Titel
Die Poesie des Feldes. Beiträge zur ethnographischen Kulturanalyse


Herausgeber
Eisch, Katharina; Hamm, Marion
Reihe
Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 93
Anzahl Seiten
337 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Dr. Brigitta Schmidt-Lauber, Institut für Volkskunde, Universität Hamburg

Der Sammelband „Die Poesie des Feldes“ ist Utz Jeggle zum 60. Geburtstag gewidmet, „überreicht werden soll eine Art akademisches Poesiealbum“ mit „persönlichen Forschungs- und Werkstattberichten“ (S. 11). Schülerinnen und Schüler, Kollegen und Freunde bieten Einblick in ihre unterschiedlichen Arbeitsfelder und bilden in ihrer Breite die vielfältigen Interessenfelder des Jubilars ab. Thematisch dominieren Fragen nach dem Umgang mit dem Nationalsozialismus, nach der Rolle des Judentums und der jüdischen Kultur, der Gedächtniskultur oder der Sprache des Körpers. Vom Arbeitsfeld Museum ist ebenso zu lesen wie vom Journalismus, Fotografie und Archivstudium werden thematisiert, aber auch Einblicke in Studium und Forschungsarbeit am Ludwig-Uhland-Institut in Tübingen gewährt. Allem voran fokussieren die 17 Beiträge – wie schon der Untertitel ankündigt – Beispiele der ethnographischen Kulturanalyse und führen damit ein besonderes Anliegen Utz Jeggles fort: Die methodische Reflexion eigener Erfahrungen im Feld kennzeichnet Utz Jeggles Lehre und Forschung in besonderem Maß. So gesehen kann der Sammelband als eine Edition in Nachfolge des 1984 erschienen, von Utz Jeggle herausgegebenen Buches mit dem schlichten Titel „Feldforschung“ in derselben Reihe angesehen werden, mit dem der Herausgeber nicht nur die empirische Methode für das Fach Volkskunde/Europäische Ethnologie lancierte, sondern vor allem den reflexiven Zugang mit Nachdruck forderte. In Übereinstimmung mit George Devereux hat die Subjektivität des Forschenden in dieser Konzeption einen zentralen Stellenwert und ist theoretisch begründete Erkenntnisquelle.

Genau diese Signatur kennzeichnet auch die meisten der hier versammelten Artikel. Der Titel „Poesie des Feldes“, der sich auf die verschiedenen Ebenen der Wahrnehmung, Interpretation sowie Textualisierung einer Feldforschung bezieht, ist dabei Programm: Er soll die Spannung zwischen „empirischem Ernst“ und „kreativer Leichtigkeit“ (S. 12) zum Ausdruck bringen.

Die Beiträge sind nach den drei Themenschwerpunkten „Orte und Begegnungen“, „Deutungswege“ und „Praxisfelder“ gegliedert. Nach einer theoretisch fundierten Einführung, in der Katharina Eisch und Marion Hamm in der Tradition Utz Jeggles die Prämissen und Implikationen seiner Feldforschungskonzeption in die internationale Textualisierungs-Debatte der 1980er Jahre (Stichwort: „Writing-Culture“), die postmoderne Theoriediskussion der 1990er Jahre sowie das methodische Programm einer sogenannten „multi-sited-ethnography“ einbinden, folgen Beiträge aus der Forschungs- und Arbeitspraxis.

Den ersten Teil des Sammelbandes über Orte und Begegnungen eröffnet Franziska Becker mit einem einfühlsamen Einblick in die politisierte Eigendynamik ihres Forschungsfeldes: Im Laufe ihrer Untersuchung eines Berliner Wohnheimes für jüdische Kontingentflüchtlinge aus Russland gerät ihr Rollenverständnis als „neutrale“ Beobachterin zusehends ins Wanken und kommen gegensätzliche Interessen sowie Funktionalisierungsversuche der unterschiedlichen Parteien (Heimbewohner, Heimleitung, Ministerium und Behörde, Funktionäre der jüdischen Gemeinde) zum Tragen. Dadurch eröffnen sich neue Perspektiven auf ihr Forschungsfeld, mit denen die Vorstellung der offiziellen Einwanderungspolitik als Wiedergutmachung für jüdische NS-Opfer nicht länger standhält. Auch in den folgenden Beiträgen stehen Begegnungen im Feld im Vordergrund. Gudrun Silberzahn-Jandt informiert über ihre Interviews mit Krankenschwestern zum Thema Ekel beim Umgang mit Kranken. Mirjam Freytag startet den Versuch, die Methode der kommunikativen Validierung als Korrektiv ihrer Interpretationen der Erinnerungen von Vietnamesen einzusetzen, die in der ehemaligen DDR aufwuchsen, um zu abgesicherten Deutungen zu kommen. Auch die emigrierte tschechische Kulturwissenschaftlerin Libuše Volbrachtová plädiert für qualitative Methoden der Feldforschung und deren genaue Reflexion. Bei ihrer Untersuchung der Akkulturation von sudetendeutschen Vertriebenen in Süddeutschland verwunderte sie vor allem, dass nicht das gemeinsame Emigrantenschicksal, sondern die „ethnische“ Differenz der Interaktionspartner den Ton der Forschungsgespräche leitete. Und Joachim Schlör positioniert sich als Akademiker am Potsdamer Moses-Mendelssohn Zentrum, nicht ohne allgemein die Bedeutungen des Judentums in unserer Gesellschaft zu reflektieren.

Der zweite Teil des Bandes führt diese selbstreflexive Sichtweise fort und fokussiert besonders die unterschiedlichen Deutungswege, bei denen auch Irritationen im Feld als Erkenntnisinstrument zu nutzen sind. Elisabeth Timm bietet anhand ihrer Erhebungen über die Erinnerungen an die Reutlinger Geiselerschießung 1945 ein nachvollziehbares Beispiel eines Forschungsprozesses, der zunächst vom „Skript im Kopf der Forscherin“, so der Untertitel ihres Beitrages, begrenzt war und erst durch die Beharrlichkeit „des Feldes“ zu neuen, angemessenen Lesarten des zu erforschenden gesellschaftlichen Konfliktes führte. Ganz ähnlich beschreibt auch Klaus Schönberger, wie sich seine eigenen Vorannahmen und Ausgrenzungen forschungshemmend auf seine Erhebungen zu Internetnutzern auswirkten: Auf der Suche nach dem „Normalnutzer“ vernachlässigte Schönberger zunächst versierte Computerexperten aus seinem Freundeskreis. Erst mit dem Einbezug dieser Gruppe von Nutzern gelangte er zu dem Ergebnis, dass unterschiedliche Konzepte der Lebensführung verantwortlich für differente Internet-Nutzerpraxen sind und weniger sozial-strukturelle Unterschiede – womit der Autor zugleich weiterreichende Erkenntnisse für die Technikkulturforschung bietet. Geblendet von ihren eigenen romantischen Phantasien präsentiert sich Marion Hamm in ihrem Beitrag über das kollektive Gedächtnis deutschjüdischer Emigranten in London, dessen „Poesie“ sie zu dechiffrieren lernte. Zwei Beiträge greifen explizit das hier bereits erkennbare Anliegen Utz Jeggles auf, psychologische und psychoanalytische Methoden in die kulturwissenschaftliche Forschung nutzbringend einzubinden: Vom Versuch, das therapeutische Verfahren des Psychodramas einzusetzen, um Blockaden im Forschungsprozess zu lösen und zum emphatischen Einfühlen zu gelangen, schreibt Susanne Spülbeck. Und die Supervisorin Barbara Wittel-Fischer berichtet von einer unter ihrer Leitung seit 1998 auch am Tübinger Ludwig-Uhland-Institut aktiven Supervisionsgruppe von Forscherinnen und Forschern , die „die selbstbeobachtende Begleitung“ (Maya Nadig, S. 142) als methodisches Werkzeug nutzt und zu neuen Deutungen zu führen vermag – ein Verfahren, dessen Möglichkeiten und Relevanz aus der Ethnologie besonders durch die Arbeit von Maya Nadig und Mario Erdheim geläufig ist.

Der letzte Teil des Buchs vereint verschiedene „Praxisfelder“ wie das interkulturelle Konfliktmanagement (Anne Dieterich), das Museum (Andrea Hauser), den Journalismus (Wolfgang Alber) oder das Archiv (Kaspar Maase) und macht auf spezifische Methoden wie die visuelle Methode (Ulrich Hägele) oder die Kurzzeitethnographie (Katharina Eisch) aufmerksam. Mit ihrem allgemeinen Anliegen, generelle kulturwissenschaftliche Arbeits- und Forschungsfelder zu beleuchten, bricht gerade dieser dritte „Praxis“-Teil mit der bisherigen Aneinanderreihung beispielhafter Forschungs- und Praxisfelder. So bietet Ulrich Hägele mit dem Terminus „Fotolore“ eine Begriffsprägung in Anlehnung und Erweiterung von Arvid Bringéus Begriff der „Bildlore“, die im Fach allgemeine Aufmerksamkeit verdient. Fotolore umfasst den traditionellen (dokumentarischen und illustrativen) Umgang mit Fotografien im Fach und berücksichtigt dabei „kulturell-, sozial- oder gesellschaftlich-visuelle Aspekte sowie ikonologische Fragestellungen“ (S. 319). Sie schließt das fotografische Bild, das archivalische Artefakt und die narrative Befragung mit ein. Mit seiner grundlegenden Erörterung über die Relevanz und Funktion der visuellen Methode in der Volkskunde beendet Hägele den Sammelband, wobei er geläufige Nutzungsweisen von Fotografien im Fach vor Augen führt, weitere Einsatzmöglichkeiten eröffnet und zentrale Fragen der Quellenkritik diskutiert. Auch die für den ganzen Band relevante Frage des Verhältnisses von Fiktionalität und Authentizität wird hier explizit erörtert. Schließlich liefert der Artikel fachgeschichtliche Rück- und Ausblicke, womit er insgesamt breite Aufmerksamkeit verdient.

Plausibel führt Andrea Hauser die Bedeutung der subjektiven Dimension der Museumsarbeit vor Augen und macht damit auf ein Defizit im Fach aufmerksam. Auch für die Museumsarbeit bietet der Gang ins Feld fruchtbare Erkenntnisse. Zu Recht moniert Wolfgang Alber in seiner Suche nach Parallelen und Unterschieden zwischen (kultur-)wissenschaftlichem und journalistischem Schreiben die geringe Bedeutung, die das Schreiben hierzulande wissenschaftlich erhält. Katharina Eisch liefert eine „dichte Beschreibung“ einer viertägigen Kurzzeitethnographie in einer britischen Public School, die das Vorurteil über kurzfristig angelegte Forschungsaufenthalte widerlegt. Auf der Suche nach einer passenden Fenstergestaltung für die Schulkirche, die der Freund der Autorin anzufertigen hatte, illustriert die Autorin, wie der offen angelegte Forschungsprozess über thematische Verdichtungen und Wiederholungen Ergebnisse aufdrängt und die Struktur und Dynamik des Feldes zu spiegeln vermag.

Ein ganz anderes „Feld“ beschreitet Kaspar Maase. Am Beispiel der Rekonstruktion und Interpretation des Schundkampfes im deutschen Kaiserreich illustriert er die Möglichkeiten und Grenzen einer „historischen Ethnographie“ als „gerade nicht holistische Erfassung einer Lebenswelt und Rekonstruktion ihrer tragenden Sinnstrukturen. Sondern punktuelle Korrektur gängiger Außendeutungen“ (S. 261). Dabei begnügt sich Maase nicht mit lesenswerten Reflexionen über die historische Forschung, sondern positioniert sich zugleich in Fragen der Textualisierung der Forschungsergebnisse: Im Wissen um die Relativität und Vielfältigkeit von Wahrheiten soll ein lesbarer Text entstehen, dessen Autor seine Leser weder mit seinen eigenen methodischen Überlegungen und Problemen „belästigen“ („außer in einem Methodenreflexionsaufsatz“, S. 269), noch sie durch fortwährende Belehrung „unterschätzen“ soll. Was hier für die Textualisierung historischer Erkenntnisse gefordert wird, lässt sich auch auf die gegenwartsbezogene Kulturanalyse übertragen. „Die Poesie des Feldes“ selbst ist ein Beispiel dafür, dass gerade in Fragen der Textualisierung Nachholbedarf besteht.

Letztlich hält der Band nicht das, was der Titel verspricht: „Poesie“ findet sich allenfalls als Metapher, kreative Entwürfe einer literarischen Ausdrucksform, in der sich der jeweilige empirische Zugang und das Feld spiegeln, sucht der Leser vergebens. Für das schwierige Verhältnis von Wirklichkeit und Repräsentation bietet der Band trotz expliziter Anbindung an die ethnographischen Schreibpraxen in Folge des „literary turn“ kaum neue Anregungen. Ohnehin dürfte es zu den schwierigsten Aufgaben der Ethnographie gehören, bei der sprachlichen Vermittlung der Inhalte eine Form zu finden, deren gewählte Literarität zugleich eine analytische Aussage trifft.

Auch in methodologischen Fragen bietet der Band kaum substantiell Neues. Die verschiedentlich zu lesenden Erkenntnisse, dass die „Analyse der Interaktionsumstände“ zur Erhellung des Forschungsproblems beitrage (S. 87) oder Interviewpartner eigene, andere Deutungen ihrer Aussagen vertreten (S. 72), können gewiss nicht verwundern. Die Texte bieten Narrationen, die den dialogischen Charakter des Forschungsprozesses bzw. des kulturellen Feldes spiegeln. Dessen ungeachtet bleibt es das Verdienst dieses Sammelbandes, die Bedeutung der Methode der Feldforschung für die Volkskunde/Europäische Ethnologie zu betonen und zu behaupten und erneut für Fragen der Repräsentation und Reflexion der Zugänge, Begegnungen und Eigendynamik des Feldes zu sensibilisieren.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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