Im Kapitel über die Ehe wird fast ausschließlich der wirtschaftliche Aspekt des Ehebundes angesprochen (S. 18f.). Das zweckmäßige politische Bündnis zur Schaffung einer Allianz oder eines notwendigen Netzwerkes bleibt unerwähnt. Das Kloster als alternative Lebensführung wird von Crawford ausschließlich als Möglichkeit des Schutzes der Ehre der Frau und der Familie gesehen. Das Kloster war aber auch Ort der weiblichen Machtausübung und eine Versorgungsanstalt vor allem für töchterreiche Familien, die sich dadurch eine hohe Mitgift ersparten, wie erst im Nachhinein von der Autorin eingeräumt wird.

Das Kapitel über Religion und Sexualität beginnt mit einer ausführlichen Übersicht über die Entwicklung des Zölibats und behandelt dann die einzelnen sexuellen „Vergehen“ und ihre Bestrafung, vor allem aus Sicht der Patristik und der Literatur der Zeit. Kapitel 3 („The science of Sex“) geht vom antiken Verständnis des Körpers in der Naturphilosophie zu der bis ins 19. Jahrhundert wirksamen Säftelehre und beschäftigt sich mit der langsamen Entdeckung der weiblichen und männlichen Anatomie, wobei der Schwerpunkt wieder eindeutig auf dem 15. und 16. Jahrhundert liegt. Thematisiert wird auch der Diskurs über die Imperfektion des weiblichen Körpers und die Idee, Sex als Therapie etwa zur Linderung von Menstruationsunregelmäßigkeiten, von Nervenleiden oder von Schwangerschaftsproblemen einzusetzen. Über die Diskussion der Schwangerschafts- und Empfängnistheorien der Frühen Neuzeit steigt die Autorin in das Problem der Entdeckung des Lustgefühls und der Befriedigung ein, die die Kontrollierbarkeit der Sexualität erschwerte und letztlich die These untermauerte, dass ein Orgasmus die Voraussetzung für eine gelungene Empfängnis sei – demzufolge eine Schwangerschaft, die als Folge einer Vergewaltigung eintrat, auf die Zustimmung der Frau schließen ließ. Außerdem ersetzte im Laufe der Renaissance das Bild der schwachen zügellosen Frau, die wollüstig immer mehr Geschlechtsverkehr braucht, jenes des unkontrollierbaren, triebgesteuerten, der Lust nicht widerstehenden Mannes.

Im 4. Kapitel („Sex and crime“) geht es um die Frage, wann man in der Neuzeit von einem Sexualverbrechen sprach, das einer oft variierenden und wechselhaften Definition unterlag. Allgemein war damit ein Vergehen gegen die Familie, die Gemeinschaft, die Natur oder Gott gemeint. Das letzte Kapitel („Deviancy and the Cultures of Sex“) behandelt schließlich die seit der Antike bekannten und oftmals in der Renaissance wieder entdeckten Formen der Sexualität außerhalb der Heterosexualität und des ehelichen Geschlechtsverkehrs (Homosexualität, Masturbation etc.), die einerseits verdammt und verfolgt wurden und andererseits inspirierend waren, wie die mit dem Buchdruck aufkommende und sich vermehrende erotische und pornographische Literatur beweist.

Der von der Reihe ‚New Approaches to European History’ vorgegebenen Struktur der schlichten Form und der Flüssigkeit des Textes folgend, spart die Autorin mit Quellenangaben. Des Öfteren möchte man im Text innehalten und nachsehen, worauf hier Bezug genommen wurde, muss sich aber mit der (allzu) reichhaltigen „weiteren Literatur“ am Ende des Kapitels begnügen. Die Meinung, dass ausführliche Anmerkungen die Lesbarkeit einer wissenschaftlich gelungenen Arbeit behindern würden, mag zutreffend sein; die hier gebotene Alternative allerdings kann nicht überzeugen.