Cover
Titel
Mexiko heute. Politik, Wirtschaft, Kultur


Autor(en)
Bernecker, Walther L.; Braig, Marianne; Hölz, Karl; Zimmermann, Klaus
Reihe
Bibliotheca Ibero-Americana 98
Erschienen
Frankfurt am Main 2004: Vervuert/Iberoamericana
Anzahl Seiten
826 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Cieslik, Universität Tecnológico de Monterrey, Estado de México

Fast fünf Jahre nach dem spektakulären Ende der PRI-Alleinherrschaft 1 hat auch die Regierung von Präsident Vicente Fox an Popularität eingebüßt. Die Mexikaner diskutieren nun schon über seinen Nachfolger: Innenminister Santiago Creel, Ex-Außenminister Jorge Castañeda, Mexiko-Stadts Oberbürgermeister Andrés Manuel López Obrador oder der PRI-Vorsitzende Roberto Madrazo? Noch nie war das Rennen so offen, noch nie wurde in den Medien so frei diskutiert wie heute. Fünf Jahre, die das Land grundsätzlich verändert haben, von der „perfekten Diktatur“, wie sie einst der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa beschrieb, zu einer sich transformierenden Republik. Das bevölkerungsreichste spanischsprachige Land zerreißt sich auch nach dem Regierungswechsel zwischen Moderne und Tradition, zwischen bitterer Armut und unglaublichem Wohlstand. Daher haben die Herausgeber, der Erlanger Sozialhistoriker Bernecker, die Berliner Politikwissenschaftlerin Braig, der Trierer Literaturwissenschaftler Hölz und der Bremer Sprachwissenschaftler Zimmermann einen fast vollständig neuen Band über das heutige Mexiko herausgegeben. Mit seinen 27 Beiträgen von insgesamt 30 (mit zwei Ausnahmen ausschließlich deutschsprachigen) Autorinnen und Autoren strebt der Titel nach einem umfassenden Überblick über die gegenwärtige politische, kulturelle und wirtschaftliche Situation des Landes. Eine Reihe von integrierten Abbildungen sowie das Personen-, Sach- und Autorinnenverzeichnis unterstreichen seinen Handbuchcharakter, auch wenn sie das facettenreiche Wissen, das im Werk versammelt ist, nur selektiv erschließen. Das Buch ist in fünf Abschnitte gegliedert, wobei mit einem Drittel des Gesamtumfangs der Größte auf die unter der Überschrift „Kultur“ zusammengefassten Beiträge entfällt.

Die „Literatur“ wurde formal von der Kultur abgetrennt. Zusammen machen die Beiden aber fast die Hälfte des Bandes aus. Es folgen die Abschnitte zu „Staat und Politik“ bzw. „Wirtschaft und Gesellschaft“ mit jeweils einem knappen Fünftel. Beiträge zu den deutsch-mexikanischen Beziehungen, zur historischen Geographie und zur Geschichte Mexiko im 20. Jh. sind zum knappsten Absatz unter dem Sammeltitel „Natur, Raum, Bevölkerung und Geschichte“ zusammengefasst. Offensichtlich spart der Band einige Themen aus, darunter auch gerade solche, die für ein besseres Verständnis des heutigen Mexikos ebenfalls hilfreich gewesen wären, wie die Umwelt- und Energieproblematik oder die staatliche durch Skandale erschütterte Erdölgesellschaft PeMex sowie die Stadt- und Verkehrsplanung in einer der größten städtischen Agglomerationen der Welt. Doch man wird dies den Herausgebern nachsehen, die in punkto Vielfältigkeit und schierer Masse des hier zusammengetragenen Materials mit über 800 Seiten offensichtlich bis an die Grenzen dessen gegangen sind, was sich noch in einem Band zusammenfassen lässt. Schon deshalb müssen Sie gezwungen gewesen sein, Güterabwägungen über das in diesem Rahmen Leistbare zu treffen. Dabei entstehen sehr facettenreiche Bilder, die sich im Rahmen dieser Besprechung leider nur anhand einiger mehr oder weniger willkürlich herausgegriffener Beispiele veranschaulichen lassen:

So behandelt der Züricher Historiker Hans Werner Tobler etwa die Revolution und die folgende Entwicklung des Landes im 20. Jahrhundert. Er kommt zu der nüchternen Bilanz: Im Wesentlichen stehe Mexiko vor denselben politischen und gesellschaftlichen Problemen, die auch in anderen Staaten Lateinamerikas ungelöst geblieben seien (S. 84). Die allem Autoritarismus zum Trotz letztlich erhebliche Schwäche des Staates offenbare sich u. a. darin, dass es nie gelungen sei, ein auch nur halbwegs effizientes Steuersystem einzuführen. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Und das hat gravierende Folgen für die Stabilität des Landes und einen erfolgreichen Transformationsprozess. Marianne Braig versucht dem in ihrer Analyse der fragmentierten Gesellschaft und den Grenzen sozialer Politiken näher zu kommen. Die Erodierung des sozialen Systems sei langfristig eine Herausforderung für das politische System und die Demokratisierung.

Der Mainzer Politologe Uwe Franke leistet einen Beitrag zum besseren Verständnis der Entwicklung der Parteienlandschaft vom Ein- zum Drei-Parteien-System. Neben der PRI tragen seit einigen Jahren auf Länder- und Kommunalebene nun auch die Partei der Nationalen Aktion (PAN) sowie die linkspopulistische Partei der Demokratischen Revolution (PRD), die durch ihren charismatischen Oberbürgermeister Andrés Manuel López Obrador maßgeblich repräsentiert wird, Regierungsverantwortung. Dennoch bleibt Franke skeptisch, ob das moderne Mexiko auch demokratisch bleibt: „Mexiko ist offener und pluralistischer geworden, doch die Garantie für diesen weiteren Weg kann nur die Stabilisierung eines Rechtsstaates leisten, in dem die Zusammenarbeit im Parlament professionalisiert, die Korruption bekämpft und die Glaubwürdigkeit und Effizienz von Institutionen mit einer Reduktion von gesellschaftlicher Fragmentierung einhergehen.“ (S. 196). An dieser Stelle hätte Franke noch darauf hinweisen können, dass angesichts sehr geringer Steuereinnahmen, eines zunehmenden Populismus und der Auflösung formaler Verwaltungsstrukturen in vielen Stadtteilen und Dörfern ein großes Fragezeichen hinter den Erfolg des Transformationsprozesses gesetzt werden muss. Im kommenden Jahr etwa könnte ein neuer Präsident mit nur 30 Prozent der Stimmen gewählt werden, da die relative Mehrheit reicht.

Leider widmet sich der Sammelband nur mit einem Artikel den facettenreichen Beziehungen zwischen Mexiko und den USA. Weder der Drogenhandel 2 noch die Migration 3 werden als eigenständige Themen behandelt. Dafür untersucht die Hamburger Wirtschaftswissenschaftlerin Barbara Fritz Mexikos Bestrebungen nach monetärer Integration mit den USA bzw. in die NAFTA-Zone. Ihr positives Fazit: „Niedrige Inflationsraten und gleichzeitig sinkende Abwertungserwartungen können dazu beitragen, dass Mexiko das zentrale Entwicklungshemmnis der Verschuldung und Dollarisierung allmählich überwindet“ (S. 332). Gerade die unterschiedlichen positiven wie negativen Resümees zur politischen wie wirtschaftlichen Situation des Landes helfen dem Leser sich ein eigenes Bild vom heutigen Mexiko zu machen, spiegeln aber auch die Unsicherheit über die Zukunft wider.

Äußerst spannend lesen sich die Kapitel über die modernen Strömungen in der mexikanischen Kunst. Mexikaner mischen weltweit, aber oftmals etwas versteckt, im Literatur- und Kulturbetrieb mit. Einer der bedeutendsten mexikanischen Intellektuellen der Gegenwart ist Carlos Monsiváis. Er bereichert den Band mit einem originellen Aufsatz über die Gegenkultur und die Vielfalt der Dissidentenbewegungen in Mexiko.

Der Kölner Journalist Torsten Eßer räumt mit dem Klischee auf, dass mexikanische Musik nur aus mariachi und Schnulzensängern bestünde. Stattdessen entdeckt er die „Narco-música“ und den „Tecnogeist“, aber auch internationale Exportstars wie Thalía und Paulina Rubio. Der mexikanische Film ist mittlerweile auch international wieder im Rennen. Nicht zu vergessen, dass der Mexikaner Alfonso Cuarón ("Y tu mama también") den dritten Teil von Harry Potter in Szene setzte und Mexiko immer häufiger als Drehort für Hollywoodstreifen fungiert. Sabina Pfleger und Sabine Schlickers zeichnen die Tendenzen des mexikanischen Gegenwartsfilmes nach und geben dem Leser auch ein kurzes, aber hilfreiches Filmverzeichnis mit.

Das Interesse an mexikanischer Kunst ist nicht nur seit dem Filmerfolg (zwei Oscars!) über die exzentrische Künstlerin Frida Kahlo und ihren Ehemann Diego Rivera wieder erwacht, sondern schon seit langem leistet die mexikanische Kunst (Bildhauerei, Malerei, Fotografie) einen eigenständigen Beitrag, wie Michael Nungesser feststellt. Die moderne Architektur, über die Susanne Dussel und Antje Wemhöner berichten, spielt in Mexiko eine bedeutende Rolle. Das Land soll sogar eine höhere Architekturstudentendichte haben als die USA. Der historische Abriss allerdings spart leider dieses Thema genauso wie die Konstruktion des postmodernen Stadtteils Santa Fé völlig aus.

Einen Einblick in die gegenwärtige mexikanische Medienwelt vermittelt Anne Huffschmid. Sie reflektiert den Big Brother der Demokratie in der Medienmacht des neuen Mexiko. Auch wenn sich die Medienlandschaft grundlegend gewandelt hat, sind Televisa und TV Azteca, die zwei großen TV-Unternehmen rein kommerziell und ohne jeden kritischen oder gar gesellschaftspolitischen Anspruch geblieben.

Mexikanische Literatur erschöpft sich nicht in Octavio Paz oder Carlos Fuentes. Inke Gunia weist daraufhin, dass durch den Ausbau der staatlichen Förderung des schriftstellerischen Nachwuchses, insbesondere der Lyriker, die Literatur immens profitiert habe, doch politische Themen kaum Niederschlag in den lyrischen Produktionen gefunden hätten (S. 721). Vielheit und Widersprüchlichkeit begleiten den Prozess einer neu definierten offenen „mexicanidad“, die sich in der modernen Literatur widerspiegelt. Die Würzburger Kulturwissenschaftlerin Karin Ikas vergleicht Literatur und Kultur der Chicanas/os aus der interkulturellen Perspektive: „So far from God – so close to the USA“. Sie beschließt den Band mit dem Ausblick, dass die in die USA eingewanderten Mexikaner ein literarisches Selbstbewusstsein entdeckt und eine viel versprechende Zukunft vor sich hätten. Dass die Wissenschaftler an dieser Stelle auch Ross und Reiter nennen, erleichtert beim nächsten Mal den Besuch in der Buchhandlung.

Das Handbuch gehört in den Bücherschrank eines jeden Mexiko-Interessierten, zumal man angesichts des großen Umfangs bei einem vergleichsweise niedrigen Ladenpreis eine Menge Buch für sein Geld bekommt. Allerdings könnte der Band rasch an Aktualität verlieren. Die Präsidentschaftswahlen 2006 und die daraus folgende Zukunft des Landes lassen aber hoffen, dass schon bald eine vierte Ausgabe folgen wird.

Anmerkungen
1 PRI = Partei der Institutionalisierten Revolution
2 Álvarez, Ignacio Alvarado (2004): La metamorfosis del “narco”, 12. April, http://www.almargen.com.mx/pdi/textos/narco.htm.
3 Adalid, Mario Melgar (2003): Mexico-U.S. Migration. The Central Sigue on the Bilateral Agenda, Voices of Mexico, Issue 64 (July-September), p. 73-78.
[4] El Universal Online, Implican en soborno al “Niño Verde¨, 24. Februar, http://www.eluniversal.com.mx/pls/impreso/noticia.html?id_nota=108103&tabla=Nacion_Hon_H

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