K. Buchenau: Auf russischen Spuren

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Titel
Auf russischen Spuren. Orthodoxe Antiwestler in Serbien, 1850-1945


Autor(en)
Buchenau, Klaus
Erschienen
Wiesbaden 2011: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
519 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Irena Ristić, Institut für Sozialwissenschaften, Belgrad

In diesem umfangreichen und fundierten Band widmet sich der Historiker Klaus Buchenau einem sehr komplexen Themenbereich: dem Antiwestlertum in der neuzeitlichen Orthodoxie in Serbien. Da er sich der Problematik und der Vielseitigkeit sowohl des Begriffs des „Westlertums“, als auch des entsprechenden Antonyms bewusst ist, definiert er gleich zu Beginn, was er unter Antiwestlertum versteht: die „Kritik an Prinzipien, die dem Westen zugeschrieben werden bzw. tatsächlich zueigen sind“ (S. 11), geäußert von Personen, die sich selbst als Antiwestler verstehen. Somit geht es Buchenau in dieser Studie nicht nur um ein klassisches ideengeschichtliches Thema, sondern ebenso um das Profil von Gruppen, die antiwestliche Meinungen vertraten. Gleichzeitig grenzt Buchenau auch den Begriff der neuzeitlichen Orthodoxie in Serbien ein, indem er sich lediglich auf die Serbische Orthodoxe Kirche (SOK) als institutionellen Träger der Orthodoxie, auf deren Würdenträger, Mönche und Seminaristen konzentriert. Er begibt sich somit nicht auf das unsichere Terrain, das Antiwestlertum unter der orthodoxen Bevölkerung oder bei den serbischen weltlichen Eliten untersuchen zu wollen.

Das Buch umfasst sechs Kapitel sowie ein Fazit. In der Einführung bettet Buchenau sein Thema theoretisch und historisch ein. Er hebt dabei die zwei Hauptprobleme der orthodoxen Antiwestler in Serbien der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hervor: Einerseits zwang die sich modernisierende serbische Gesellschaft auch die SOK zu einer Modernisierung. Andererseits musste sich in diesem Zeitalter des Umbruchs die SOK auch neu profilieren und ihren Platz in der Gesellschaft behaupten. Dies tat sie vor allem durch die Schaffung eines Gegenentwurfs zur säkularen gesellschaftlichen Modernisierung, welche sie als Westernisierung ablehnte.

Im zweiten Kapitel beschäftigt sich Buchenau mit dem russischen Vorbild der serbischen orthodoxen Antiwestler. Die prägende Rolle der Slawophilen steht dabei im Vordergrund. Von ihnen übernahmen die orthodoxen Antiwestler in Serbien das äußerst ambivalente Verhältnis zum Westen. So befürworteten sie zwar die europäische Nationalromantik des 19. Jahrhunderts, aber gleichzeitig sahen sie „den Westen und die Ableger des Westens im eigenen Land“ (S. 58) als Feind an. Von den Slawophilen entlehnten sie auch die Überzeugung, nur die orthodoxen Christen seien in der Lage, das reine und wahre Christentum zu leben und zu praktizieren. Aufgrund dieser affirmativen Haltung gegenüber den Slawophilen überrascht auch nicht, dass ein romantisches und vielfach idealisiertes Bild Russlands unter den orthodoxen Antiwestlern, ähnlich wie auch unter dem einfachen Volk verbreitet war.

Der Einfluss Russlands wirkte sich auch über die russischen geistlichen Akademien aus, die serbische Theologiestudenten mit Hilfe staatlicher, aber auch russischer Stipendien besuchten. In einem, stellenweise etwas langatmigen, Unterkapitel über diese Hochschulen zeigt Buchenau, dass die Erfahrungen der serbischen Studenten zwar nicht immer nur positiv waren, und dass ihre russischen Kommilitonen bei weitem nicht dieselbe Begeisterung für sie und Serbien zeigten, wie umgekehrt. Dies minderte jedoch weder die Begeisterung der serbischen Studenten für die slawophile Idee, noch ihre Idealisierung Russlands. Als herausragendes Beispiel der serbischen Studenten in Russland porträtiert Buchenau den später für seine slawophile und antiwestliche Haltung bekannt gewordenen Theologen Justin Popović. Eine bedeutendere Rolle schreibt er jedoch Nikolaj Velimirović zu, der, obwohl in Westeuropa ausgebildet, zu einem der schärfsten Kritiker des Westens wurde. Velimirovićs Weltanschauung war manichäisch geprägt. Bei ihm ging es stets um die Gegensätze von „gut“ (geistiger Osten) und „böse“ (säkularer Westen), den positiven „Allmenschen“ im Osten und dem negativen „Übermenschen“ im Westen. Doch Buchenau belegt exzellent, dass Velimirović oft opportunistisch vorging, um Unterstützung zu finden: In Großbritannien zeigte er offen Gefallen an der prowestlichen Politik Peter des Großen, während er vor russischem Publikum einen umgekehrten Standpunkt einnahm.

Weiterhin zeichnet Buchenau die Vertiefung der antiwestlichen Haltung der SOK anhand der politischen Veränderungen in Serbien bzw. Jugoslawien in der Zwischenkriegszeit nach. Dem neugegründeten Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (ab 1929 Jugoslawien), das aus politischen Gründen nicht nur eine Säkularisierung betrieb, sondern auch den katholischen und islamischen Glauben, zumindest theoretisch, gleichstellen wollte, stand die SOK vorerst skeptisch gegenüber. Die SOK sah sich in einem feindlichen Umfeld, pochte auf mehr Zentralisierung innerhalb der Kirche und eine privilegierte Stellung unter den Glaubensgemeinschaften in Jugoslawien. Ersteres setzte sie mit der Kirchenverfassung von 1931 und letzteres durch das Religionsministerium um, das sich – obwohl gesamtstaatlich ausgerichtet – überwiegend als Verteidiger orthodoxer bzw. serbisch-nationaler Interessen positionierte. Als Ausgleich ließ der Staat jedoch den Einfluss anderer Kirchen, vor allem der katholischen, aber auch von Sekten zu.

Die Antiwestler innerhalb der SOK leisteten weitaus stärkeren Widerstand gegen die säkularen Tendenzen des Staates. Diese stellt Buchenau im vierten Kapitel dar. Deren Anführer war der sich immer mehr radikalisierende Velimirović, der sich von einem gemäßigtem Westkritiker zu einem militanten Befürworter der orthodoxen Tradition und des serbischen Nationalismus wandelte. Sein Antiwestlertum projizierte er auf die Laienbewegung der Bogomoljcen, die sich in der Zwischenkriegszeit zu einer Gruppe strenggläubiger orthodoxer Christen entwickelte. Velimirovićs Begeisterung für sie ging so weit, dass er sie und ihre fromme Lebensweise als Vorbild für das gesamte serbische Volk pries.

Widerstand gegen die Säkularisierung und die multikonfessionelle Politik in Jugoslawien kam auch von den russischen Emigranten in Jugoslawien. Bezeichnend ist dabei, wie Buchenau hervorhebt und belegt, dass viele Exilrussen in den 1920er-Jahren von Serbien und nicht von Jugoslawien als ihrem Aufenthaltsort sprachen. Da es sich vor allem um Anhänger des Zarenreiches und um Antikommunisten handelte, waren sie sehr konservativ und tendierten zu slawophilen Ideen, in der Hoffnung auf eine Wiederauferstehung Russlands. In dieser Hinsicht standen sie dem orthodoxen Gedankengut der Antiwestler näher, als der säkularen Politik des jugoslawischen Staates. Trotz ihrer Rückwärtsgewandtheit, trugen sie jedoch auch zur Modernisierung Jugoslawiens bei: Zahlreiche Wissenschaftler, Ingenieure und Pädagogen unter ihnen sorgten in Schulen und Hochschulen für einen regen Wissenstransfer, von dem auch der säkulare Teil der serbischen Gesellschaft profitierte.

Die politischen Krisenumstände der 1930er-Jahre waren Wasser auf den Mühlen der Orthodoxen. Die eingeführte Diktatur und die daraus resultierende Beschneidung der Demokratie und des Mehrparteiensystems war für die Orthodoxen mehr als willkommen, sahen sie doch in diesen Institutionen eine Bedrohung der nationalen Einheit Serbiens. Im fünften Kapitel analysiert Buchenau überzeugend einen erneuten Rechtsruck nicht nur der Orthodoxen, sondern vor allem der gesamten politischen und intellektuellen Szene, die nun ebenfalls begann, sich auf russische Werte zu berufen und ausgesprochen antiwestlich zu argumentieren. Auf politischer Ebene wurde dieses rechte, antisemitische und mit stark christlichen Elementen gemischte Gedankengut vor allem von der klerikalfaschistischen Bewegung Zbor verkörpert. Angeführt von Dimitrije Ljotić setzte sich Zbor für die von den Slawophilen propagierte patriarchal-autoritäre Leitlinie „Gott im Universum, Monarch im Staat und Familienvater im Haus“ ein. Der „traditionalistische Mainstream“ (S. 386) innerhalb der SOK, darunter vor allem Patriarch Gavrilo Dožić, lehnte Ljotić und Zbor noch Ende der 1930er-Jahre zwar als zu extremistisch und nationalistisch ab. Die orthodoxen Antiwestler jedoch fanden in Zbor ein radikales Sprachrohr, von dem sie sich nicht distanzierten. Im Gegenteil, Velimirović lud Ljotić zu Vorträgen ein und meldete sich in diesem Zeitraum selbst auf der politischen Bühne zurück. Den Staat rief er dabei auf, einen dritten Weg zwischen Kommunismus und Kapitalismus einzuschlagen.

Diese aufgeladene Stimmung nicht nur innerhalb des Staates, sondern auch innerhalb der SOK gipfelte schließlich im Konkordanzkampf 1937 und den Konflikten während des Zweiten Weltkrieges. Wieder waren es die orthodoxen Antiwestler, die den Konkordatskampf politisch instrumentalisierten und manichäisch gegen ihn argumentierten (gute Orthodoxie, böser Katholizismus), ihn somit des rationalen Diskurses enthoben. Und obwohl sie im Konkordanzkampf die breiten Massen mobilisieren konnten, stießen die Antiwestler zu Beginn des Zweiten Weltkrieges bei weitem nicht nur auf Unterstützung in der Gesellschaft und der SOK. Für viele Würdenträger der SOK gingen der Antisemitismus der Antiwestler und ihre Verachtung Westeuropas zu weit.

Insgesamt gelingt es Buchenau anhand einer beeindruckenden Auswahl von Archivdokumenten, die russischen Spuren der Antiwestler in der serbischen Orthodoxie nachzuweisen. Aber er zeigt auch, dass das Antiwestlertum neben den russischen auch andere, westliche, rechtsintellektuelle Quellen hatte. Zudem hatten die Antiwestler, ausgenommen in Krisensituationen wie dem Konkordatskampf, im Grunde weder die Oberhand innerhalb der SOK, noch genossen sie breite Unterstützung in der Bevölkerung. Kritisch sei angemerkt, dass die Studie an einigen Stellen zu langatmig und mit Details überlastet ist. Auch wäre es von Vorteil gewesen, durch die Zeitabschnitte die jeweilige Stellung Velimirovićs und der Antiwestler innerhalb der SOK kurz gesondert kontextualisiert zu haben, auch weil Buchenau einige Male darauf zu sprechen kommt, dass der Mainstream, und auch der niedere Klerus deren Radikalität ablehnte. Doch abgesehen davon liegt mit dieser Studie zweifelsfrei nicht nur ein wichtiges historisches Werk, sondern auch ein guter Wegweiser für die Analyse und das Verständnis des heutigen Serbiens vor, zumal diese antiwestlichen Strömungen in Serbien in den letzten zwei Jahrzehnten im öffentlichen politischen Diskurs wieder einen wichtigen Platz für sich beanspruchen.