M. Leutner u.a. (Hrsg.): Kolonialkrieg in China

Titel
Kolonialkrieg in China. Die Niederschlagung der Boxerbewegung 1900-1901


Herausgeber
Mechthild, Leutner; Mühlhahn, Klaus
Reihe
Schlaglichter der Kolonialgeschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
270 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cord Eberspächer, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz

Der sogenannte Boxeraufstand gehört wohl zu den bekanntesten Ereignissen aus dem Zeitalter des Imperialismus. Er bedeutete nicht nur einen Höhepunkt in der westlichen Machtprojektion in China, sondern war auch die am größten angelegte multinationale Operation im Vergleich zu den anderen Kolonialkriegen der Zeit wie dem Burenkrieg oder dem US-amerikanischen Kolonialkrieg auf den Philippinen. Das Deutsche Reich war an diesem Kolonialkrieg prominent beteiligt und das Gefecht der „Iltis“ vor den Takuforts, der „Weltmarschall“ Waldersee oder die „Hunnenrede“ Wilhelms II. sind bis heute im populären Gedächtnis verankert. Trotzdem ist die deutsche Beteiligung bislang nicht umfassend untersucht worden und die bisherige Forschung muss sich der interessierte Leser eher mühevoll aus verstreuten Aufsätzen zusammensuchen. Dazu genügen die auf Deutsch verfügbaren Gesamtdarstellungen zum Thema wissenschaftlichen Ansprüchen in der Regel nicht.

Der vorliegende Sammelband will diesem Desiderat zumindest teilweise abhelfen. Er ist in der Reihe "Schlaglichter der Kolonialgeschichte" des Ch. Links Verlags erschienen. Sie soll historische Ereignisse beleuchten und auch die Folgeerscheinungen in den ehemaligen Kolonien wie den Kolonialmächten einbeziehen. Dabei wird auf gute Lesbarkeit und zahlreiche Abbildungen Wert gelegt. Das nicht immer leichte Unterfangen, eine wissenschaftlich fundierte Grundlage mit einer Art der Darstellung zu verbinden, die über das Fachpublikum hinaus einen breiteren Leserkreis anspricht, kann in diesem Fall durchaus als gelungen bezeichnet werden.

Der Kolonialkrieg in China, die Boxerbewegung und die Folgen werden anhand von Einzelartikeln zu bestimmten Themen behandelt. Sie sind in sechs Abschnitten zusammengefasst und werden durch ein gemeinsames Literaturverzeichnis, eine Zeittafel und ein Register ergänzt. Die Herausgeber Mechthild Leutner und Klaus Mühlhahn prägen den Band auch durch ihre eigenen Beiträge (immerhin neun von 26), sorgen damit aber auch für den inhaltlichen Zusammenhalt, der sich bei der Vielzahl von behandelten Themen nicht automatisch einstellt.

Der erste Abschnitt „Das Umfeld“ besteht aus fünf Artikeln. Klaus Mühlhahn führt in drei Beiträgen in die internationalen Verhältnisse um China, den westlichen Imperialismus, und nicht zuletzt in sein Spezialthema – Deutschlands Pachtgebiet Kiautschou – ein. In der Person von Thoralf Klein skizziert ebenfalls ein ausgewiesener Kenner die Rolle der Missionen. Interessant ist in diesem Abschnitt nicht zuletzt der Artikel von Yang Laiqing über den chinesischen Widerstand gegen den deutschen Eisenbahnbau in der Provinz Shandong.

Der zweite Abschnitt widmet sich den Namensgebern der Krise im Frühjahr 1900, der Boxerbewegung. Hier findet sich eine gelungene Kombination von Beiträgen, die von der Entstehung, Motivation und sozialen Verankerung der Boxer (Sabine Dabringhaus) über ihre religiösen und sozialen Ursprünge (Sun Lixin), ihre Kampfkunst (Kai Filipiak) und die Frauen in der Boxerbewegung, die „Roten Laternen“ (Mechthild Leutner), bis zum Verhältnis der Boxer zum regulären Militär (Heike Frick) reichen. Besonders die ersten vier zeichnen ein komplexes Bild von den Boxern, der letzte Beitrag fällt etwas aus dem Rahmen und hätte vielleicht eher in den folgenden Abschnitt gepasst.

Abschnitt drei ist mit sieben Beiträgen der umfangreichste und behandelt den eigentlichen Kolonialkrieg. Mechthild Leutner schildert den Beginn des Krieges mit der Belagerung der Gesandtschaften in Peking, Dominik Nowak ergänzt ihre Ausführungen mit einem Artikel zum Tod des deutschen Gesandten Clemens von Ketteler. Bernd Sösemann befasst sich mit der „Hunnenrede“ Wilhelms II.; dieser Beitrag gehört eigentlich in den nächsten Abschnitt über die Heimatfront, aber da die Hunnenrede einen wichtigen Hintergrund zum Vorgehen gerade des deutschen Expeditionskorps in China bildete, hat die Platzierung hier durchaus ihre Berechtigung. Mit der Intervention der alliierten Truppen befassen sich die folgenden vier Artikel: James L. Hevia erörtert ihr Vorgehen unter dem „Weltmarschall“ von Waldersee und in einem zweiten Beitrag die Plünderung Pekings. Besonders der zweite Artikel ist eine große Bereicherung des Bandes und betrachtet die Plünderung vor dem Hintergrund des imperialistischen Programms, das Hevia in seinem Band „English Lessons“ ausführlich dargelegt hat.1 Susanne Kuß widmet sich den deutschen Strafexpeditionen, den Dietlind Wünsche mit ihren Ausführungen über Feldpostbriefe deutscher Soldaten ergänzt.

Der Titel des Bandes verweist darauf, dass Kolonialkrieg und Kolonialpolitik nicht unbedingt direkte Kolonialisierung erforderten. Die koloniale Perspektive steht im Vordergrund des Bandes und dem „Kolonialkrieg in China“ ist auch ein eindeutiger Schwerpunkt gewidmet, trotzdem gerät dabei das Militär, also der Hauptprotagonist, ins Hintertreffen. Es mag nicht zuletzt an der auch von Militärhistorikern gepflegten Abneigung gegen die Operationsgeschichte liegen, dass es keine systematische Darstellung der Kriegshandlungen gibt. Genauso fehlt ein Überblick über die eingesetzten Einheiten. Die Rolle der westlichen Marineeinheiten, die bis zum Desaster der Seymour-Expedition den Kolonialkrieg führten, wird gar nicht berührt. Nur dem chinesischen Militär und dem deutschen Expeditionskorps wird mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Die deutschen Truppen werden aber nur im Rahmen der Strafexpeditionen behandelt, die Hintergründe sind nur skizzenhaft beleuchtet. Die Darstellung des chinesischen Militärs hat deutliche Schwächen und stützt sich vor allem auf Jane Elliotts Werk über den Boxerkrieg2, das kaum als Standardwerk über das Militärwesen der späten Qing-Zeit gelten kann.

Der folgende vierte Abschnitt über die „Heimatfront“ bezieht sich fast ausschließlich auf das Deutsche Reich. Ute Wielandt behandelt die Reichstagsdebatten über den Krieg in China, Joachim Krüger widmet sich der Propaganda auf Postkarten, Mechthild Leutner schreibt über zeitgenössische Chinabilder und Lu Yixu behandelt die Darstellung der Boxer in der populären Literatur. Hier fällt nur der Beitrag Krügers deutlich ab, über die Rolle von Postkarten erfährt der Leser praktisch nichts und der Rezensent hat sich bei der Lektüre gefragt, warum der Beitrag eigentlich aufgenommen worden ist. Positiv hervorzuheben sind dagegen Thoralf Kleins Ausführungen zur Rolle der Medien. Er hebt seine Betrachtung auf die internationale Ebene und zeichnet ein interessantes Bild von den unterschiedlichen Kommunikationsstrategien in den westlichen Ländern.

Die Abschnitte fünf und sechs befassen sich mit Ende und Erinnerung des Krieges. Mechthild Leutner behandelt das Boxerprotokoll und Klaus Mühlhahn die Mission des „Sühneprinzen“ Chun. Besonders interessant und ein Glanzlicht des Bandes sind die beiden abschließenden Artikel von Heike Frick und Klaus Mühlhahn über die Boxer im kulturellen Gedächtnis Chinas und in der Wissenschaft, die den Bogen bis zur Gegenwart spannen.

Das Buch ist gemäß dem Konzept des Ch. Links Verlags für seine „Schlaglichter der Kolonialgeschichte“ reich bebildert, darunter findet sich auch eine Reihe von Abbildungen, die von dem sonst in Publikationen zum Thema üblichen Kanon abweichen. Die Behandlung der visuellen Quellen steht allerdings im deutlichen Kontrast mit der sonstigen Qualität des Bandes: Bildunterschriften sind nur knappe Beschreibungen, weitergehende Erläuterungen oder eine Quellenkritik gibt es nicht. Über die Herkunft gibt das Abbildungsverzeichnis nur pauschal Auskunft, die ebenso interessante Frage der Provenienz bleibt dabei außen vor. Dieser Umstand mag allerdings auch den Standards des Verlags geschuldet sein und ist trotz beachtlicher Fortschritte der historischen Bildkunde durchaus keine Ausnahme.

Der besprochene Band trägt dazu bei, eine bemerkenswerte Lücke zu schließen. Zum einen steht auch dem allgemein historisch Interessierten damit ein Werk zur Verfügung, das übersichtlich und verständlich in das komplexe Thema „Boxerkrieg“ einführt und eine Alternative zu den diversen populärwissenschaftlichen Werken bildet. Auch für Studenten liegt damit eine seminartaugliche Einführung auf Deutsch vor, die zur weiteren Beschäftigung anregen kann und schließlich wird auch der Fachhistoriker in einigen Beiträgen neue Aspekte finden, die eine Lektüre des Bandes lohnenswert machen.

Anmerkungen:
1 Hevia, James L., English Lessons. The Pedagogy of Imperialism in Nineteenth Century China, London 2003.
2 Elliott, Jane E., Some Did It for Civilization, Some Did It for Their Country. A Revised View of the Boxer War, Hongkong 2002.

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