R. Zimmering: Mythen in der Politik der DDR

Titel
Mythen in der Politik der DDR. Ein Beitrag zur Erforschung politischer Mythen


Autor(en)
Zimmering, Raina
Erschienen
Anzahl Seiten
385 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerd Dietrich, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Ein alter geheimnisvoller Begriff wird wieder geprägt und hat Konjunktur. In den öffentlichen Medien findet er eine geradezu inflationäre Verwendung. Auch Historiker legten schon eine lange Reihe von Titeln vor, die dem Kult einer historischen Person, den Mythen einer historischen Epoche oder dem theoretischen Verhältnis von Mythos und Geschichte gewidmet sind.1 Nun hat auch die Politikwissenschaft das Thema entdeckt: politische Mythen, um der Festigung, dem Wandel und schließlich dem Verfall von politischen Meinungen, Einstellungen und Verhalten auf die Spur zu kommen. Für Raina Zimmering sind, im Anschluß an Herfried Münkler, politische Mythen "Narrationen, also Geschichten, die von den Ursprüngen, dem Sinn und der geschichtlichen Mission politischer Gemeinschaften handeln, um Orientierungen und Handlungsoptionen zu ermöglichen. Politische Mythen sind also Medien politischer Legitimation und Integration für Gruppen von Menschen, seien es Parteien, Nationen oder Staaten. Gleichzeitig fungieren politische Mythen als Prozessoren der Herstellung kollektiver Handlungsmacht." (S.13) 2

Theoretisch werden, wenn auch nicht immer überzeugend, Mythentheorien aus der Philosophie (Ernst Cassirer, Hans Blumenberg), gedächtnistheoretische (Aleida und Jan Assmann) und politikwissenschaftliche Ansätze verknüpft. Analytisch sollen Gründungs- und Sinnstiftungsmythen der DDR anhand verschiedener mnemotechnischer und symbolpolitischer Medien und Vermittlungsmethoden herausgearbeitet werden. Hauptuntersuchungsgegenstand sind dabei der Antifaschismus als entscheidender Gründungsmythos, Bauernkrieg und Reformation als wichtige Additionsmythen und Preußen als fehlgeschlagener mythenpolitischer Anpassungsversuch. Als Quellengrundlagen dienen Materialien der politischen Bildung, vor allem aus dem Schulunterricht, politische Denkmäler und ihre Entstehung, Medien der Erinnerungstechnik wie Gedenkstätten, Erinnerungstafeln, Wandgemälde u.a. Hierfür wurden intensive Archivstudien vorgenommen. Als erkenntnisleitende Fragestellungen formuliert Raina Zimmering: "Welche Inkonsistenzen und Widersprüche wiesen die politischen Mythen in der DDR von vornherein auf?...Welche äußeren Einflüsse konterkarierten das Mythensystem?...und schließlich die Frage nach der Arbeit am Mythos, die Frage nach dem Gelingen der Anpassung politischer Mythen an die sich verändernden politischen und gesellschaftlichen Bedingungen".(S.14) Zur Beantwortung dieser Fragen wird ein umfangreiches Material aufgeboten.

Es ist, wie gesagt, ein politikwissenschaftliches Buch. Raina Zimmering konstatiert Untersuchungen des Meinungswandels als Desiderat in der Politikwissenschaft und wendet sich in qualitativ-heuristischer Weise der Kategorie des politischen Mythos zu, um diesem Desiderat zu Leibe zu rücken. Der Zeithistoriker allerdings gerät beim Studium in Verwunderung: vieles was er liest, ist ihm bekannt. Sowohl in politik- und ideologie- als auch in historiographiegeschichtlichen Veröffentlichungen zur Geschichte der DDR, nicht zuletzt in der Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte sind diese Themen vielfach behandelt worden; in der Regel freilich ohne expliziten Bezug auf den Mythos. Was also ist das Neue? Sicher nicht eine Analyse der politischen Mythen "aus der Perspektive des Zusammenbruchs" (S.35) der DDR, eine Sicht vom Ende her vermag bekanntlich wenig zu erklären, wohl eher die empirischen Ergebnisse der Untersuchung: vergleichende Analysen des Geschichts- und Deutschunterrichts anhand der Lehrpläne von 1949-1990; die komplexe Darstellung der Entstehung politischer Denkmäler in der DDR im Konflikt von Ausschreibungen, Wettbewerben, Intentionen der Künstler wie unterschiedlichen Entwürfen, internen Diskussionen, öffentlichen Auseinandersetzungen und politischen Entscheidungsprozessen am Beispiel von Buchenwald, Ravensbrück und Sachsenhausen wie des Spanienkämpfer - Denkmals in Berlin, des Bauernkriegspanoramas in Bad Frankenhausen u.a.; und sicher auch die Beschreibung der ikonischen und rituellen Seiten der Pflege der genannten Mythen in der DDR sowie all das, was unter Bearbeitung, Modifizierung und Umkodierung der Mythen zusammenzufassen ist.

Weniger überzeugend sind jene Passagen, die sich mit der Umsetzung der Mythen in den bildenden Künsten, in der Literatur oder den Intellektuellendiskursen nach dem Krieg beschäftigen. Hier wären gründlichere Recherchen angebracht gewesen. Das zeigt sich in einseitigen Interpretationen, etwa der Misereformel, der Zwei-Linien-Theorie und der Formalismusdebatte, oder auch darin, daß Max Beckmann und George Grosz zu Malern in der SBZ und Thomas Mann gar zum Mitglied des von Johannes R.Becher gegründeten Kulturbundes gemacht werden. Bestimmt wäre auch der nationalen, Anfang der 50er Jahre sogar nationalrevolutionären Politik der SED und vor allem dem Paradigmenwechsel in der nationalen Frage Anfang der 70er Jahre mehr Aufmerksamkeit zu schenken gewesen, vor allem um die Problematik des Umbaus bzw. der Neuformulierung der Gründungsmythen zu erläutern. Insbesondere aber scheint mir z.B. die strikte Zuschreibung des Antifaschismus , der nicht nur Politik und Ideologie, sondern auch Lebenserfahrung und Kulturtechnik war, auf einen Mythos allzu vereinfachend. Ob sich andererseits am Beispiel von Bauernkrieg, Reformation und Preußen Parteipropaganda, Publikationen der DDR-Historiker und Geschichtsbilder der Bürger unter dem Begriff des politischen Mythos subsumieren lassen, halte ich für fraglich. Doch vielleicht sperrt sich hier nur der Historiker gegen einen neuen und ungewohnten politikwissenschaftlichen Ansatz?

Gleichwohl ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, daß das hier unter Mythenpolitik Dargebotene bei Historikern wohl unter Geschichtspolitik firmiert. Das ist im Einzelnen sehr interessant zu lesen und über Gemeinsamkeiten, Unterschiede und viele Details wäre noch zu diskutieren. Ein grundlegender Widerspruch aber bleibt: Das, was einen Mythos ausmacht - "große Massen umfassende Einstellungen und Empfindungen, die Identität schaffen" (S.360) ist in diesem Buch doch merkwürdig unterbelichtet geblieben. Die Darstellung bleibt zumeist bei der ideologischen und propagandistischen Konstruktion der Mythen, also bei Mythenpolitik stehen. Sie geht kaum über die Versuche der Implementierung von Mythen hinaus. Und sie fragt selten nach den sozialen und politischen Konstrukteuren und Trägern der Mythen. Wenn jene politischen Gründungsmythen inkonsistent blieben und keine Massenbasis fanden, von neuen Mythenkonstruktionen konterkariert und durch Komplementärmythen dementiert wurden, was hat es dann noch für einen Sinn, überhaupt von Mythen zu sprechen?

Anmerkungen:
1 Vgl. Anette Völker-Rasor/ Wolfgang Schmale (Hrsg.): MythenMächte - Mythen als Argument, Berlin 1998, S.9ff.
2 Vgl. Herfried Münkler/ Raina Zimmering: Politische Mythen in der DDR. In: Humboldt-Spektrum, Berlin 1996, Heft 3.

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