H. Gutberger: Bevölkerung, Ungleichheit, Auslese

Titel
Bevölkerung, Ungleichheit, Auslese. Perspektiven sozialwissenschaftlicher Bevölkerungsforschung in Deutschland zwischen 1930 und 1960


Autor(en)
Gutberger, Hansjörg
Erschienen
Anzahl Seiten
199 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Engberding, Institut für Soziologie, TU-Berlin

Hansjörg Gutberger hat mit seiner Schrift „Bevölkerung, Ungleichheit, Auslese“ die Aufarbeitungsbemühungen der deutschen Bevölkerungswissenschaft um neue Betrachtungsweisen und Ergebnisse bereichert. Seine Studie, die im Rahmen des seit 2001 arbeitenden DFG-Schwerpunktprogramms „Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts ‚Bevölkerung’ vor, im und nach dem Dritten Reich“ entstand, zeigt aber auch die Notwendigkeit weiterführender wissenschaftshistorischer Anstrengungen auf diesem Feld, da zahlreiche Forschungsdesiderate sichtbar gemacht werden.

Der Untersuchungszeitraum, in dem die sich gerade formierende synthetische Disziplin ‚sozialwissenschaftlicher Bevölkerungswissenschaft’ betrachtet wird, umfasst den Zeitraum von 1930 bis 1950. Gutbergers Arbeit ist deshalb von Bedeutung, weil sie eine deutliche Forschungslücke schließt. Die bisher vorliegenden Untersuchungen zu diesem Thema behandeln nämlich weitgehend nur die ältere und internationale Geschichte der Bevölkerungswissenschaft. Zudem distanziert er sich von Ansichten, die eine systematische Neuformierung der Bevölkerungswissenschaft in Deutschland nach 1945 behaupten.1

Gutberger untersucht die Verflechtungen von Bevölkerungsentwicklung und Sozialstruktur, um herauszufinden, wie soziale Ungleichheit „in der zeitgenössischen Bevölkerungswissenschaft wahrgenommen“ wurde (S. 3). Analytisch unterscheidet er dafür zwischen den soziologischen und den demographischen Themenfeldern, Lehrmeinungen und Fragestellungen (S. 26). Demzufolge waren in der sozialwissenschaftlichen Bevölkerungswissenschaft die demographische Seite der differentiellen Fruchtbarkeit und die soziologische der sozialökonomischen Umschichtungsprozesse miteinander verknüpft. Aus der sozialwissenschaftlicher Bevölkerungswissenschaft zwischen den 1930er- und 1950er-Jahren hat er fünf Wissenschaftsstandorte bzw. Denkstile ausgewählt: die Leipziger Bevölkerungsforschung, die Frankfurter (Sozial-)Statistik, die Kieler Demographie, die Gruppe um Friedrich Burgdörfer im Statistischen Reichsamt (Berlin)/ im Bayerischen Statistischen Landesamt und die Breslauer Sozialanthropologen. Die Selektion begründet er damit, dass dort die sozialen Seiten der Bevölkerungsvorgänge untersucht wurden. Zudem verweist er auf die personelle Nähe der in Betracht kommenden Forscher mit der Soziologie (S. 6). Feinanalysen der von prominenten Fachvertretern verfassten wissenschaftlichen Publikationen sollen sodann die Ungleichheitsproblematiken aufscheinen lassen (S. 27-28). Methodisch baut Gutberger auf die Denkstilanalyse des polnischen Mediziners und Wissenschaftstheoretikers Ludwik Fleck auf.2 So gelingt es ihm, die jeweils eigentümlichen Denkstile sozialwissenschaftlicher Bevölkerungsforschung der ausgewählten Wissenschaftsstandorte darzustellen.

Nach einer breiten thematischen und methodischen Einführung widmet Gutberger den einzelnen Fein- und Denkstilanalysen jeweils ein eigenes Kapitel. In einer Gesamtschau aller Denkstile im letzten Kapitel folgert er schlüssig, dass es keinen einheitlichen Denkstil für die gesamte sozialwissenschaftliche Bevölkerungsforschung gab. Er resümiert für die Periode des Nationalsozialismus: „[E]rst die Aufnahme sozialer Unterscheidungsmerkmale zwischen Subpopulationen versprach die Steuerungsfähigkeit des Staates auf die demographische Entwicklung zu erhöhen.“ (S. 157) Nach 1945 ging es primär darum „etwas über die Bedeutung demographischer Vorgänge für den Erneuerungsprozess der Gesellschaft zu erfahren“ (S. 157). Weitgehende Übereinstimmung unter den Denkkollektiven bestand jedoch in Strategien der Legitimierung sozialer Ungleichheit und der Verwendung des NS-Rassenvokabulars. Dies nicht zuletzt, um sozialtechnisch und regulativ eingreifen zu können, wobei nach Ansicht Gutbergers die politische Steuerung der Berufswahl in Verschränkung mit Bildung das wichtigste Feld sozialwissenschaftlicher Bevölkerungsforschung war.

Mehrfach untersucht Gutberger Vertreter der Sozialanthropologie (Karl V. Müller, Hans W. Jürgens, „Breslauer Schule“). Es scheint, dass er damit die sozialwissenschaftliche Bevölkerungsforschung von der Sozialanthropologie absetzen möchte. Stehen doch die von ihm vorgestellten Sozialanthropologen exemplarisch für ein auf sozialbiologischer Grundlage regulativ eingreifendes Wissenschaftsverständnis. Gutberger unterscheidet die „Breslauer Schule“ (Ilse Schwidetzky, Egon Freiherr von Eickstedt) von den anderen Denkstilen wegen deren Verwendung einer spezifischen Rassenterminologie (S. 149). Von Eickstedt und Schwidetzky intendierten, auf der Grundlage eines statischen und ständisch-aristokratischen Gesellschaftsbildes die Bevölkerungsbewegungen administrativ zu beeinflussen (S. 149, S. 163).

Die Zurechnung des Sozialtechnologen (S. 78) Karl V. Müller zu dem „Leipziger Denkstil“ erweckt den Eindruck der Willkür. Die Entscheidung begründet Gutberger damit, dass ihm ein Vergleich der Forschungsarbeit von Müller mit der der Gruppe um Gunther Ipsen und Hans Freyer reizvoll erscheint. Müller, Ipsen und Freyer waren sich vor dem Nationalsozialismus nicht begegnet und ob ihre Kontakte während des NS und danach für die Konstituierung eines Denkstils ausreichen ist mehr als fraglich (S. 76-77). Freyer war Erstgutachter in Müllers Habilitationsverfahren (1936-37) und der Kontakt zwischen Ipsen und Freyer in dieser Zeit war eher formell als inhaltlich.

Auf das gesamte Spektrum der fünf Denkstile soll hier nicht rekurriert werden. Das breite Angebot an Themen und Inhalten geht jedoch beispielsweise in der Darstellung der „Frankfurter (Sozial-)Statistik“ auf Kosten interessanter und detaillierter Untersuchungsergebnisse. Allein um den Frankfurter Professor für Statistik Paul Flaskämper konstruiert Gutberger einen eigenständigen Denkstil. Flaskämpers Konzeption der Bevölkerungsstatistik als eine „Lehre von den sozialen Schichten und den Beziehungen zwischen ihnen, eine[r] Disziplin, die mit der Soziologie verwandt oder teilweise sogar identisch ist“ (S. 47), hatte bereits dessen Vorgänger auf dem Lehrstuhl für Statistik Franz Žižek vorgegeben. Žižek sah in der Bevölkerungsstatistik das verbindende Element zwischen soziologischer und statistischer Wissenschaft.3

Größte Aufmerksamkeit schenkt Gutberger der „Kieler Demographie“ obgleich auch hier Hinweise auf die Anwendung der Denkstilanalyse und entsprechende Begründungen für die Konstruktion dieses Denkstils ausbleiben. Josef Ehmer hat bereits auf einige Zusammenhänge der Bevölkerungslehre Gerhart Mackenroths mit der von Ipsens hingewiesen 4, die Gutberger jedoch nicht verarbeitet. In der „Kieler Demographie“ (Gerhard Mackenroth, Theodor Geiger, Rudolf Heberle) war vielmehr die Problematik der sozialen Zirkulation in den sozialen Schichten denkstilprägend (S. 120). Die besagt, dass hierarchische Schichten mit unterschiedlichen Geburtenverhältnissen sich gegenseitig ergänzen (S. 120). Diese Tatsache macht aber aus Geiger, der anfangs Soziologie in Braunschweig lehrte und 1933 emigrierte, noch keinen „Kieler Soziologen“ (S. 122). Heberle wiederum beschäftigte sich nicht primär mit Problemen der sozialen Zirkulation, er versuchte Migration und demographische Prozesse über die Verhaltensweisen Einzelner zu erklären. Nach Gutberger stimmten die drei genannten Protagonisten des Kieler Denkstils darin überein, dass sie Schichten als autogenetisch, das heißt sich selbst erzeugend und nicht subsumptiv also weitestgehend hierarchisch geordnet verstanden wissen wollten (S. 163). Zum Kieler Denkstil rechnet Gutberger außerdem, wie er sie nennt, die ‚Heberle und Mackenroth Schülerin Hilde Wander’ (S. 146). Allerdings müsste noch näher untersucht werden, inwiefern zwischen Wander und Heberle ein ausgeprägtes Lehrer-Schülerin Verhältnis bestand; Wander war 1938 als Heberle emigrierte 23 Jahre alt und legte ihre Dissertation sechs Jahre später vor.

Insgesamt erhebt sich bei der Lektüre des Buchs von Hansjörg Gutberger der Eindruck, dass die Anwendung der Denkstilanalyse Flecks nicht stringent erfolgte, so dass man sich auch fragen kann, ob nicht auch andere Denkstilkonstruktionen möglich gewesen wären. Die von Gutberger sehr in die breite gehende Studie zeigt dafür einerseits das weite Feld sozialwissenschaftlicher Beschäftigung mit Bevölkerungsproblemen im und nach dem „Dritten Reich“ auf. Andererseits konnte diese Breite jedoch nur zugunsten eines teilweise unvollständigen Tiefenblicks erkauft werden, was darauf verweist, dass noch einige Arbeit für ein zufrieden stellendes Bild von der (sozialwissenschaftlichen) Bevölkerungsforschung im 20. Jahrhundert geleistet werden muss. Hansjörg Gutberger ist auf diesem Weg ein Stück weit fortgeschritten und hat für die weitere Forschung einige Ansätze vorgegeben und Wissenslücken aufgezeigt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Mackensen, Rainer, Ursprünge, Arten und Folgen des Konstrukts "Bevölkerung" vor dem "Dritten Reich", in: Mackensen, Rainer (Hrsg.), Bevölkerungslehre und Bevölkerungspolitik vor 1933, Opladen 2002, S. 27-38. Sokoll, Thomas, Historische Demographie und historische Sozialwissenschaft, in: Archiv für Sozialgeschichte 32 (1992), S. 405-425.
2 Fleck, Ludwik, Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre vom Denkstil und Denkkollektiv, Frankfurt am Main 1980.
3 Žižek, Franz, Soziologie und Statistik, Leipzig 1912.
4 Ehmer, Josef, Eine deutsche Bevölkerungsgeschichte?, in: Demographische Informationen 93 (1992), S. 60-70.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension