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Jazzklubs und Jazzmusiker in Thüringen 1959–1989

Eigensinn, Aneignung und die Praktiken sozialistischer Kulturpolitik

von Martin Breternitz (Autor:in)
©2023 Dissertation 590 Seiten

Zusammenfassung

Jazz in der DDR war vielfältig, subversiv und oft nonkonform. Besonders in Jazzklubs, die überall im Land verstärkt ab den 1970er Jahren ins Leben gerufen worden, manifestierten sich beständige Reibungspunkte zwischen Staat und jungen Jazzbegeisterten, die eigensinnig ihre Musik hören, aufführen und veranstalten wollten. Jazz galt für seine Anhängerinnen und Anhänger dabei als eine Art Lebensentwurf neben statt gegen den SED-Staat.
Anhand einer breiten Regionalstudie der Jazzszenen im damaligen Thüringer Raum untersucht das Buch mittels Zugängen aus Biografieforschung, Kulturtransfer und Alltagsgeschichte soziale Kontexte, musikalische Aneignungsformen sowie kulturbehördliche Kontrollstrukturen und das vielfältige Vorgehen der Staatssicherheit gegen Jazzmusik und Akteure zur Zeit der DDR.

Inhaltsverzeichnis

  • Cover
  • Titel
  • Copyright
  • Autorenangaben
  • Über das Buch
  • Zitierfähigkeit des eBooks
  • Danksagung
  • Inhaltsverzeichnis
  • Einleitung
  • 1. Forschungsstand
  • 2. Leitfragen und Theorierahmen
  • 3. „Wie es sich wirklich ereignet hat in der DDR mit dem Jazz“ – Quellen, Dokumente und Interviews mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen
  • 4. Zugänge, Schlüsselkonzepte und Grundbegriffe
  • 4.1. Zugang zum kulturhistorischen Forschungsgegenstand
  • 4.2. Schlüsselzugänge zum empirischen Forschungsgegenstand
  • 4.2.1. Oral History
  • 4.2.2. Eigensinn
  • 4.2.3. Aneignung und Kulturtransfer
  • 4.2.4. Jazz Diaspora
  • 4.2.5. Jazz im Kontext dieser Arbeit
  • Kapitel I: Jazzklubs im Raum Thüringen – Individuell im Kollektiv
  • 1. Kooperation, aber eigensinnig: Jazzklubs zwischen Eigensinn und „Daneben-Sein“
  • 2. Jazzklubs als „Nische“
  • 3. Jazzklubs und die SED: Historisch tradierte Konfliktlinien
  • 3.1 Sozialistische Jazzdiskurse (I) – Jazz als Musik der „unterdrückten afroamerikanischen Arbeiterklasse“
  • 3.2 Jazz Diplomacy
  • 3.3 Wendepunkte
  • 3.4 „Aus Leipzig in die Welt“ und in die Thüringische Provinz
  • Die Leipziger Geheimkonferenz: Netzwerke(n), Diskussionen und Ideentransfers
  • Jazz als „Kunstmusik“
  • 3.5 Sozialistische Jazzdiskurse (II) – Westliche Dekadenz, sozialistische Unterhaltungskunst und Nationalkultur im Spiegel der Realismus-Formalismus-Debatten
  • Ablehnung westlicher Kultur: Bebop ist Krieg
  • Lokale Ambivalenzen
  • 1962 – Ein zweiter Probelauf für Jazzklubs in der DDR?
  • 3.6 „Heimstätten des Jazz“ – „Ein Publikum schafft sich seine Szene selber“
  • 3.7 Jazzklubs in der DDR als selbstorganisierte Kulturform
  • Überblick: Jazzklubs im Raum Thüringen 1959–1989
  • 1. Eisenach – Arbeitsgemeinschaft Jazz im Klubhaus des VEB Automobilwerks Eisenach
  • 2. Ilmenau – Arbeitsgemeinschaft Jazz im FDJ-Jugendklub der TH Ilmenau
  • 3. Weimar – Freundeskreis Jazz im Kulturbund/Jazzclub Weimar
  • 4. Sonneberg – Interessengemeinschaft Musik und Literatur Sonneberg/Sonneberger Jazz Optimisten
  • 5. Altenburg – Interessengemeinschaft Jazz im Kulturbund /Jazzclub Altenburg
  • 6. Jena – FDJ-Studentenklub Jazz im Paradies
  • 7. Erfurt – Interessengemeinschaft Jazz am Zentralen Klub der Jugend und Sportler Erfurt
  • 8. Nordhausen – Interessengemeinschaft Jazz/Jazzclub Nordhausen
  • Aneignung, Alltag und kulturelle Praktiken von Jazzfans im Thüringer Raum im Kontext lokaler Praktiken sozialistischer Kulturpolitik der 1970er und 1980er Jahre
  • 1. Zugang und Aneignungsformen von Jazz
  • 1.1 Zugang über das Radio
  • 1.2 Radioerfahrungen ab den 1960er Jahren: Hauptsächlich West-Sender
  • 1.3 Zugang über Schallplatten, Tonbänder und Praktiken des Aufnehmens und Kopierens
  • 1.4 Live-Erlebnisse als Katalysatoren lokaler Selbstorganisation in Jazzklubs
  • 2. Plattenvorträge, Konzerte, Festivals und Interjazz-Sessions – kulturelle Praktiken und Veranstaltungsformate der Jazzklubs
  • 2.1 Exkurs I: Jazz-Schallplattenvorträge
  • 2.2 Konzertveranstaltungspraxis der Jazzklubs: Jazzmanager und subkutane Marktwirtschaft innerhalb staatlicher Institutionen und gesetzlicher Regulationen
  • 2.3 Exkurs II: Honorare im Musikleben der DDR
  • 2.4 Selbstorganisation der Jazzklubs als Notwendigkeit eines „Erlaubniswesens“
  • 2.5 Exkurs III: Die Konzert- und Gastspieldirektion des Bezirks Erfurt
  • Tagesaufgaben zwischen sozialistischer Ideologie und realer Veranstaltungspraxis – Strukturen und Arbeitsweisen der Konzert- und Gastspieldirektion des Bezirkes Erfurt
  • Förderungen und Forderungen
  • Die KGD Erfurt und der Jazz
  • SED-Kulturpolitik und Jazz-Szene der 1970er und 1980er Jahre: Unterschiedliche Auffassungen zur Arbeit der KGDen im Spiegel regionaler und landesweiter Perspektiven
  • 2.6 Rekurs: Zentralkonflikte – Ein Fallbeispiel
  • 3. FDJ-Kampfprogramm, Finanzen und sprachlicher Eigensinn
  • 3.1 Sozialistische Ideologie und Jazzklubs: Lokale Jazzkultur als Beispiel für Herrschaft als soziale Praxis
  • 3.2 Phraseologie als eigensinnige Strategie
  • Fallbeispiel I: FDJ und Free Jazz – Die AG Jazz an der Technischen Hochschule Ilmenau
  • 1. „Der experimentelle Jazz regierte“
  • 2. Kultureller Mikrokosmos auf dem Ilmenauer Campus – „Anarchie“ unter FDJ-Schirmherrschaft?
  • 3. Jazzkontakte zwischen Ost und West
  • Fallbeispiel II: Die 1. Jazztage der DDR 1985 in Weimar
  • 1. Konzeption, Intention und politische Hintergründe
  • 2. Wahrnehmung der 1. Jazztage der DDR bei den Jazzfans
  • 3. DDR-Jazz als „Label” am Beispiel des Weimarer Jazz-Festivals
  • 4. Die 2. Jazztage der DDR 1989 in Weimar
  • Kapitel II: „Die Stasi swingt nicht“ – Die Staatssicherheit und die Jazzszenen im Thüringer Raum
  • 1. Unterwanderung der DDR-Jazzszene durch Schlüsselfiguren
  • 2. Jazzklubs im Visier der Staatssicherheit
  • 2.1 Schlüsselzugang – Feindbild „Jazz“, oder Feindbild „unangepasst“?
  • 2.2 Die Akte Jazz – Unterwanderung des Jazzklubs in Karl-Marx-Stadt
  • 2.3 „Gesprächsführung war im Wesentlichen Jazzmusik“ – (K)ein Jazzklub in Zeitz
  • 3. Die Staatssicherheit und Jazzklubs im Thüringer Raum aus Zeitzeugen- und Aktenperspektiven
  • 3.1 Weimar – Im Spiegel von Altenburg 1976
  • 3.2 Jena – Freier Jazz im FDJ-Studentenklub
  • „Ungewollte Diskussionen“ beim Hahnenkopf
  • „Konkret heißt das Diskussionen über Jazz“
  • 3.3 Altenburg – „Fürchterlicher Krach, und da hören die auch noch zu!“
  • 3.4 Sonneberg – Südthüringer Kunden, „Frieden schaffen ohne Waffen“ und POZW
  • 3.5 Blues für Arnstadt
  • 4. Fallbeispiel: Der Operative Vorgang „Blues” gegen den Jazzklub Eisenach
  • 4.1 Eine Art Berufsverbot
  • 4.2 „Bei den bearbeiteten Personen handelt es sich um Jazz-Fanatiker“
  • 4.3 Verschlossene Berufswege
  • 4.4 Fazit
  • Kapitel III: Aneignungsformen und Praktiken von Jazz im Thüringer Raum – Reale Vielfalt im „real existierenden Sozialismus“
  • 1. Einleitung
  • 2. Biografische Aneignungsgeschichten von Jazzmusikern in Thüringen zur DDR-Zeit
  • 2.1 Gerd Kahl, Gerd Walther, Arnd Effenberger – Arnstädter Teddys (Arnstadt)
  • 2.2 Peter Wicklein – Sonneberger Jazz Optimisten, Schlagzeuger und Bandleiter (Sonneberg)
  • 2.3 Lothar Stuckart – Orchester Lothar Stuckart, Trompeter und Big-Band-Leiter (Erfurt)
  • 2.4 Udo Decker – Inkspot Swingband, Pianist und Bandleiter (Zeulenroda)
  • 2.5 Stanley Blume – Jazz-Saxofonist (Eisenach)
  • 2.6 Matthias Bätzel – Jazz-Pianist und Jazz-Organist (Weimar)
  • 2.7 Andi Geyer – Pro Art, Jazz- und Blues-Organist (Ilmenau)
  • 2.8 Uwe Leßmann – Lesse’s Collage, Bassist (Erfurt)
  • Zusammenfassung und Schlussbetrachtungen
  • Literatur-, Archiv-, Quellen-, und Zeitzeugenverzeichnisse
  • Bibliografie
  • Archivquellen
  • Tonträgerverzeichnis
  • Verzeichnis der Zeitzeugen und Zeitzeuginnen
  • Abbildungsverzeichnis
  • Reihenübersicht

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Einleitung

Die DDR war sozusagen ein Jazzklubland. Zu jeder Zeit fanden sich im sozialistischen Arbeiter-und-Bauern-Staat an Orten auch abseits der großen Metropolen junge Menschen zusammen, um in Interessengemeinschaften, Arbeitsgemeinschaften, Freundeskreisen oder Jazz-Zirkeln Jazz-Konzerte und Jazz-Festivals zu veranstalten, um diese Musik zu hören, sie zu praktizieren und um sich mit Jazzkultur individuell und zeitgleich in selbstgewählter Gemeinschaft in Bezug zu eigenen Lebensvorstellungen in der DDR zu beschäftigen. Etwa 60 dieser Jazzklubs gab es in der ostdeutschen staatssozialistischen Republik in den 1980er Jahren – auf Einwohnerzahlen bezogen somit weit mehr als im Westen Deutschlands.1 Die Selbstbilder und Lebensentwürfe vieler Jazzfans, ebenso wie die etlicher Jazzmusikerinnen und Jazzmusiker in der DDR waren dabei gekennzeichnet von Selbstbestimmtheit und Nonkonformität.

Im Thüringer Raum prägten zur DDR-Zeit acht aktive Jazzklubs die kulturelle Landschaft. Die Jazzfans schufen sich hier vor Ort „selbstorganisierte Kulturformen“2 innerhalb eines Gesellschaftssystems, das permanent und bis in den Alltag hinein Strukturierung, Regulierung und Politisierung vornahm. Die Arbeitsgemeinschaft Jazz im Klubhaus des AWE, 1959 bei der Betriebsorganisation der Freien Deutschen Jugend (FDJ) des Eisenacher Automobilwerks gegründet, gilt heute als dienstältester noch bestehender Jazzklub aus der ehemaligen DDR. Traditionen und Kontinuitäten der Beschäftigung mit dieser Musik reichen hier bis in die 1920er Jahre zurück. In Ilmenau ist seit 1964 eine Arbeitsgemeinschaft Jazz im FDJ-Jugendklub an der dortigen Technischen Hochschule aktiv, auch ←13 | 14→hier organisierten Jazzfans bereits in den 1950er Jahren Konzerte, Vorträge und Jam Sessions. Der Jazzklub in der Klassikerstadt Weimar wurde 1976 zunächst beim Weimarer Kulturbund gegründet und später angeschlossen an das städtische Jugendklubhaus Walter Ulbricht. In Sonneberg, einer grenznahen Stadt im Süden des Thüringer Raums entstand 1978 eine zunächst eigenständige Interessengemeinschaft Musik und Literatur, die sich nach kurzer Zeit an die örtliche FDJ angegliederte und inoffiziell dabei stets Jazzklub genannt wurde. Von diesen Kreisen unabhängig, im Umfeld des Sonneberger PIKO-Spielwarenwerks, organisierte 1986 ein Schlagzeuger und Bandleiter ein auf traditionelle Stilistiken orientiertes Jazz-Festival. 1980 gründeten Jazzfans in Altenburg eine Interessengemeinschaft Jazz beim Kulturbund der DDR, die 1987 in die Trägerschaft eines Altenburger FDJ-Jugendklubhauses überging. In der Universitätsstadt Jena formierten Studierende 1980 den FDJ-Studentenklub Jazz im Paradies, formal angegliedert an die dortige FDJ-Hochschulgruppe. 1982 fanden sich auf Mitini- tiative eines Mitarbeiters der Konzert- und Gastspieldirektion (KGD) Jazzfans zu einer Interessengemeinschaft Jazz in der Bezirkshauptstadt Erfurt zusammen, die zum Zentralen Klub der Jugend und Sportler gehörte. 1983 formierten Jazzbegeisterte in Nordhausen eine Interessengemeinschaft Jazz im Rahmen der FDJ, die 1988 als Jazzklub Nordhausen zum städtischen Kreiskulturhaus übersiedelte.

Zwar obligatorisch formal fest angebunden an staatliche Massenorganisationen wie FDJ, Kulturbund oder auch örtliche Kulturhäuser, verfolgten die Jazzfans in ihren Klubs dabei stets ihre eigenen Musik- und Lebensvorstellungen im Rahmen ihrer selbst gewählten Vergemeinschaftungsformen.

Generell fanden sich in den Jazzklubs junge Menschen meist Anfang bis Ende 20 in einem breiten Spektrum „originärer Protest- und Verhaltensformen“3 in bewusster Abgrenzung zum SED-Staat zusammen – eine Beschreibung, die zeitgleich ebenso gut auf etliche andere junge, unangepasste und dabei nicht selten auch musikaffine Menschen in der DDR der 1970er und 1980er Jahre zutraf. Jazzfans in Altenburg sahen sich etwa als „Sammelbecken ‚freier‘ Geister und kreativer Köpfe, abseits von […] erwarteten bzw. vorgegebenen Denk- und Lebensstrukturen“.4 In Weimar sprach man von Intellektualität und einem ←14 | 15→Lebensgefühl, das von der Suche nach Freiheiten geprägt war – und war dabei allen Spielarten dieser Musik gegenüber aufgeschlossen.5 Ilmenauer Jazzfans betrachteten ihre Musikbeschäftigung als „intellektuelle Abgrenzung“,6 in Sonneberg hörte und veranstaltete man bevorzugt „nicht-konventionelle“ Musik und las Freud, Kafka, Hermann Hesse und Jack Kerouacs On the Road.7 Durch formale Zugehörigkeiten zu sogenannten „gesellschaftlichen Trägern“ basisfinanziert und legalisiert, organisierten die Klubs sich selbst und ihre Veranstaltungen im Wesentlichen eigenständig – ein Umstand, der beständige und teils weitreichende Konflikte mit lokalen Strukturen des SED-Staats hervorrief, gerade auch weil der Publikumszulauf junger Menschen zum „Jatz“, wie Jazzfans ihre Musik gern in bewusster Abgrenzung zur englischen Aussprache bezeichneten, stets beträchtlich war. In den Jazzkreisen vermutete der Staat generalisiert etwaige subversive und „negativ-dekadente“ Kräfte. So wurde etwa der Jazzklub in Eisenach, als nur ein Beispiel von vielen, über Jahrzehnte hinweg im Rahmen des Operativen Vorgang „Blues“ durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) überwacht. Auch über dutzende andere Klubs berichteten inoffizielle Mitarbeiter (IM) über Mitglieder, Aktivitäten, Netzwerke und politische Einstellungen von Jazzfans. Zum Platten- und Informationsaustausch geknüpfte landesweite und internationale Kontakte über die Mauer hinweg und das weitgehend eigenständige Agieren potenzierten wiederum das generelle staatliche Misstrauen gegenüber den jungen jazzaffinen Menschen und ihren Jazzklubs.

Die Geschichte lokaler Jazzklubs und ihre Bedeutung für die Jazzszene in der DDR insgesamt wurde bislang systematisch wenig beleuchtet. Ein 30-seitiger Beschluss der Sektion Jazz beim Komitee für Unterhaltungskunst (KfU) vom 22.10.1988 beschreibt dabei in ungewöhnlich unideologischer Sprache etwa die eigentlich zentrale Rolle von Jazzfans und ihren Klubs unter der Abschnittsüberschrift „Ein Publikum schafft sich seine Szene selber“ wie folgt: Die Jazzszene in der DDR würde innerhalb des staatlich gelenkten Kulturbetriebes aus ←15 | 16→Theatern, Orchestern und KGDen8 ein „relatives Eigenleben“ führen. Nichts Geringeres als die eigentliche „Basis des Jazzlebens“ in der DDR bildeten dieser Einschätzung nach die „über das ganze Land verstreuten Jazz-Klubs bzw. Interessengemeinschaften […]. Jazz findet in der DDR überall dort statt, wo er durch individuelle Aktivitäten – unter Zuhilfenahme stattlicher [sic.]/gesellschaftlicher Kräfte – durchgesetzt wird. Sonst fände er nicht statt.“9 1979, also bereits knapp zehn Jahre zuvor, proklamierte Rolf Reichelt, renommierter Jazzredakteur bei Radio DDR II, in einem Informationsblatt der Generaldirektion beim Komitee für Unterhaltungskunst, das der Fachzeitschrift Unterhaltungskunst beigelegt war über Jazzklubs in Form von Arbeits- und Interessengemeinschaften ähnlich weitreichende Gedanken:

Diese Arbeitsgemeinschaften sind nicht mit jenen früher bekannten elitären Fan-Clubs vergleichbar – sie sind rührige Organisatoren, deren Initiativen überhaupt erst professionelles Jazzspielen in unserem Lande ermöglichen und alle Unterstützung seitens der zuständigen gesellschaftlichen Organe verdienen. […] [S]o sind es die Jazzklubs, Arbeits- und Interessengemeinschaften unserer Republik, die als Veranstalter ständiger Konzertreihen oder Klubauftritte[n] die gegenwärtige Repräsentanz des Live-Jazz in der DDR entwickeln halfen und die ökonomische Basis der Jazzmusiker bilden.10

Nähert man sich aus soziologischer und kulturhistorischer Perspektive bestehenden wissenschaftlichen Zugängen zum Phänomen Jazz in der DDR, findet man rasch ein breites Begriffsspektrum vor: Verweigerung, Subversion, Nische, Eigensinn, Alternativ-, Gegen- und Subkultur und ebenso ein generell auf Jugendkultur in der DDR bezogenes „kulturelles Aufbegehren“,11 mit dem die Beschäftigung junger Menschen mit Jazz als Forschungsgegenstand zunächst benannt und gleichzeitig politik- und kulturgeschichtlich begründet wird.12 Dass sich Fans und Musiker in Jazzklubs zusammenfanden, war dabei keineswegs ←16 | 17→ein ostdeutsches, sondern ein international verbreitetes Phänomen, das in Grundzügen bereits bis in die 1920er Jahre zurückreicht.13 Ein wesentlicher Unterschied bestand jedoch in den „eigensinnigen“ Bedeutungszuschreibungen des Handelns von Jazzfans in einem nicht-freiheitlichen Gesellschaftssystem: Jazzkultur in der DDR fand stets im Rahmen ideologischer Vorgaben und gesellschaftlichen Strukturen des SED-Staatssozialismus statt. Hier bestanden scheinbar „feste ideologische Determinanten“, die einerseits staatliche Kulturprozesse spätestens ab den 1960er Jahren, das real existierende und überaus breite Spektrum an Kultur und zeitgleich die Handlungsbestrebungen beteiligter kultureller Akteure eingrenzten. Gerd Dietrich formuliert diesen grundlegenden Gedanken wie folgt: „Mit der Entfaltung einer sozialistischen Gesellschaft entstand innerhalb fester ideologischer Determinanten eine in verblüffend stetem Wandel begriffene Kultur-Landschaft, die gleichermaßen um politische Legitimation wie um Anerkennung und Identität rang.“14

Jazz als eine musikalische, soziale und kulturelle Praxis war zu jedem Zeitpunkt der DDR-Geschichte gesellschaftlich, künstlerisch und politisch relevant und manifestierte sichtbare Reibungen zwischen staatlicher Ideologie und den dieser Musik zugeneigten Akteurinnen und Akteure. Für das Untersuchen jener intensiven Beschäftigung junger Menschen mit Jazz in der DDR knüpft dieses Buch grundlegend an das durch Alf Lüdtke entwickelte und von Thomas Lindenberger für unterschiedliche Bereiche der DDR-Gesellschaft differenzierte Konzept des Eigensinns an.15 Eigensinniges Handeln zeigt ihnen nach Grenzen der Diktatur auf, trägt zur Überwindung linearer, dichotomischer Vorstellungen des sozialistischen Alltags bei und eröffnet eine Skala, die Handeln und Einstellungen gegenüber dem vorherrschenden Gesellschaftssystem von „aktiver Verweigerung, Resistenz, egoistischer Nutzung von Möglichkeiten bis zu ←17 | 18→ideologischem Übereifer“ beschreibbar macht.16 Die Beschäftigung mit Jazz in der DDR brachte somit eine Reihe eigensinniger sozialer und kultureller Praktiken hervor, die als Ausdrucksform individueller Lebensvorstellungen dienten und die Alternativen zwischen Individualismus und Kollektivität boten.17

Wie vital und vielseitig dabei die Jazzszene in der DDR im Generellen war, zeigen allein schon Zahlen in einer Ende der 1980er Jahre durch das Komitee für Unterhaltungskunst herausgegebenen Broschüre mit dem Titel Jazzformationen der DDR.18 Sie listet 224 DDR-Amateur- und Berufsjazzformationen mit Kontaktadressen, Besetzungen und jeweiliger Stilistik auf und verzeichnet beinahe jedes erdenkliche Genre, von Avantgarde und Free, über Oldtime, Dixieland, Jazz-Rock und Swing. In politischer Sektions- und Gremienarbeit auf zentraler Ebene, aber auch bezirklich und unter zunehmender Einbeziehung von Szeneakteuren erreichten Berufsjazzmusikerinnen und -jazzmusiker der klassischen Musik in etwa gleichgestellte Konzerthonorare, ausgedehnte Tourneeförderungen und lokale Breitenförderungen auch im Amateurbereich. Der Free-Jazz-Saxo- phonist Ernst-Ludwig Petrowsky karikierte und kritisierte bei einem Vortrag auf einem Kongress der Unterhaltungskunst 1989 den Status der stark vorangeschrittenen Institutionalisierung der DDR-Jazz-Kultur und die ihm nach daraus hervorgehende Haltung einiger seiner Kolleginnen und Kollegen, indem er feststellte, die soziale Sicherheit von DDR-Jazz-Künstlern hätte weniger „Schöpfungskraft“, als eine Art „Rentnergefühl“ hervorgebracht.19 Ein kommerziell erfolgreicher Kollege habe ihm gar gesagt: „Wenn ich keine Probengelder mehr kriege, löse ich die Band auf!“ Gleichzeitig lobte Petrowsky hier die Rolle der „sehr groß gewordenen DDR-Jazzszene“, die durch eine „eigenständige Kreativität weltweit Anerkennung gefunden hat. […]“ und schlussfolgert: „Unsere Regierung nimmt auch die Jazzmusik nicht nur wahr, sondern auch ernst.“20

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Ebenfalls „ernst“ nahm die SED den Jazz und seine Anhängerinnen und Anhänger in den 1950er und 1960er Jahren – allerdings unter vollkommen umgekehrten Vorzeichen. Das Verhältnis von Staat und Jazzszene lässt sich zunächst im historischen Verlauf der DDR holzschnittartig wohl wie folgt umreißen: verfolgt, stigmatisiert, geduldet, beargwöhnt, toleriert, integriert, institutionalisiert und subventioniert.21 Im Gegensatz zu Ansichten, Jazz sei im DDR-Sozialismus (zumindest zeitweise) verboten gewesen, begründeten stets staatlicherseits herrschaftspolitische Zielsetzungen ein starkes Interesse an dieser Musik. Die Entwicklungen des Jazz sollten besser nicht dem Zufall überlassen werden.22 Das Beschreiben von Jazzkultur vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten der DDR gestaltet sich jedoch als differenzierter vorzunehmen, als lediglich die populären Narrative von der „SED gegen den Jazz“ oder dessen proaktivem Umkehrschluss, dem „Jazz gegen die SED“ heranzuziehen. Drei wesentliche und formative Aspekte gilt es hier zu berücksichtigen. Erstens: Generelle Tendenzen der DDR-Kulturpolitik wirkten auch in Bezug auf populäre Musik – einschließlich Jazz – hinsichtlich einer etwaigen eigenen „sozialistischen Unterhaltungskunst“, deren Etablierung als Gegenpart westlicher, „dekadenter“ Musik ein wesentliches kulturpolitisches Unterfangen der SED-Kulturpolitik war. Zweitens fand Jazz, wie andere musikaffine jugendkulturelle Ausprägungen in der DDR, im Rahmen von Aushandlungsprozessen weitreichender Generationskonflikte statt.23 Wie diese von jungen Menschen ausgelebt und im Alltag durch sie verhandelt wurden, zeigt sich wohl am sichtbarsten am Phänomen der Blues-, Tramper- und sog. „Kunden“-Szenen in der DDR in den 1970er und 1980er Jahren.24 Auf ←19 | 20→einer dritten Ebene fand Jazzkultur hinter dem Eisernen Vorhang letztlich auch vor Ort im „transnationalen Kommunikationsraum“ globaler Jazzentwicklungen statt, wie Christian Schmidt-Rost etwa in seiner historischen Betrachtung transnationaler Entwicklungen von Jazz in der DDR und Polen herausarbeitete.25 Emanzipations- und Ausdifferenzierungsprozesse von Jazzpraxis und die Beschäftigung mit dieser Musik folgten auch in der DDR den globalen Aufwertungsprozessen und stilistischen Entwicklungen.26 Systembedingte Konflikte und weitreichende Diskurse um Jazz führten dabei zur Entwicklung spezifischer Strategien seitens der musikaffinen Akteurinnen und Akteure. Nach dem Ende des II. Weltkriegs förderten sowjetische Armee- und Kulturfunktionäre in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) zunächst kulturelle Aktivitäten, einschließlich des Jazz, den sie ideologisch als „Volksmusik der unterdrückten schwarzen Arbeiterklasse der USA“ einordneten.27 Als Legitimationsargument setzte sich dies breit durch und wurde von Fans sowie Musikerinnen und Musikern bis in die 1980er Jahre auch lokal noch heraufbeschworen.

Mit der Staatsgründung der DDR 1949 entfachten sich komplexe kulturelle Aushandlungsprozesse im Spannungsfeld zwischen Sozialistischem Realismus, Formalismus, etwaiger „westlicher Dekadenz“ und einer zu schaffenden sozialistischen Nationalkultur. Am sichtbarsten und möglicherweise folgenreichsten waren Konflikte des Staates mit Fans und Jazzproponenten Mitte der 1950er Jahre in Leipzig und Halle. Zwei Gruppen um Reginald Rudorf (der „Jazz-Marxist“, Leipzig) und Siegfried Schmidt28 (Halle/Saale) gründeten jeweils Jazzklubs, organisierten Vorträge, Konzerte, Festivals und partizipierten sogar an Jazzveranstaltungen und Szenezusammenkünften in der Bundesrepublik. Rudorf hielt landesweit dutzende Vorträge über die Rolle von Jazz in der ←20 | 21→marxistisch-leninistischen Kulturauffassung, produzierte Rundfunk- und Fernsehsendungen über Jazz und versuchte auf strategischen, ideologisch anknüpfenden, oft jedoch auch streitbaren Argumentationswegen den Jazz in der DDR zu legitimieren. Zunehmende Konflikte mit Berliner und Leipziger Kulturfunktionären kumulierten im Verbot beider Jazzklubs, einer zweijährigen Haftstrafe für Rudorf und der Übersiedlung beider Kernakteure in die Bundesrepublik.

Jazz als Live-Kultur gab es in dieser Zeit bereits lokal an zahlreichen Orten der DDR und lokale Ambivalenzen werden auch hier bereits offensichtlich: Während die Jazzklubs in Leipzig, Halle und Dresden Ende der 1950er Jahre auf staatlichen Druck hin aufgelöst wurden, organisierten sich Eisenacher Jazzfreunde im Rahmen der FDJ, im südthüringischen Ilmenau wurden größere Jazz-Konzerte in der Festhalle und später im Rahmen der Hochschul-FDJ veranstaltet. In Arnstadt gründete ein Jazzfreund eine IG Jazz, hielt Vorträge und veranstaltete Konzerte mit Hallenser Bands. In der Universitätsstadt Jena und im Ost-Thüringer Raum entwickelte sich bereits ab den frühen 1950ern eine Traditional-Jazz- und Dixieland-Szene, die DDR-weites Renommee erlangte und sich auch noch nach der Wende fortsetzte. Im November 1963 reiste ein kirchlich angebundener Magdeburger Jazz-Zirkel anlässlich eines (angeblichen) Treffens „aller katholischen Jazzklubs“ der DDR nach Erfurt. Die Staatssicherheit überwachte das Treffen und den Magdeburger Jazzklub sowie seine Fans auf der Suche nach „negativen Elementen“ extensiv, konnte jedoch keinerlei handfeste subversive Tendenzen feststellen.29

Jazz in der DDR fand sich grundlegend im gesellschaftlichen Kontext einer Diktatur wieder, die von der „führenden Rolle“ der regierenden Staatspartei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), bestimmt und gelenkt wurde – zumindest war dies ihr allumfassender Anspruch. Im Kontext des sich verschärfenden Kalten Krieges in den 1950er und 1960er Jahren knüpften Konflikte um Jazz somit direkt an Identitätsfindungsbestrebungen sozialistischer Kulturpolitik und zunehmend eskalierenden Abwehrhaltungen gegenüber jeglichen westlichen Einflüssen an. Im Bereich von Rock, Pop und Jazz wurden diese Positionen oft herausgehoben staatlicherseits verhandelt und exerziert – der tatsächliche Einfluss populärer Musik auf junge Menschen in der DDR blieb dabei jederzeit massiv und ist im Grunde kaum zu überschätzen.30 1962 setzte sich ←21 | 22→etwa ein Weimarer Kulturfunktionär in einem Schreiben an seinen Vorgesetzten umfassend mit dem „Problem des Jazz“ auseinander und appellierte eindringlich, dass auch für den Thüringer Raum dringend „Lösungen“ gefunden werden müssten, die verhindern, dass mittels einer „Jazz-Bewegung“ Versuche unternommen würden, „Auffassungen und Erscheinungsformen der amerikanischen Lebensweise in unsere Jugend hineinzutragen.“31 Zeitgleich gab es an vielen Orten im Thüringer Raum bereits aktive Jazz-Bands, Konzerte sowie eine Handvoll Zusammenschlüsse von Jazzfans in Form von Jazzklubs.

In den 1970er Jahren institutionalisierte die SED-Kulturpolitik zunehmend Strukturen, Institutionen und auch Förderungen für Jazz, die, ebenso wie die Rolle von Jazzklubs für die Entwicklung lokaler Szenen, bislang im Wesentlichen kaum untersucht wurden. Die regulierenden und (zumindest auf dem Papier) weitgehend lenkenden Einflussnahmen auf diese Musikkultur waren stets fest gerahmt in ideologischen Zielsetzungen zur Schaffung und Förderung einer etwaigen „sozialistischen Unterhaltungskunst“. Hochschulausbildungen für Tanz- und Unterhaltungsmusik (TUM), der „Arbeitskreis Jazz“ beim Komitee für Unterhaltungskunst, regionale Gremien wie Bezirks- und Kreisarbeitsgemeinschaften für Tanzmusik (BAG, KAG) wurden eingerichtet, die Konzert- und Gastspieldirektionen (KGD) und zentrale Künstler-Agentur der DDR wurden als „kulturelle Leiteinrichtungen“ mit alleinigem Veranstaltungsmonopol finanziell und gesetzlich neu und umfassend aufgestellt (ausführlich siehe hierzu Kapitel I). Nach und nach traf der Parteiapparat, meist unter dem Rubrum der „Unterhaltungskunst“ bzw. der „Unterhaltungsmusik“ weitreichende gesetzliche Regelungen zur Programmgestaltung (etwa die 60/40-Quotenregelung), zu Honoraren und dem Berufs-, bzw. Amateurstatus von Musikern und Musikerinnen in den Bereichen Jazz und populärer Musik, die im offiziellen Sprachgebrauch meist unter „Tanz- und Unterhaltungsmusik“ zusammengefasst wurden. Auch Jazzklubs, größere Jazz-Festivals und das wachsende Angebot an Live-Konzerten wurden zunehmend geduldet oder – im Falle der beiden letztgenannten Formate – sogar durch lokale staatliche Strukturen organisiert und finanziert.32

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In den 1980er Jahren war Jazz schließlich anerkannter Teil des geförderten Kulturkanons der DDR und die Szene nach innen und außen eine „gut organisierte Minderheit“.33 Die zahlreichen lokalen Jazzorganisatorinnen und -organisatoren nutzen folgerichtig zusätzlich zum Narrativ des Jazz als der Musik des „unterdrückten afroamerikanischen Proletariats Nordamerikas“ als zweite Hauptstrategie die Einordnung von Jazz als legitime „Hochkultur“ und Teil der „sozialistischen Unterhaltungskunst“, die der „Entwicklung des geistig-kulturellen Niveaus“ der Menschen in der staatssozialistischen Republik und ihrem Publikum vor Ort dienen sollte. Argumente im Rahmen politisch gewünschter „Phraseologie“34 nutzten die Jazzfans bewusst eigensinnig und strategisch, denn Motivationen ihres musikbezogenen Handelns waren im Wesentlichen andere. Durch strategisches Nutzen vorhandener Handlungsspielräume behielten sie letztlich die Deutungshoheit, vor allem vor Ort in ihren Wirkungskreisen.

Auch in der Spätphase der DDR versuchten zentrale Strukturen im SED-Staat dabei Jazzkultur noch umfassend zu regulieren. So wurde 1982 auf höchster Ebene versucht, alle nicht-staatlichen – und somit den Großteil aller Jazzinitiativen in der DDR – unter dem Dach des Kulturbundes der DDR zu vereinigen. Dies scheiterte jedoch am konkreten wider- und eigensinnigen Verhalten der anwesenden Akteurinnen und Akteure.35 Den Musikerinnen und Musikern, Jazz-Experten wie auch Organisatorinnen und Organisatoren der Klubs gelang es vor allem in den 1980ern, etliche strukturelle Spielräume herauszuarbeiten, so etwa die Gründung einer DDR-Big-Band und umfassende Tourneeförderungen für etliche Berufsformationen durch Konzert- und Gastspieldirektionen und durch die „Sektion Jazz“36 beim Komitee für Unterhaltungskunst. Für die im Dezember 1985 in Weimar veranstalteten 1. Jazztage der DDR gab der Staat fast 200.000 Mark der DDR aus.37 Das Festival war ein für Fans einmaliges Jazz-Großereignis, bei dem knapp 50 Bands auftraten, die aus über 200 DDR-Jazzmusikern und -musikerinnen unterschiedlichster Stilrichtungen bestanden. ←23 | 24→Dass die Organisation und Durchführung des Festivals dabei „militärisch“ von Berlin aus geplant wurde, über die Köpfe der versierten lokalen Weimarer Jazzorganisatorinnen und -organisatoren vonstatten ging und den Berufsmusikerinnen und -musikern gar mit Berufsverbandsausschluss gedroht wurde, sollten sie nicht am Festival teilnehmen, ist eine von vielen Nuancen der lokalen Jazzgeschichte und macht die anhaltenden Versuche sichtbar, auch die lokalen Kulturinitiativen zentral zu lenken und somit unter etwaige Kontrolle zu bringen.38 Insbesondere für die letzten zwei Dekaden der DDR-Geschichte galt offenbar: Musiker und Fans schufen an der breiten Basis von Jazzkultur Tatsachen, meist justierten die Kulturbehörden oft lediglich der bestehenden gesellschaftlichen Realität nach.39

Gegenüber jener breiten kulturpolitischen Anerkennung von Jazz in den 1970er und 1980er Jahren stehen bei einer Betrachtung lokaler Jazzkultur in der DDR aber ebenso Alltagserfahrungen von Einengung, Repression und verhinderter gesellschaftlicher Partizipation, die nicht immer konträr, sondern häufig parallel verliefen. Vielfach berichteten die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von Repressionen und Widerständen im Zusammenhang mit ihrer Jazzaffinität. Nicht wenigen wurden Berufswege verbaut und die Staatssicherheit protokollierte intimste Kommunikationen und Lebensverhältnisse von Jazzfans im Thüringer Raum. Andere wiederum wurden gefördert, unterstützt und beschützt. Inwiefern Repressionen und Überwachung dabei immer im direkten Zusammenhang mit Jazzmusik selbst standen, ist im Einzelfall kritisch zu untersuchen – die Vorgänge entlarven dennoch gleichzeitig die repressiven Mechanismen und Denkweisen der diktatorischen Machtstrategien der SED, die auch in der späten DDR noch weithin zum Einsatz kamen. Wie sich zeigen wird, wurden hier meist nur vage Feindbildschablonen seitens der Funktionäre und der Staatssicherheit für etwaige nonkonforme Menschen, die sich in Jazzklubs vergemeinschafteten, herangezogen. Diese Aussage soll Repressionserfahrungen von Jazzfans keineswegs herunterspielen, sondern vielmehr eher verdeutlichen, wie die DDR als Erziehungs-, und Kulturdiktatur generalisiert und pauschal bis zum Ende des Staates auf jegliche Form der kulturellen Selbstbetätigung seiner Bürgerinnen und Bürger außerhalb oder „neben“ staatlichen Massenorganisationen argwöhnisch und mitunter repressiv reagierte. Einfache moralische Raster reichen hierfür oftmals nicht aus.40 So schließt sich dieses Buch Tendenzen der ←24 | 25→zeitgeschichtlichen Forschung an, innerhalb derer nicht „einseitig Opfer- oder Tätererfahrungen“ artikuliert werden sollen, sondern deren Gegenstand es ist, „entwicklungsoffen und historisch-kritisch die relative Normalität des Lebens in der DDR [zu] beschreib[en], einer Gesellschaft, die nicht in der diktatorischen Herrschaft aufging und ihren Eigensinn und -wert besaß.“41

Jene relative Normalität des Alltags von Jazzfans und Jazzmusikern, wie auch die sozialistischen Rahmen- und Strukturbedingungen für Jazz am Regionalbeispiel im Raum Thüringen zu untersuchen ist das zentrale Thema des vorliegenden Buches.

1. Forschungsstand

Im historischen Feld und ebenso in der Musikwissenschaft hatte das Interesse am Forschungsgegenstand „Jazz im Staatssozialismus“ in den letzten zehn Jahren Hochkonjunktur. Allein ab den 2010er Jahren entstand eine ganze Reihe von wissenschaftlichen Arbeiten mit unterschiedlichen methodischen Zugängen. Die Bandbreite reicht von chronistischen, auf einzelne Dekaden orientierte Arbeiten mit musikanalytischen Anteilen (Weißenbacher 2018),42 breiten transnationalen historischen Vergleichen zwischen der DDR und der Volksrepu- blik Polen (Schmidt-Rost 2015),43 über akteursbezogene und stilgeschichtliche, komparative, beide Länder (BRD und DDR) übergreifende Zugänge (Pfleiderer 2018, Knauer 2019),44 bis hin zu diskurs- und distinktionsphänomenbezogenen, auf Kulturtheorien von Bourdieu und Foucault basierenden Ansätzen zur Beschreibung von Jazz und Tanz- und Unterhaltungsmusik (TUM) am Beispiel Dresdens im Zeitraum von 1945–1961 (Bretschneider 2018).45 Auch für andere ←25 | 26→Bereiche populärer Musik in der DDR wurden alternative Zugänge unternommen, die etwa praxeologische und auf Jugendkultur bezogene Fragestellungen anhand spezifischer Musikkulturen verfolgen.46 In dieses Feld ordne ich ebenso die umfangreichen transnationalen Vergleichsstudien von Bodo Mrozek (Mrozek 2019) ein.47 Zudem wurden generell Osteuropa48 und speziell auch die Sowjetunion als spannende und breite Forschungsfelder für Jazz identifiziert und historisch untersucht.49 Relevante Arbeiten zu Jazz in der DDR und ebenso der Bundesrepublik, die früher als bisher genannte erschienen, sind etwa die Monographien Uta Poigers (Poiger 2000)50 und Martina Taubenbergers (Taubenberger 2009).51 Das Feld ergänzen zudem biografische (bzw. autobiografische) Publikationen, wie etwa Siegfried Schmidt-Joosʼ Erzählungen und detaillierte Ausarbeitungen über sein Leben und Wirken als Jazzfan in den 1950er Jahren in Halle und in den 1960er Jahren als Musikjournalist in der Bundesrepublik, die zahlreiche neue Erkenntnisse und Perspektiven auf die transnationale Geschichte von Jazz in der DDR und BRD der 1950er und 1960er Jahre ermöglichen (Schmidt-Joos 2016).52

Allein diese Vielfalt zeigt die Relevanz der Thematik und verweist gleichzeitig auf die Komplexität der Geschichte(n), Fragestellungen, Diskurse und Praktiken von Jazz in der DDR und den osteuropäischen Staatssozialismen des 20. Jahrhunderts. Etliche der bisher genannten Arbeiten greifen zudem zurück auf ein bestehendes Portfolio an Erinnerungen und Selbstdokumentationen von ←26 | 27→Szeneakteuren,53 die wissenschaftlichen Ansprüchen genügen oder zumindest wissenschaftlichen Zugang erlauben. 2005 legte Rainer Bratfisch im von ihm herausgegebenen Sammelband Freie Töne weitreichende Überblicke, Beispiele und differenzierte Szeneaspekte zur Jazzentwicklung in der DDR vor. Besonders durch die Integration etlicher Stimmen renommierter und auch lokaler Akteure – Musiker, Fans, Jazzkluborganisatoren, Sammler etc. – und dem Umstand, dass diese ihre Perspektiven, Erinnerungen und Erfahrungen in eigenen Beiträgen eigenständig schildern, ist dieses Buch von erheblichem Wert für das gesamte Forschungsfeld.54

Für das Feld der musikaffinen Jugendkulturforschung in der DDR, ebenfalls im Rahmen einer Regionalstudie, ist für die vorliegende Arbeit zentral auch Peter Wurschis Rennsteigbeat anzuführen, das in Sachen des diktaturgeschichtlichen und jugendkulturellen Zugriffs als wichtige Orientierung und Kontextualisierung des hier gesammelten Materials dient.55 Einen weiteren in der vorliegenden Arbeit methodisch genutzten Zugang schuf Peter Wicke mit Rock und Politik bereits 1996, indem er einerseits die Rolle von Ideologie und Kulturinstitutionen der „DDR-Kulturbürokratie“56 für Rockmusik systematisch verfolgte, in Wirkungs- und Akteursgebundenheiten einordnete und in einem zweiten Schritt kritische Gespräche mit hochrangingen Akteuren des Kulturapparates unterschiedlicher Bereiche führte, die er im Anhang der Publikation schriftlich dokumentierte. Von großer Relevanz für die gegenwärtige Forschung zur Jazzgeschichte der DDR ist die 2020 von Helma Kaldewey vorgelegte, den gesamten Zeitraum der DDR umfassende und thematisch breit aufgestellte Geschichte des Jazz in Ostdeutschland, die auch Aspekte und Akteure lokaler Jazzkultur, im Schwerpunkt jedoch vor allem herrschaftsgeschichtliche und kulturgeschichtliche Genese und transnationale Wirksamkeiten von Ideologien und institutionellen Entwicklungen im Zusammenhang mit Jazz in der DDR in englischer ←27 | 28→Sprache nachzeichnet.57 Im Feld des historischen Zugangs sollte grundsätzlich hier noch einmal die bereits eingangs angeführte, umfassende Arbeit im Rahmen eines transnationalen Vergleichs der Jazzentwicklung in der DDR und der Volksrepublik Polen von Christian Schmidt-Rost genannt werden.58

Das vorliegende Buch setzt nun zeitlich, methodisch sowie auch inhaltlich in „Zwischenräumen“ dieses breiten bestehenden Feldes an Forschungsansätzen an und liefert Erkenntnisse aus Alltags- und Aneignungsperspektiven von Jazzfans und Jazzmusikern in der DDR, die sowohl für das Feld der Alltagsgeschichte als auch das Feld der Musikwissenschaft offene Fragen aufzeigen und beantworten können.

2. Leitfragen und Theorierahmen

Das Forschungsprojekt untersucht, zunächst ausgehend vom übergeordneten Theorierahmen des Kulturtransfers59 in einer methodischen Verknüpfung mit dem alltagshistorischen Konzept des Eigensinns60 Aneignungsformen sowie kulturelle und soziale Praktiken von Jazz im Kulturraum Thüringens zur DDR-Zeit. Den zeitlichen und regionalen Rahmen setzen dabei acht Jazzklubs, die in dieser Region sichtbar und formativ aktiv waren – beginnend mit Eisenach 1959, über Ilmenau in den 1960ern, die Gründung der Jazzklubs in Weimar und Sonneberg Ende der 1970er Jahre und der übrigen vier in Altenburg, Jena, Nordhausen und Erfurt zu Beginn der 1980er Jahre. Der Fokus liegt dabei auf den 1970er und 1980er Jahren. Ziel dieser Arbeit ist es, auf mikrohistorischer Ebene ←28 | 29→akteurszentriert lokale Beschäftigungen mit Jazz im Rahmen von Jazzklubs als musikbezogenen Lebensentwurf im DDR-Staatssozialismus zu verfolgen. Die Beschäftigung mit Jazz galt den befragten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen als alternativer Lebensentwurf und Zwischenraum „neben“, statt „gegen“ das staatssozialistische System. Wie sich jene Lebensentwürfe im Rahmen von Jazzklubs gestalteten, welche Bedeutungen, Wirkungen und Widerstände diese Positionen hervorbrachten, sind zentrale Fragen dieser Forschungsarbeit. Verfolgt werden diese eng an Biografien und Alltagserfahrungen geknüpften Fragestellungen anhand umfassender im Rahmen des Projekts erhobenen lebensgeschichtlichen Erzählungen von Akteurinnen und Akteuren aus dem Thüringer Raum. Eingebettet in historische Prozesse, politische Kontexte und ebenso musikalische Stilentwicklungen ermöglicht dieser, den Theorierahmen des Kulturtransfers um gesellschaftliche Ebenen erweiternde Zugriff einen Blick auf soziale, kulturelle und musikalische Praktiken, die sich um Jazz in der DDR im Raum Thüringen entwickelten. Grundsätzlichen Wert erhält der Forschungsgegenstand „Jazz in der DDR“ dabei im Rahmen des sich erst kürzlich breit ausdifferenzierenden Forschungsfeldes der Jazz Diaspora.61 Jazz Diaspora als grundlegende alternative Betrachtungsperspektive von globaler bzw. glokalisierter Jazzkultur und -geschichte geht vehement gegen etablierte Vorstellungen vor, dass sich Jazz, dessen Ursprünge in den USA im Übergang vom 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts liegen, lediglich über simple Transferprozesse in einer Art „Einbahnstraße“ nach Europa verbreitete und die Praktiken dieser Musik vor Ort nur etwaig passive Abdrücke von „originalem Jazz“ in „diskreten Peripherien“ darstellen – und so letztlich nur als „lokale Unbeholfenheiten“ von Forschenden wahrgenommen werden.62 Tatsächlich entwickelten sich jederzeit an zahlreichen Orten auch in der DDR eigene, lokalisierte Praktiken von Jazz.

An der Schnittstelle von Kulturtransfer und Jazz Diaspora wird das Konzept der Aneignung zum zentralen Schlüsselkonzept der vorliegenden Arbeit. Die Popularmusikforschung entdeckte diesen Bereich kürzlich als Erweiterung des übergeordneten Kulturtransferdiskurses,63 was zu einer musikwissenschaftlichen ←29 | 30→Weiterentwicklung des Begriffs für Jazz auch als historischem Untersuchungsgegenstand ermutigt. Aneignung beschreibt in erster Linie das Sich-Zu-Eigen-Machen, ist maßgeblich ein Prozess des informellen Lernens und steht semantisch durchaus im engen Bedeutungszusammenhang mit „eigenständig“, „eigenwillig“ und „eigensinnig“.64 Mittels dieses musiksystematisch zu verstehenden Begriffs frage ich im Rahmen dieser Arbeit nach erinnerten Lernprozessen, mittels derer sich Fans und Musiker Jazz zu DDR-Zeiten aneigneten sowie nach den individuellen Bedeutungen der Beschäftigung mit Jazz im Rahmen von Jazzklubs.

Ein zweiter Fokus der Arbeit liegt auf lokalen Strukturen und Institutionen, die im Zusammenhang mit Jazzmusik existierten. Inwiefern streckte die DDR-Kulturbürokratie im Rahmen von Regulations- und Institutionalisierungsprozessen ab den 1970er Jahren mittels partizipativer Angebote auch lokal ihre Hand gegenüber Jazzfans und Musikern aus, welche Strategien und etwaige Vor- und Nachteile für beide Seiten brachten diese hervor? Hierzu wurden ebenfalls Zeitzeuginnen und Zeitzeugen zum Alltag der Arbeit in Konzert- und Gastspieldirektionen und bezirklicher jazzbezogener Gremienarbeit biografiebezogen befragt. Ebenso wenig wie Jazzklubs standen auch diese lokalen Kulturstrukturen bislang wenig im Fokus musikhistorischer Forschungen zum Musikleben in der DDR.65 Hier ermöglicht die Lokalperspektive besonders einige, den Kulturbereich eigentlich streng regulierende Strukturen, wie etwa die obligatorischen Einstufungsveranstaltungen für Amateurbands, die 60/40-Programmregelungen oder Wirksamkeiten kultureller Wettbewerbe und Leistungsschauen und insbesondere die Bandbreite an finanziellen Förderungen und Strukturen im Jazzbereich auf ihre tatsächlichen Wirkungen vor Ort zu untersuchen. Inwiefern wurden lokale Jazzfans und Jazzakteure über Bezirks- und Kreisarbeitsgemeinschaften für Tanzmusik in kulturelle Planungsabläufe und Band-Einstufungsveranstaltungen integriert? Welche Rolle spielten hierbei die Konzert- und Gastspieldirektionen (KGD) und wie gelang es diesen, ihre ←30 | 31→Tournee-, Netzwerk- und Konzertförderungen in den 1970er und 1980er Jahren beständig und umfassend auszubauen?

Verhielten sich nicht auch Akteure der staatlichen Institutionen bisweilen „eigensinnig“ – nämlich eher im Sinne realer Kulturförderung als im Sinne ideologischer Beeinflussung? So war etwa der für Jazz zuständige KGD-Mitarbeiter in Erfurt in den 1980er Jahren kaum staatlicher Kontrolleur von lokaler Jazzkultur, sondern vielmehr aktives Jazzklubmitglied und Ermöglicher von Jazzveranstaltungen im Bezirk Erfurt.

In welchem Ausmaß finden sich die vom Historiker Gerd Dietrich formulierten generellen Breitenkultur- und Unterhaltungsmotive der SED-Kulturpolitik auch in den lokalen Kulturstrukturen wieder? Welche Auswirkungen hatten sie auf die Kulturpraxis vor Ort und inwiefern wurde etwa ab den 1970er Jahren ein Verständnis von Unterhaltung als Bedürfnis oder gar „Recht“ auf eigene sozialistische Unterhaltungskunst lokal verhandelt und umgesetzt?66 In Erfurt wurde beispielsweise Mitte der 1970er Jahre – initiiert durch die bezirklichen Kulturstrukturen – eine Big Band gegründet (Orchester Lothar Stuckart)67, die als Bezirkstanzorchester im In- und Ausland eigene Jazz- und TUM-Kultur präsentieren sollte und sich nach kurzer Zeit auf Augenhöhe mit den renommierten professionellen Tanzorchestern in der DDR etablierte.

Ein dritter Aspekt meiner Forschung beschäftigt sich mit musikalischen Praktiken von Jazz und den Aneignungsprozessen von Berufs- und ebenso Amateurjazzmusikern im Thüringer Raum. Grundlegend soll hier gezeigt werden: Die lokalen Musikszenen im Jazzbereich waren überaus vital sowie vielfältig und eine Betrachtung dieser liefert spannende Einblicke in die Basis lokaler DDR-Jazzkultur. Hierzu wurden Musiker aus dem Thüringer Raum umfassend nach ihren musikbezogenen Biografien und Erzählungen ihrer Alltagserlebnisse im Kontext ihrer individuellen Aneignungsprozesse befragt. Bewusst wurde dabei auf etablierte und „interviewgewohnte“ Größen des Jazz in der DDR verzichtet, stattdessen wurden Vertreter unterschiedlicher Jazzstilistiken, sowohl aus dem Amateur- und Berufsstatus, als auch aus verschiedenen Generationen und Orten des Thüringer Raums befragt. So fokussiert die vorliegende Arbeit anhand von Gesprächen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen auch auf die Vielfältigkeit, Qualität und Quantität von Jazzkultur in Thüringen in der Zeit der DDR: Traditional ←31 | 32→und Dixieland, Swing, Straight Ahead, Tanzmusik, Big Band, Rock-Jazz, Avantgarde, Bebop und Free Jazz wurden von Jazzklubmitgliedern gehört, veranstaltet und von Künstlerinnen und Künstlern individuell gelernt und praktiziert.

Ich schließe mich hier grundlegend Rainer Bratfisch an, der in der Einleitung seines vielbeachteten Sammelbands Freie Töne die Position zum Ausdruck bringt: „Über den Jazz ist von den ‚Machern‘, den Musikern, den Veranstaltern, den Plattenleuten, immer mehr zu erfahren als aus Urteilen über sie.“68 Am Regionalbeispiel des Thüringer Raums soll nachgezeichnet und nachvollzogen werden, wie junge Menschen die Beschäftigung mit Jazz als kulturbezogene Möglichkeit von Selbstbestimmung und Eigensinn in der SED-Diktatur nutzten. Mittels des Begriffes der Aneignung, der als informelles und ungesteuertes Lernen den wesentlichen Teil des Erlernens populärer Musik darstellt,69 werden so Aneignungsprozesse und Alltagserfahrungen im Staatssozialismus sichtbar gemacht, die bislang weder Gegenstand einer musikwissenschaftlichen noch einer lokalhistorischen Betrachtung von Jazzkultur in der DDR waren.

3. „Wie es sich wirklich ereignet hat in der DDR mit dem Jazz“ – Quellen, Dokumente und Interviews mit Zeitzeugen und Zeitzeuginnen

Ziel des Forschungsprojektes ist es, Alltagserfahrungen, Spektren von eigensinnigem Handeln und individuelle Aneignungsformen von Jazzfans und Jazzmusikern im DDR-Staatssozialismus greifbar zu machen und ihre sozialen, musikalischen und kulturellen Praktiken exemplarisch am Kulturraum Thüringen dicht zu beschreiben. Die Arbeit ist in drei Kapitel gegliedert: Jazzklubs und Kulturpolitik, Eingriffe der Staatssicherheit in die Thüringer Jazzszenen sowie Jazzmusiker im Raum Thüringen zwischen 1959 und 1989. Der Schwerpunkt liegt auf dem Zeitraum der 1970er und 1980er Jahre, es werden jedoch auch Entwicklungen ab den 1950er Jahren mit einbezogen. Neben der relevanten Forschungsliteratur wurden systematische Recherchen in zentralen und lokalen Archiven, deren Bestände zum Thema oft noch weitgehend unerschlossen sind, durchgeführt – der Behörde des Bundesbeauftragen für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU), dem Landesarchiv Thüringen – Hauptstaatsarchiv Weimar (LATh – HStA Weimar), dem Thüringischen Landesmusikarchiv (HfM, HSA/ThLMA) ←32 | 33→und dem Lippmann+Rau-Musikarchiv in Eisenach. Besondere Aufmerksamkeit wurde den im Wesentlichen privaten und daher bislang unerschlossenen Jazzklubarchiven und Dokumenten des Alltagslebens von Jazzfans und Jazzmusikern entgegengebracht. Vielfach erlaubten mir die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen den Zugang zu persönlichen Dokumenten und Artefakten, deren private Aufzeichnungen, Fotografien und Tonaufnahmen Einblicke in Aneignungsprozesse und Alltagspraktiken von Jazz in der DDR geben.

Über den Zugang lebensgeschichtlicher Interviewforschung mittels der Methode der Oral History70 wurden 21 biografieorientierte Interviews mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aus acht im Untersuchungszeitraum aktiven Jazzklubs im Raum Thüringen geführt.71 Die Arbeit zeigt auf, wie sie sich selbst in ihren Perspektiven und Erinnerungen im Zwischenraum – „neben“, statt „gegen“ – der SED-Diktatur verorteten und im Wesentlichen eigensinnig ihre Musik hörten, praktizierten und vor Ort erlebten. Sechs der Gesprächspartner und eine Gesprächspartnerin gehörten einem Jazzklub im Thüringer Raum zur DDR-Zeit an. Zusätzlich greife ich auf drei biografische Interviews zurück, die ich 2014 im Rahmen meiner Masterarbeit im Umfeld des Jazzklubs Jena führte.72 Zehn Interviewpartner sprachen mit mir vorrangig aus der Musikerperspektive. Weiterhin ←33 | 34→wurden Interviews mit einem ehemaligen für Jazz zuständigen Mitarbeiter und einer ehemaligen Mitarbeiterin der Konzert- und Gastspieldirektion des Bezirkes Erfurt, sowie einem in den 1980er Jahren aktiven professionellen Jazz-Manager aus Erfurt geführt. Zu Beginn der Interviewphase führte ich zudem ein Expertengespräch mit dem renommierten Musikjournalisten Siegfried Schmidt-Joos, der in den 1950er Jahren einen Jazzklub an der Universität Halle gründete. Wie Martina Taubenberger, die einen in etwa vergleichbaren methodischen, da biografie- und Oral-History-orientierten Ansatz für akteurszentriertes Beschreiben der Jazzentwicklung in Teilen der Bundesrepublik Deutschland der 1940er bis 1960er Jahre nutzte, artikulierte, ist diese Art des Zugriffs auf einen historischen Forschungsgegenstand durchaus risikoreich, da Art, Qualität und Verwertbarkeit der aufgezeichneten Erinnerungen sowie der Zugang zur Privatarchiven und Dokumenten im Vorfeld kaum vorhersehbar einzuschätzen sind.73

„Wie es sich wirklich ereignet hat in der DDR mit dem Jazz“,74 kann diese Forschungsarbeit dabei nicht abschließend und umfassend beantworten. Stattdessen möchte sie aus regionalhistorischer und musikwissenschaftlicher Perspektive Erfahrungen von Akteurinnen und Akteuren einer musikaffinen Szene im Thüringer Raum zu DDR-Zeiten nachzeichnen und zeigen, wie sich junge Menschen im Rahmen vorgegebener Strukturen des DDR-Staatssozialismus selbstbestimmt vergemeinschafteten, Jazz erlebten, aneigneten, praktizierten und einen Teil der Jazzkultur in der DDR repräsentieren, der bislang wenig beleuchtet wurde.

Im Folgenden Abschnitt werden die im Rahmen der Arbeit verwendeten wissenschaftlichen Zugänge, Grundbegriffe und Schlüsselkonzepte aufgezeigt sowie notwendige begriffliche Eingrenzungen und Definitionen vorgenommen.

4. Zugänge, Schlüsselkonzepte und Grundbegriffe

4.1. Zugang zum kulturhistorischen Forschungsgegenstand

Für eine Betrachtung von Jazzkultur in den letzten zwei Jahrzehnten der DDR sind zunächst kontextualisierende Fragestellungen nach grundlegenden und spezifischen politischen Rahmenbedingungen für Kunst und Kultur im SED-Staat ←34 | 35→notwendig. Der Historiker Frank Hoffmann zitiert aus einem offiziellen Handbuch DDR in eben diesem Zusammenhang die verfassungsrechtliche Position des Ostdeutschen Staates zu Kunst, Kultur und Volk: „Die Kultur und Kunst der DDR ist eine Kultur und Kunst des Volkes. Im Artikel 18 der DDR-Verfassung wird sie ausdrücklich als eine der Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft bezeichnet.“75 Ein genauer Blick in den Verfassungstext selbst offenbart dabei weitere ideologische Rahmungsversuche dieser sozialistischen Kulturdefinition:

1. Die sozialistische Nationalkultur gehört zu den Grundlagen der sozialistischen Gesellschaft. Die Deutsche Demokratische Republik fördert und schützt die sozialistische Kultur, die dem Frieden, dem Humanismus und der Entwicklung der sozialistischen Menschengemeinschaft dient. Sie bekämpft die imperialistische Unkultur, die der psychologischen Kriegführung und der Herabwürdigung des Menschen dient. Die sozialistische Gesellschaft fördert das kulturvolle Leben der Werktätigen, pflegt alle humanistischen Werte des nationalen Kulturerbes und der Weltkultur und entwickelt die sozialistische Nationalkultur als Sache des ganzen Volkes.

2. Die Förderung der Künste, der künstlerischen Interessen und Fähigkeiten aller Werktätigen und die Verbreitung künstlerischer Werke und Leistungen sind Obliegenheiten des Staates und aller gesellschaftlichen Kräfte. Das künstlerische Schaffen beruht auf einer engen Verbindung der Kulturschaffenden mit dem Leben des Volkes.76

Überspringt man vorerst die martialische Formulierung des dritten Satzes im Abschnitt 1 – dem Bekämpfen der „imperialistische[n] Unkultur“ – könnte, überspitzt interpretiert, hieraus eine in der DDR vorherrschende durchaus fördernde Fokuslegung auf Kunst und Kultur im Generellen abgeleitet werden. Schließlich solle – explizit in der Verfassung verankert – das „kulturvolle Leben“ gefördert werden, die sozialistische Nationalkultur als „Sache des ganzen Volkes“ solle dabei allen gehören und allen gleichermaßen zugänglich sein. Spätestens jedoch der zweite Absatz dieses Verfassungsartikels entlarvt hingegen, ←35 | 36→dass, welche „künstlerischen Interessen und Fähigkeiten“ und deren Verbreitung eine „sozialistische Nationalkultur“ beinhaltete, letztlich der Beurteilung und Verantwortung des Staates und den zugehörigen „gesellschaftlichen Kräfte[n]“ oblag. Ebenso die hier proklamierte „Verbindung der Kulturschaffenden“ mit dem „Leben des Volkes“ lag demnach in der Zuständigkeit der Urteilskraft von SED und Kulturverwaltung. Aus dieser Verfassungsposition heraus beurteilt, wird klar: Kunst und Kultur steuerte, überwachte und bestimmte letztlich die Partei77 – so zumindest der hier deutlich und sichtbar artikulierte, umfassende Machtanspruch.

Jazz war für die SED-Kulturpolitik und zentrale Kulturfunktionäre der 1950er und 1960er Jahre im Wesentlichen „dekadenter“ Ausdruck „westlicher Unterhaltungskultur“.78 Die diffus-ideologische Vorstellung dominierte, dass mittels dieser Musik der „Westen“ versuchen würde, negativen Einfluss auf die sozialistische Jugend zu nehmen. Das Erziehen eben dieser eigenen jungen Bevölkerung hin zu einem sozialistischen Menschenbild war ein zentrales politisches Ziel und galt insofern als eine Grundlage für die strikte Kulturpolitik der SED.79 Zugleich bestand das Ziel, Bürgerinnen und Bürgern – und im Speziellen Arbeiterinnen und Arbeitern – umfassenden Zugang zu Kultur und kulturellen Angeboten zu ermöglichen als zentraler Teilaspekt staatlicher Strategien, um den „neuen sozialistischen Menschen“ zu schaffen.80

Welche Rolle nun genau Jazz in der DDR in diesem Zusammenhang einnehmen sollte, wo und wie er zu sein – oder auch nicht zu sein – hatte, war im Verlauf der Kulturgeschichte der DDR beständiger und allzu oft konfliktärer Gegenstand jugend-, kulturpolitischer und ideologischer Diskurse, die auf ganz unterschiedlichen Ebenen verhandelt wurden. Die historischen Entwicklungen um Jazz im Bezugsrahmen der DDR-Kulturpolitik müssen dabei generell im Kontext des Kalten Kriegs gedacht werden. Positionen von Staat zu Jazz verliefen dabei mal mehr, mal weniger im Einklang genereller und ständig changierender ←36 | 37→„kulturpolitischer Klimaphasen“,81 „Perioden staatlicher Kulturstrategien“82 bzw. „Pendelbewegungen einer Kultur-Diktatur“.83 Liberalisierungen und Zugeständnisse an Kunstschaffende sollten letztlich im Grunde die Akzeptanz des Führungsanspruches der SED und Loyalität seitens der Künstler erwirken. Aus der staatlichen Perspektive wurden immer wieder Lockerungen und Liberalisierungen zugestanden – rein gesetzlich zumindest wurden aber im Grunde die der „sozialistischen Nationalkultur“ verpflichteten Ziele stets weiterverfolgt.84

Angesichts des zentralistischen Systems der DDR scheint es zwar auf den ersten Blick plausibel, kulturpolitische Beschlüsse „von oben“ in einen direkten Wirkzusammenhang mit kulturellen Aktivitäten im Zusammenhang mit Jazz in Bezirken, Städten und Kreisen zu bringen. Das Narrativ von einer die kulturellen Praktiken dominierenden DDR-Kulturideologie ist allerdings nur ein Teilbereich eines größeren Gesamtbildes, dessen Themen und Bewegungsrichtungen ebenso aus der Praxis vor Ort beeinflusst, als dass auch von dieser Seite aus oft tatsächlich Impulse aufgenommen wurden. Rüdiger Ritter identifiziert ein bislang gern und oft bemühtes Klischee, nach dem „sich die Auseinandersetzung um den Jazz in staatssozialistischen Gesellschaften zwischen zwei klar voneinander getrennten Fronten ab[spielte]: auf der einen Seite die meist jugendlichen, begeisterten Jazzenthusiasten, auf der anderen Seite die Obrigkeit, die im Sinne der Aufrechterhaltung der staatssozialistischen Ordnung arbeitete und bemüht war, den Jazz an der kurzen Leine zu halten.“85 Ähnlich greift diesen Gedanken Frank Hoffmann mit seiner Feststellung zu Kunst und Kultur im Sozialismus auf: Ideologische Vorgaben waren keineswegs präzise, was ein „Vermessen dieses Wechselverhältnisses zwischen vorgegebener Linie […], vermuteter kulturpolitischer Vorgabe und der intellektuellen oder künstlerischen Realisierung kultureller Prozesse“ als spannendste Aufgabe einer Kulturgeschichte der DDR erscheinen lässt.86

Beide Lesarten kritisieren letztlich das Denkmodell von simplen „Schwarz-Weiß-Dichotomien“, die etwa künstlerische Betätigungsfelder in einen „offiziellen“ und einen „inoffiziellen“ Part unterteilen – erstem wird allzu voreilig ←37 | 38→„Konformität mit dem ‚System‘“ zugeschrieben, für den zweiten bliebe „mit schraubstockartig zwingender Logik nur die konfrontative Funktion übrig.“87 Besser, so Ritter hier weiter, könne man kulturelles Handeln in Bezug auf Jazz in osteuropäischen Staatssozialismen im Rahmen jeweiliger gesellschaftlicher Gegebenheiten mit der Metapher eines „Spiels“ fassen, in dessen Vollzug und Regelsetzungen beständig Grenzen ausgetestet wurden und ausprobiert wurde, wie weit man gehen konnte. Im staatssozialistischen Alltag liefen so kontinuierlich Aushandlungsprozesse ab, die in der vorliegenden Arbeit anhand einer Regionalstudie nachgezeichnet werden. Erkenntnisse Helma Kaldeweys stimmen dieser Perspektive zu: Der Staat spielte eine aktive Rolle in der Entwicklung dieser Musik und Prozesse stehen dem gängigen Narrativ entgegen, dass Jazz in der DDR im Wesentlichen ausschließlich oppositionell gewesen wäre.88 Ein solches „oppositionelles Modell“,89 das bislang den Diskurs über Jazz in osteuropäischen Staatssozialismen stark dominierte, greift in vielen Fällen zu kurz. Im Falle der Jazzklubs war die Bewegungsrichtung der Dynamiken dabei in den 1970er und 1980er Jahren ausgehend von lokalen Eigeninitiativen lokaler Jazzfans und -musiker bzw. -musikerinnen, die sich zusammenschlossen und allein schon aus diesem Vergemeinschaftungsumstand heraus die Deutungshoheit ihrer Jazzaffinität und Jazzaktivität für sich beanspruchten. Den Akteuren gelang auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen – durch Musiker, Jazzexperten, Fürsprechern und ebenso durch die kulturell engagierte Arbeit in den zahlreichen Jazzklubs in der DDR – mittels jahrzehntelangen Engagements eine Transformation dieser Musik zur anerkannten Hochkultur, die letztlich sogar in Teilen als integrierter Bestandteil einer etwaigen „sozialistischen Nationalkultur“ aufgefasst wurde.90

In der vorliegenden Arbeit schließe ich mich Michel Abeßers Feststellung an, dass eine differenzierte historische Untersuchung von Jazz im Staatssozialismus mehr leisten sollte als eine „simple Gegenüberstellung von jugendlichem ←38 | 39→Dissens und staatlicher repressiver Kulturpolitik“.91 Die Arbeit kombiniert daher theoretische Zugänge und Methoden aus dem Feld der Alltagsgeschichte, Zeitgeschichte und der Musikwissenschaft und strebt mittels des regionalen Zugriffs an, neue und näher an der Praxis des DDR-Musiklebens orientierte Erkenntnisse über soziale und kulturelle Praktiken von Jazzmusik zu erörtern. Dabei gilt, wie etwa Hermann Wentker formuliert, sich von der „Denkfigur der einfachen, politisch-diktatorischen Steuerbarkeit sozialer Prozesse“92 zu lösen: Politische Entscheidungen waren oftmals kein zielgerichtetes Handeln, sondern bestimmt durch Gruppenkonflikte, Interessengegensätze und diverse Bündniskonstellationen.93 Bei diesen Zugängen soll wiederum nicht versucht werden, einen „neuen Forschungstrend zu zementieren“, wie Wentker in seinem Text zu Forschungsdesideraten formuliert – vielmehr ist es ihm zu Folge nach wie vor wichtig, „möglichst viele verschiedene Zugangsweisen zu testen, die dem Gegenstand DDR angemessen sind.“94 Im nach wie vor nicht vollständig ausgeleuchteten Forschungsfeld von Strukturbedingungen politischen Handelns in der DDR, das Funktionsmechanismen des politischen Systems und deren Veränderung untersucht, können und sollten demnach nicht nur „formelle Organisationsstrukturen, sondern auch das informelle Netzwerk-Handeln unterschiedlicher Funktionärsgruppen“ analysiert werden – die zentrale Rolle spielt hier das Vermessen des Verhältnisses von „Individuum und ‚Kollektiv‘“.95

Zum geschichtswissenschaftlichen Rahmen, innerhalb dessen sich diese Forschung verortet, ist zu sagen: Ein Verständnis der DDR als „durchherrschte Gesellschaft“96 wirft Fragen nach der Durchsetzungskraft und der „gesellschaftlichen Eindringtiefe“ der von der SED formulierten Ziele auf.97 Dem gegenüber stehen Überlegungen des Beschreibens gesellschaftlicher Realitäten in der DDR ←39 | 40→als komplexes Aushandlungsfeld von Herrschaft als soziale Praxis und Eigensinn.98 Der staatlich gewollten „Durchorganisiertheit“ von professioneller und freizeitlicher musikbezogener Aktivität standen im Jazzbereich oftmals junge Menschen gegenüber, die selbstwirksam handeln wollten, was ihnen vielfach auch gelang. In Bezug auf Jürgen Kockas Befund über die DDR als „durchherrschte Gesellschaft“, die eine „ubiquitäre politische Herrschaft“ in Alltag und Gesellschaft bis in „ihre kleinsten Verästelungen hinein“ beschreibt, stellt etwa Maik Weichert für den Gesamtbereich der Kultur in der DDR fest, dass der eigentliche Gebrauch und die Dimensionen des Begriffes der Durchherrschung zwar weitgehend zutrifft, da Regulationen und Ideologie „in alle gesellschaftlichen Bereiche hinein reichend“ waren, aber dahingehend zu differenzieren ist, dass dabei dennoch für Akteure oft „Zwischenräume und Nischen“ frei blieben.99 Parallelen zur oft referenzierten Beschreibung der DDR als „Nischengesellschaft“ von Günter Gaus sind naheliegend.100

Weichert weist weiter in seiner hier zitierten umfassenden rechtsgeschichtlichen Betrachtung Kunst und Verfassung in der DDR darauf hin, dass „Künstler sich Autonomie erkämpften und künstlerische Freiräume nutzten, die ihnen durch den staatlichen Kontrollverlust im kulturellen Bereich zur Verfügung standen oder ihnen, spätestens seit den achtziger Jahren, von staatlicher Seite gewährt wurden.“101

„Jazz und Staat“ in der DDR zunächst mit dem Begriff der Ambivalenzen zu beschreiben, trägt nicht zu einer auf Anhieb verständlichen Reduktion der Komplexität von Interessen, Prozessen und historischen Entwicklungen bei. Ambivalenzen als Kategorie aufzuzeigen, ist meiner Auffassung nach jedoch wichtig, um das Gesamtbild differenziert zu betrachten. Allein im Bereich der Kulturpolitik beschreibt Bernfried Höhne, dessen Buchveröffentlichung Jazz in der DDR von 1991 auf Forschungen und Thesen seiner 1987 verteidigten Dissertation fußen, die er während der DDR-Zeit durchführte, sich direkt im vorhergehenden Absatz auf Jazz in der DDR der 1980er beziehend:

[…] die einerseits relativ großzügige Subventionierung und Förderung verschiedener Kultur- und Kunstprojekte, und die andererseits absolute Überwachung kultureller Prozesse durch die Sicherheitsorgane, die daraus resultierenden Repressalien und ←40 | 41→Einschränkungen sind (waren) typisch für die Kulturszene des „real existierenden Sozialismus“.102

Der SED-Staat war stets im Feld der Kultur aktiv und benötigte Kunst und Kultur gar für die Suche, Propagierung und Implementation etwaiger nationaler, „sozialistischer“ Identitäten.103 Zum einen war hier die Pflege von klassischer Kultur von Bedeutung, die Kulturpolitik war zentral und lokal jedoch von Vorstellungsrahmen von Politikern und Funktionären geprägt, die zwar Macht und damit Durchsetzungsfähigkeit besaßen, denen jedoch weitreichend tatsächliche Kenntnisse fehlten. Auch dadurch wurde Kulturpolitik in der Praxis zu „einem schwer durchschaubaren Instrument politischer, ideologischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Interessen“.104 Die maßgebliche gedachte Funktion von Kulturpolitik bestand zwar in einer Implementierung politischer und ideologischer Konstrukte im kulturellen Bereich und der Zielsetzung der Verdrängung konkurrierender Angebote vor allem aus dem Westen – dies gelang jedoch nur punktuell und nie dauerhaft oder gar allumfassend.105

Dennoch rahmten die Diskurse und diffusen ideologischen Vorstellungen der SED die gesellschaftlichen Realitäten für Musiker bzw. Musikerinnen wie auch letztlich für Fans dieser Musik. An der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar konnte man ab 1969 Jazz im Rahmen des Studiengangs Tanz- und Unterhaltungsmusik (TUM) studieren, insofern man über Hochschulreife und fachliche musikalische Voraussetzungen verfügte. Zeitgleich mussten Studierende den Anforderungen in „gesellschaftspolitischer“ Hinsicht gerecht werden, was zentral beinhaltete, jederzeit „alle Forderungen der sozialistischen Gesellschaft vorbildlich zu erfüllen“, wie ein Hinweis für Studienbewerber der Hochschule aus dem Jahr 1983 klarstellte.106

←41 | 42→

In den 1970er Jahren entwickelte sich ein zunehmendes Verständnis von Kultur und Unterhaltung als ein Bedürfnis und gar „Recht“ auf eigene sozialistische Unterhaltungskunst.107 Für Jazzkultur spielte dies auch lokal eine Rolle und wurde verschiedentlich von Akteuren vor Ort genutzt. Grundlegend für diese Arbeit, die sich im Zwischenfeld von staatlichen Auffassungen einer Musikkultur in der DDR und einer musikaffinen Szene beschäftigt, sind die Auffassungen, die der Historiker Frank Hoffmann artikuliert: Kulturpolitik der SED und Kulturgeschichte der DDR sind keinesfalls gleichzusetzen, insbesondere, „weil ein unterschiedlich großer Teil der kulturellen Artefakte der DDR und ihre Schöpfer, also die Künstlerinnen und Künstler, bewusst oder unbewusst die Leitlinien der SED unterlaufen haben.“108 Auch auf Jazz in der DDR, vor allem in den letzten zwei Jahrzehnten des SED-Staates, trifft diese Feststellung in hohem Maße zu. Spricht etwa Katharina Weißenbacher im Titel ihrer auf die unmittelbare Zeit nach dem Mauerbau bezogenen Arbeit noch von „Jazz unter Kontrolle des Systems“109, wird sich zeigen, dass ab den 1970er Jahren ein weitreichender Kontrollverlust des Staates hinsichtlich der Jazzkultur in der DDR stattgefunden hat.

Obwohl ökonomische Ressourcen der DDR begrenzt waren, gab der Staat in Relation zu seiner Einwohnerzahl für Kultur- und Bildungseinrichtungen bereits seit den 1950ern in etwa doppelt so viel Geld für Kultur aus, wie die Bundesrepublik.110 Etliche Maßnahmen, die zunächst mit dem Ziel der Regulation, Einwirkung und Steuerung auf Musikschaffen und -rezeption erdacht wurden, entwickelten sich vor allem in den 1970er und 1980er Jahren im Jazz- und TUM-Bereich tendenziell zu Selbstläufern. Der SED-Staatsapparat schuf kulturpolitische Strukturen auch für Jazz, die – unter erfüllten gesellschaftlichen Voraussetzungen – fördernde und in der Breite zur Partizipation an Gesellschaft und Ideologie einladende Angebote für Jazzakteurinnen und -akteure in der DDR darstellten. Je mehr Szeneakteure dabei in die Gremienarbeit eingebunden wurden, um so größere Handlungsspielräume sondierten diese für Jazzkultur – zentral und auch vor Ort. Diese seitens der Kulturpolitik durchaus strategisch verfolgte Institutionalisierung konnte letztlich nur durch Partizipation von Akteuren der Szenen funktionieren. Frank Hoffmann stellt hierzu fest, dass trotz weitreichender Kontroll-, Zensur- und Verhinderungsmechanismen „die SED vor allem über ihr Instrumentarium der Förderung, Ermutigung, Finanzierung und ←42 | 43→Beeinflussung die Kunst steuerte.“111 Neben kontrollierenden und repressiven Strukturen der Kulturbürokratie112 gab es so eine große Bandbereite an Partizipations-, Bildungs- und Weiterbildungsangeboten, sowie in mancher Hinsicht durchaus vorteilhafte gesetzliche Regulationen für Jazzmusiker bzw. Jazzmusikerinnen, Fans und Veranstalter. Auch regional bzw. an der Basis streckte der sozialistische Staat über eine Bandbreite an kulturellen Partizipationsangeboten im Bereich Jazz und populärer Musik seine Hand aus: Für den Amateurbereich wurden kulturelle Wettbewerbe, wie etwa Wettbewerbe junger Talente, Kreis-, Bezirks- und nationale, nach Genre unterteilte Leistungsschauen, Tanzmusikfeste, Arbeiterfestspiele, bei denen Preise und an Qualifikationsstufen geknüpfte Titel wie „hervorragendes Volkskunstkollektiv der DDR“ verliehen wurden, veranstaltet. Als „qualifiziert“ und somit gesellschaftlich offiziell akzeptiert eingestufte Amateurbands und Musiker bzw. Musikerinnen erhielten die Möglichkeit an Weiterbildungsangeboten bis hin zum Abendstudium an Musikhochschulen teilzunehmen, zudem gab es subventionierte Mentoring-Programme, Förderverträge für Tourneen und Equipmentanschaffung und Konzertsubventionen durch staatliche Kulturstrukturen wie die Konzert- und Gastspieldirektionen und die Bezirkskommissionen für Unterhaltungskunst. In Kreis- und Bezirksarbeitsgemeinschaften für Tanzmusik wurden Musiker und Experten zu einer Art Selbstverwaltung in gewissem Rahmen angeregt und nahmen als Experten oft etwa an Einstufungskommissionen und Gremienberatungen teil.113

1978 findet die Aufwertungstendenz von Jazzkultur in der DDR als Teil der etwaigen „sozialistischen Nationalkultur“ schließlich öffentlichen Ausdruck, als in einem Redebeitrag auf einer Konferenz der Unterhaltungskunst der DDR, die vom 13. bis 14.03.1978 in Berlin stattfand, konstatiert wird:

Jazz ist ein gleichberechtigtes und demzufolge zu förderndes spezifisches musikalisches Genre im Ensemble der Künste der DDR unter dem Aspekt der Befriedigung und gleichzeitigen Entwicklung differenzierter ästhetischer Bedürfnisse der sozialistischen Gesellschaft.114

In Bezug auf Machtdynamiken und Aushandlungen zwischen Staat und Jazzakteuren bietet die geschichtswissenschaftliche Theorie und dessen ←43 | 44→Zugriffsperspektiven der Herrschaft als soziale Praxis115 Erkenntnispotenzial im Rahmen der vorliegenden Arbeit. Im Kern geht sie davon aus, dass soziale Interaktion – besonders in einer Diktatur – durch ständige Aushandlungsprozesse, Ausloten von Grenzen und Möglichkeiten gekennzeichnet ist. Jazz in der DDR war hierfür ein geradezu paradigmatisches Beispiel.

Im Feld der Zeitgeschichte etablierte sich seit etwa 1990 die Erforschung von Erinnerungs- und Gedächtniskulturen – insbesondere in Bezug auf die DDR, bei der sich im Wesentlichen drei „Erinnerungslandschaften“ herausbildeten: „Diktaturgedächtnis“, „Arrangementgedächtnis“ und „Fortschrittgedächtnis“.116 Das erste, das „Diktaturgedächtnis“, stand und steht dabei in der öffentlichen Aufmerksamkeit, da es im Kern auf den Unterdrückungscharakter der SED-Herrschaft und ihrer Überwindung im Zuge der friedlichen Revolution 1989/90 fokussiert.117 Besonders das zweitgenannte, das „Arrangementgedächtnis“, spielt in der vorliegenden Arbeit eine zentrale Rolle. Das Arrangieren beschreibt dabei die Erinnerungen an Lebenserfahrungen mit größerem gesellschaftlichen Tiefgang, da es, ausgehend „vom richtigen Leben im falschen“, die „Mühe des Auskommens mit einer mehrheitlich vielleicht nicht gewollten, aber doch als unabänderlich anerkannten oder für selbstverständliche Normalität gehaltenen Parteiherrschaft“ die Sphären von Macht und Lebenswelt verknüpft.118 Die Thematiken hier betreffen „alltägliche Selbstbehauptung unter widrigen Umständen“, aber auch „eingeforderte[] oder mutwillige[] Mitmachbereitschaft und […] Stolz auf das in der DDR Erreichte.“119

Dietrichs Ausführungen sehe ich als zentrale, übergeordnete Denkkategorie, innerhalb derer das Thema der vorliegenden Arbeit bearbeitet wird. Sie unternimmt dabei den Ansatz, der bestehenden musikwissenschaftlichen und historischen Betrachtungen von Jazz in der DDR eine weitere Perspektive hinzuzufügen, bei der Jazz als soziale und kulturelle Praxis sowohl von Fans als auch von Musikern im Mittelpunkt steht. Die Bearbeitung „kleiner Spezialthemen“ kann letztlich wesentlich dazu beitragen, „schiefe Interpretationen und flotte Thesen gerade zu rücken“120 und somit kann es gelingen, sich von einer bislang ←44 | 45→auch auf diesem Feld dominierenden „politischen Geschichtsschreibung“ zu lösen und Aspekte der Kulturgeschichte der DDR stärker mit kulturwissenschaftlichen und phraseologischen Ansätzen zu untersuchen.121

Einen weiteren Leitgedanken formuliert Maik Weichert in Kunst und Verfassung der DDR. Ihm nach sei bisher im Hauptkorpus vieler Forschungen auszumachen, dass die Geschichte(n) von Dissidenten und etwa auch der Bürgerrechtsbewegung in der DDR als „Erfolgsgeschichte“ zu erzählen, ein weitreichendes Versäumnis darstelle.122 Auch Paul Betts stimmt diesem Gedanken zu und spricht von der irreführenden Überlegung, DDR-Bürger generalisiert lediglich als Opfer ihrer Lebensumstände darzustellen: „People were good at exploiting the system and using socialist civil rights language to extract concessions from state authorities“.123 Auch hier setzt die vorliegende Arbeit an. Sie stilisiert die lebensgeschichtlich interviewten Jazzfans und -musiker dabei nicht pauschal als Dissidenten, sondern zeichnet von ihnen erfolgreich genutzte Handlungs-, Aneignungs- und Deutungsstrategien nach, mittels derer sie sich gegenüber meist diffusen ideologischen Positionen und Strukturbedingungen im Alltagserleben positionierten und vor Ort eigenes kulturelles Handeln durchsetzten.

Die Arbeit legt hierzu den Fokus auf die Jazzgeschichte einer zusammenhängenden Kulturregion mit dem Ziel, historische Beschreibungen von Praktiken, Selbstverortungen und dem Alltag von Jazzfans und Jazzmusikern zu ermöglichen. Selbstwahrnehmungen, Gemeinsamkeiten, Verbindungen, Kontinuitäten, wie auch lokale Unterschiede werden am Gegenstand von acht Jazzklubs im Thüringer Raum herausgearbeitet und dargestellt. Zum Begriff des Thüringer Raums124 muss eingrenzend definiert werden: Mit der Länderreform 1952 und der Überführung dieser in Bezirke wurden die Länder an sich zwar offiziell aufgelöst, aber, so argumentiert Frank Hoffmann, Aspekte dieser „historischen Kulturlandschaften“ blieben weithin bestehen.125 Speziell Thüringen mit seiner Kette an Kultur- und Residenzstädten (Eisenach, Altenburg, Weimar) und historisch-kulturell relevanten Städten wie Erfurt, Gotha, Jena, Meiningen und Rudolstadt sind Beispiele für durch den Staat gepflegte und zugänglich gehaltene historische Stätten. Nach dieser Landesreform 1952 existierte Thüringen staatsrechtlich ←45 | 46→nicht eigenständig, sondern war untergliedert in die Bezirke Erfurt, Suhl und Gera. Der allgemeine Sprachgebrauch sowie das vielfältige historisch-kulturelle Erbe begründete dennoch ein gewisses Fortbestehen der Landesbezeichnung – „Thüringen“ wurde weiterhin auch auf staatlichen Dokumenten verwendet. Die Bevölkerung verteilte sich damals wie heute auf die entlang einer horizontalen Achse liegenden urbanen Räume Eisenach, Gotha, Erfurt, Weimar, Jena und Gera sowie im Süden Sonneberg, Suhl und Ilmenau und Nordhausen an der Grenze zum Harz. Abseits davon finden sich im Wesentlichen ländlich geprägte Orte.126 Die Auflösung der Länderstruktur war maßgeblich begründet mit der Zielsetzung des „zentralen Durchgriffs auf allen Ebenen“ und somit einschließlich des kulturellen Bereichs, was jedoch die Vorstellung der Länder nicht aus dem „kulturellen Bewusstsein“ der Bevölkerung bis zum Ende der DDR verbannte.127

Ein zentraleres Argument für die regionale Eingrenzung ist allerdings die überregionale und informelle Vernetztheit von Jazzfans und Jazzklubs. In der Region Thüringen agierten in den 1980er Jahren am sichtbarsten acht aktive Jazzgemeinschaften in den Städten Eisenach, Ilmenau, Weimar, Sonneberg, Altenburg, Jena, Erfurt und Nordhausen und häufig bestanden zahlreiche Kontakte untereinander.128

Details

Seiten
590
Jahr
2023
ISBN (PDF)
9783631896785
ISBN (ePUB)
9783631896792
ISBN (Hardcover)
9783631890936
DOI
10.3726/b20546
Sprache
Deutsch
Erscheinungsdatum
2023 (März)
Erschienen
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Warszawa, Wien, 2023. 590 S., 2 farb. Abb., 60 s/w Abb., 4 Tab.

Biographische Angaben

Martin Breternitz (Autor:in)

Martin Breternitz studierte Geschichte des Jazz und der populären Musik an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar sowie historische und systematische Musikwissenschaft an der Universität Leipzig. Er war 2017–2021 als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kolleg „Die DDR und die europäischen Diktaturen nach 1945" am Historischen Institut der Friedrich-Schiller- Universität Jena tätig. 2022 wurde er mit der vorliegenden Arbeit an der HfM Weimar und FSU Jena promoviert.

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Titel: Jazzklubs und Jazzmusiker in Thüringen 1959–1989
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