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Titel
Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat


Autor(en)
Prodi, Paolo
Erschienen
München 2003: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
488 S.
Preis
€ 44,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Reinhard Mehring, Institut für Philosophie, Humboldt-Universität zu Berlin

Wir erleben heute einen tief greifenden Wandel der Gerechtigkeitsvorstellungen. Die Intuitionen der alten Bundesrepublik verblassen. In dieser Lage ist „Eine Geschichte der Gerechtigkeit“ aktuell interessant. Prodi stellt sie der philosophischen „Theorie der Gerechtigkeit“ (S. 11) bewusst entgegen. Er möchte zeigen, „wie der Begriff Gerechtigkeit in unserer abendländischen Welt gelebt und gedacht worden ist“ (S. 11). Methodisch betrachtet er den „Begriff“ als eine Idee, deren institutioneller Ort offen und wandelbar ist. Er schaut die „zwei Schwerter“ der abendländischen Gerechtigkeit zusammen und spricht vom „Forum“, vom Gerichtsort der Gerechtigkeit, als einem „symbolischen“ (S. 15), „beweglichen und polyformen“ (S. 17) Ort. Es scheint mir der organisierende Gedanke der komprimierten Darstellung zu sein, dass Prodi an der Transzendenz der Gerechtigkeitsidee gegenüber jeder Institutionalisierung festhält, indem er die Gerechtigkeit als einen Effekt des ganzen Institutionalisierungsgefüges betrachtet. Die Gerechtigkeit gibt es im alten Recht Gottes so schlecht und recht wie im modernen Verfassungsstaat. Es macht keinen Sinn, sie jenseits des historischen Prozesses zu suchen.

Gerechtigkeit zeigt sich aber nicht nur in der Transzendenz gegenüber bestimmten Institutionen, sondern auch als gelebte Moral im „Gewissens-Forum“ der „Buße“. Die Spannung von Recht und Moral, äußerem und innerem „Forum“, entsteht nach Prodi erst in Israel durch die Idee einer Gerechtigkeit Gottes (S. 23). Erst mit der „christlichen Botschaft wird [dann] der Ort der Buße“ (S. 25) als Kirche institutionalisiert. Erst dadurch gibt es, so Prodi, einen „Dualismus der Foren im Abendland“, eine Spannung von innerem und äußerem Gericht, die die Idee der Gerechtigkeit in ihrer Spannung zur Legalordnung konstituiert. Die Differenz von Recht und Gerechtigkeit braucht eine Spannung von Moralität und Legalität, könnte man schließen, die erst durch die monotheistische Idee einer „Gerechtigkeit Gottes“ in die Welt kam. Prodis Hauptinteresse gilt letztlich dem Schicksal des „inneren Forums“: dem individuellen Gewissen, auf das die großen Sinnsysteme Zugriff nehmen, ohne es je ganz zu erfassen. Diese Perspektivierung der Rechtsgeschichte von der Moralgeschichte und Bußpraxis her trennt sein Vorgehen von einer konventionellen rechtsphilosophischen Ideengeschichte und verbindet es mit neueren Autoren wie Foucault (S. 128, 153, 269, 311).

Im ersten Kapitel verfolgt Prodi seinen Faden von der Konstitutionalisierung der Gerechtigkeit Gottes in Jerusalem und ihrer christlichen Formierung als Kirche bis hin zu Abaelard und der „Geburt der christlichen Ethik“. Das zweite Kapitel beschreibt dann die Institutionalisierung der Gerechtigkeit Gottes als „Gerechtigkeit der Kirche“ seit der „Papstrevolution“ des 11. Jahrhunderts. Das kanonische Recht suchte das „Gewissens-Tribunal“ damals juridisch zu fassen, zu definieren und einer Inquisition zu unterwerfen. Der Totalitätsanspruch kirchlicher Gerechtigkeit scheiterte aber, so Prodi, schon „innerhalb der Kirchengemeinschaft selbst“ (S. 80) und es öffnete sich „der Weg hin zum Pluralismus konkurrierender juridischer Ordnungen“ (S. 81). Das dritte Kapitel taucht dann in den spätmittelalterlichen „Pluralismus der Institutionen“ (S. 82ff.) und Rechte ein, der bei Ockham und Marsilius von Padua bis an die Grenze der Entwicklung des öffentlichen Rechts führte. Das vierte Kapitel betrachtet den „Konflikt zwischen Gewissen und Gericht“, der sich aus dem Aufstieg des positiven Gesetzes und der Formierung der staatlichen Souveränität ergab. Prodi betont hier die prototypische Schrittmacherrolle der Kirche und päpstlichen Souveränität für die Entstehung des modernen Staates. Mit Jean Gerson und der spanischen Spätscholastik formulierte sich dagegen erstmals ein autonomes moralisches Gewissen und „Ethik im modernen Sinne“ (S. 148). Das fünfte Kapitel behandelt „die evangelisch-reformierte Lösung“ näher, ausgehend vom „radikalen Christentum“ der Schwärmer, die sich der „Konfessionalisierung“ des gespaltenen Christentums in den neuen kirchlichen Organisationen widersetzten. Prodi betrachtet die Entwicklung vom „Standpunkt der abendländischen Verfassungsgeschichte“ (S. 195) aus als Modernisierungsprozess. Dabei setzt er die „Konfessionalisierung“, die kirchliche Organisation und Reorganisation im Reformationszeitalter, in ein enges Verhältnis zum entstehenden neuzeitlichen Staat, der die kirchliche Form beerbte. Prodis besonderes Interesse liegt aber nicht auf der Formierung des „äußeren Forums“ in der staatlichen Machtsphäre, sondern auf der heikleren Formierung des „inneren Forums“ oder „Gewissensforums“. Dabei konzentriert er sich darauf, wie neue Formen der Kontrolle durch „Kirchenordnungen“, durch Visite, Beichte und Buße entstanden.

Das sechste Kapitel behandelt die revolutionären Auswirkungen der Reformation auf die „katholisch-tridentinische Lösung“, die sich mit dem neuen Territorialstaat arrangierte und den Machtanspruch auf das „innere Forum“ verschob. Die Kirche zog sich aus dem staatlichen Recht zurück und entdeckte das „innere Forum“ als Gegenstand einer neuen, kasuistischen „Moraltheologie“ (S. 243 ff.), die dann zum Schrittmacher der Emanzipation und Autonomisierung der Moral von Religion und Kirche wurde. Prodi verfolgt diesen „Weg zu einem neuen ‚Gewissensrecht’“ (S. 255) im siebten Kapitel von Suárez über Montaigne und Pascal bis auf Kant. Es zeigt seine Absichten und Fragestellung besonders gut, die Geschichte der Gerechtigkeit als nuancierten Prozess der Emanzipation und „Ausdifferenzierung“ von Recht und Moral aus der Kirche zu verfolgen. Die Schrittmacherrolle der Kirche in diesem Prozess der „Modernisierung“ stellt Prodi dabei originell heraus.

Nachdem er die Geschichte der Gerechtigkeit bis an den Rand der Autonomisierung einer säkularen Moral verfolgt hat, endet er in zwei Kapiteln mit einem düsteren Abgesang auf die neuere Entwicklung. Er skizziert sie als „Sakralisierung der positiven Norm“ durch „Selbstreferentialität des positiven Rechts“ (S. 283) und kritisiert diese Aneignung oder Anmaßung „göttlicher Allmacht“ (S. 291) und „Allwissenheit“ (S. 292) durch den modernen Staat. Wiederholt spricht er auch von einem Übergang vom mittelalterlichen „Pluralismus“ der juridischen Ordnungen zum modernen „Dualismus“ von Recht und Moral (S. 284, 313f. u.ö.), der das alte, religiös interpretierte Naturrecht in eine säkulare Moral übersetzte. Prodi fürchtet den weitergehenden Zug zu einem Monismus, in dem die Stimme der Moral durch das Sinnsystem des positiven Rechts absorbiert wird. Sünde und Straftat werden dann synonym. Dem modernen Staat scheint heute zu gelingen, woran die „Gerechtigkeit der Kirche“ auf dem Höhepunkt der Papstrevolution scheiterte: das „innere Forum“ durch das Sinnsystem des „äußeren“ Forums zu kassieren. Prodi endet mit einer Beschwörung der Differenz von Recht und Moral, Kirche und Staat: des „kleinen Leerraums“ und „Spalts“ (S. 324) unvereinnahmbarer individueller Freiheit.

Diesen historischen Schluss profiliert er im letzten Kapitel noch durch „aktuelle Überlegungen“ zur Entwicklung der „eindimensionalen Norm“ (S. 325 ff.). Vehement kritisiert er hier neueste Entwicklungen im Strafrecht namentlich der USA, die die „heiligsten Prinzipien der abendländischen juristischen Kultur“ (S. 345) verletzten, und beschwört die schwindende Macht der Kirchen als institutionelle „Antikörper“ (S. 325) und Gegenmacht gegen den modernen Staatstotalitarismus. Prodi endet sehr düster: „Es scheint, als ob man tatsächlich bereits in einer anderen Welt lebt, lösgelöst von der Tradition.“ (S. 345) Zuletzt zitiert er Jacob Taubes’ Antwort auf Carl Schmitt, dass die „Gewaltentrennung zwischen weltlich und geistlich absolut notwendig“ (S. 346) sei.1 Diese Schlusspointe mit Taubes gegen Schmitt ist verführerisch. Aber ist die Lage heute wirklich so ernst? Bedarf es wieder eines politisch-theologischen Einspruchs gegen den Staatstotalitarismus? Stehen wir wirklich wieder am Rand des staatlichen Totalitarismus? Juristen neigen zum konstitutionellen Konservatismus, Rechtshistoriker ganz besonders. Das zeigt sich heute etwa auch bei Michael Stolleis, um einen führenden deutschen Rechtshistoriker an Prodis Seite zu stellen.2 Der Pessimismus des Rechtshistorikers ist aber nicht unbegründet und sollte zu denken geben. Er passt schlecht zur Jubelrhetorik vieler Politiker und hat doch die ganze Autorität und Kompetenz der Wissenschaft für sich. Paolo Prodi, ein Bruder des EU-Politikers Romano Prodi, plädiert mit dem vollen Gewicht des alten Europa für den abendländischen institutionellen Dualismus. Seine gelehrte, gedankenreiche und originelle Darstellung stellt das Problem der individuellen Freiheit rechtshistorisch.

Anmerkungen:
1 Zu dieser Kontroverse vgl. Mehring, Reinhard, Karl Löwith, Carl Schmitt, Jacob Taubes und das „Ende der Geschichte“, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 48, 1998, S. 231-248.
2 Stolleis, Michael, Das Auge des Gesetzes. Geschichte einer Metapher, München 2004.

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