A. Gestrich u.a. (Hrsg.): Zurückbleiben

Titel
Zurückbleiben. Der vernachlässigte Teil der Migrationsgeschichte


Herausgeber
Gestrich, Andreas; Krauss, Marita
Reihe
Stuttgarter Beiträge zur Historischen Migrationsforschung 6
Erschienen
Stuttgart 2007: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
219 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Imke Sturm-Martin, Köln

Wieder einmal treten Migrationshistoriker in die Spuren der Soziologen. Das Thema der Heimatbeziehungen im Migrationszusammenhang sowie des migrationsinduzierten Wandels in Abwanderungsgebieten ist den Gesellschaftsforschern schon lange vertraut und erlebt unter dem Etikett des Transnationalen seit einigen Jahren eine neue Konjunktur. Marita Krauss und Andreas Gestrich haben im vorliegenden Band Beiträge zu diesem Themenfeld aus der deutschen historischen Migrationsforschung von der Antike bis zur Zeitgeschichte versammelt.

Tatsächlich hat sich die historische Migrationsforschung der vergangenen drei Jahrzehnte viele verschiedene Blickwinkel auf das Migrationsgeschehen zu Eigen gemacht. Allerdings standen die Beobachtung der Migration selbst, ihre Motivationen und Ziele, die Reisewege, Rückwanderungen oder das Leben als eingewanderte Minderheit und die politischen Ordnungsversuche dieser Prozesse dabei so sehr im Vordergrund, dass die Zurückgebliebenen und das Zurückgelassene weitgehend aus dem Blickfeld gerieten. Dieser ‚Randgruppe’ des migrationshistorischen Interesses Aufmerksamkeit zu schenken, ist ein wichtiges Vorhaben. Die analytische Kategoriebildung ist angesichts der wenigen vorhandenen Studien noch sehr schwierig. Wer ist dem Kreis der Zurückgebliebenen zuzurechnen, was gehört zum Feld des Zurückgelassenen und für wie lange? Einen breiten Zugang für die Analyse eröffnet der vom Weggang ausgelöste Wandel. In den hier präsentierten Beiträgen zeigt er sich in ganz unterschiedlicher Gestalt: Von zurückgebliebenen Ehefrauen in der Rolle als Finanzverwalterinnen für ihre kreuzfahrenden Ehemänner (Sabine Geldsetzer), über die emotionale Trennungsbewältigung bei den zurückgelassenen Familienangehörigen jüdischer Emigranten (Marita Krauss über die NS-Zeit), von den Geschlechterbeziehungen in Emigrationsdörfern, in denen das Geschlechtergleichgewicht durch die Abwanderung nachhaltig gestört wurde, bis zur Bewältigung des Unbeweglichkeitsstigmas bei potentiellen Emigranten selbst, die sich zum Bleiben entschlossen haben. Die derart umrissene Perspektive lässt dann doch Zweifel aufkommen, ob es sich hier um einen ‚Teil der Migrationsgeschichte’ handelt, wie der Untertitel suggeriert.

Gestrich und Kraus haben sich für die Kategorien ‚Abschiednehmen’, ‚Zurückbleibende Frauen und Familien’ und ‚Migration und gesellschaftliche Umwandlung’ entschieden und versammeln unter diesen Überschriften insgesamt acht Beiträge. Der zeitliche Rahmen des epochenübergreifenden Bandes ist denkbar breit und reicht von der römischen Expansionspolitik im 3. und 2. Jahrhundert vor Christus bis zur DDR-Geschichte. Auch die Ansätze zeigen eine große Vielfältigkeit: Wir finden die Mikroperspektive in einem Dorf in der Eifel im 19. Jahrhundert (Claus Rech) und die Makroperspektive in der emigrationshistorischen Deutung der Krise der römischen Republik (Elisabeth Herrmann-Otto). Ein kunsthistorischer Beitrag beschreibt die Abbildung des Abschiednehmens im 19. Jahrhundert (Ortwin Pelc). Im zeitgenössischen Bild sind es wiederkehrende Symbole, die zurück gelassen werden: Die Kirche (oft mit Friedhof), der mit laufende Hund, die weinenden Familienangehörigen. Doch aus den meisten der Beiträge des vorliegenden Bandes treten uns Einzelschicksale entgegen, die nicht zu verallgemeinern sind: Entsetzte Eltern, die von ihren Kindern Abschied nehmen, um sie vor der Verfolgung durch die Nazis zu schützen (Annette Puckhaber), potentielle Kreuzfahrer im 13. Jahrhundert, die das beim 5. Kreuzzug nun weidlich bekannte Risiko scheuen und doch lieber zu Hause bleiben (Brigitte Kasten), oder das lebenslange Hadern des in der DDR zurückgebliebenen, international ambitionierten und renommierten Naturwissenschaftlers Werner Hartmann, der sich frustriert seiner Lage der reglementierten Kontakte fügen muss (Reinhard Buthmann).

Der Blick auf das Einzelschicksal zeigt, wie individuell nicht nur die Migrationserfahrung, sondern auch die Erfahrung des Zurückbleibens ist. Fragen wir abseits der Emotionengeschichte nach epochenübergreifenden Gesetzmäßigkeiten oder anthropologischen Konstanten, werden wir von den Herausgebern allerdings im Stich gelassen. Krauss und Gestrich verweisen in diesem Zusammenhang auf die vielen noch nicht bearbeiteten Themen des jungen Forschungsfeldes. Die Lektüre des vorliegenden Bandes mag zu neuen Forschungsinteressen stimulieren, sicher regt er an zum Nachdenken über die Ränder und Grenzen der Migrationsgeschichte. In diesem Sinne ist ihm eine breite Leserschaft aus allen historischen Teilgebieten zu wünschen.