J. Eibach u.a.: Protestantische Identität und Erinnerung

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Titel
Protestantische Identität und Erinnerung. Von der Reformation bis zur Bürgerrechtsbewegung in der DDR


Herausgeber
Eibach, Joachim; Sandl, Marcus
Erschienen
Göttingen 2003: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
258 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Pohlig, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Sammelband thematisiert den Zusammenhang von Identität und Erinnerung, bezogen auf den Protestantismus zwischen dem 16. und 20. Jahrhundert. Vertreten sind unterschiedliche Disziplinen von der Geschichte und Kunstgeschichte über die Musik- und Literaturwissenschaft bis zur Theologie; allerdings sind die Beispiele ausschließlich der deutschen Geschichte entnommen. Erinnerung wird auf zweifache Weise verstanden: Einmal als kollektives Gedächtnis, das Identität konstituiert; zum anderen als spezifisch protestantische, individuelle Erinnerungsweisen.

Dass diese Themen systematisch zusammengehören, ist nicht ganz einleuchtend – inhaltlich hätte dem Buch die Beschränkung auf eine der beiden Facetten gut getan. Dies gilt auch für die erfasste Zeitspanne, die vom 16. bis zum 20. Jahrhundert reicht. Die Untersuchungen zum 16. Jahrhundert führen in den engeren Bereich lutherischer Traditionsstiftung und Luther-Memoria. Die zeitlich später angesiedelten Beiträge erscheinen dagegen thematisch äußerst heterogen, ja beliebig. Eine Konzentration auf das 16. und womöglich das 17. Jahrhundert hätte den Vorteil gehabt, dass man mit der konfessionellen Identität eine gesellschaftlich prägende Identität fassen könnte. Diese Zentralstellung des Konfessionellen geht im 18. Jahrhundert verloren. Auch danach gibt es protestantische Identität und Erinnerung: Aber sie ist nicht mehr die Gesellschaft als ganze prägendes Strukturelement, sie franst aus, wird disparat, verbindet sich mit anderen Identitätsangeboten. Das macht sie zwar nicht weniger interessant, aber eher ungeeignet für kurze Sammelbände, die stark zum Auswählen gezwungen sind.

In der Abteilung zum 16. Jahrhundert, die ich hier am breitesten besprechen möchte, werden vier Aspekte lutherischer Identität im Spiegel von Memoria und Historiografie untersucht. Marcus Sandl beschreibt die exegetische Ausgangssituation der Reformation, die sich nicht mehr an philosophischen Wahrheiten, sondern – so die bedenkenswerte Ausgangsthese – am partikularen Hier und Jetzt orientierte. Dadurch sei sie fast zwangsläufig in ein zumindest rhetorisches Spannungsverhältnis zu den überzeitlichen Fixierungsversuchen der Bekenntnisschriften geraten. Diese Spannung sei im Luthertum dadurch abgefedert worden, dass man im Konkordienbuch von 1580 nicht mehr versucht habe, die Eigenheiten der verschiedenen in ihm aufgenommenen Bekenntnisse zu glätten, sondern sie nebeneinander stellte: Vielfalt statt Einheit also als Kompromiss zwischen Bekenntnisfixierung und „Historizität“ der Bibelauslegung. Ob die hochsubtile Argumentation Sandls über eine textargumentative, rein geistesgeschichtliche Ebene hinaus trägt, und in welcher Weise diese komplexe Situation von den Zeitgenossen wahrgenommen und genutzt wurde, ist allerdings zweifelhaft.

Susan R. Boettcher kann am Beispiel Cranachscher Lutherdarstellungen sowohl die differierenden Memorialinteressen unterschiedlicher lutherischer Fraktionen als auch die Verbindung genuin „konfessionalisierender“ Ziele mit sich nur langsam wandelnden kulturellen Traditionen aufzeigen. Prägend war daneben auch der jeweilige Kontext der Lutherbiografien von Mathesius und Spangenberg, die unterschiedliche Ereignisse als Ausgangspunkt der Reformationsmemoria präsentierten: Während der Melanchthonianer Mathesius sich an der Confessio Augustana orientierte, stellte der Gnesiolutheraner Spangenberg Luthers Wormser Bekenntnis von 1521 in den Mittelpunkt. Thomas Fuchs zeigt unterschiedliche Strategien von Aneignung und Ablehnung der mittelalterlichen Kirchengeschichte durch Lutheraner. So weist er auf die durchaus differenzierte Rezeption des Mendikantenordengründers Dominikus hin, der in einigen lutherischen Heiligenkalendern als Reformator stilisiert wird. Das alles ist aufregend und lehrreich, wurde aber von Fuchs bereits vor einigen Jahren vorgestellt.1 Skeptisch bin ich darüber hinaus, ob die von Fuchs in der lutherischen Geschichtsschreibung in hohem Maße identifizierten apokalyptischen Deutungsmuster tatsächlich nur ein „Sprachspiel“ darstellten, „dessen Konventionen sinnentleert“ (S. 74) waren und das mit dem Ausbleiben des Weltendes schon in der Mitte des 16. Jahrhunderts in eine Krise geriet. Beim Lesen lutherischer Geschichtsschreibung des 17. Jahrhunderts gewinnt man nämlich einen ganz anderen Eindruck: Die apokalyptische Geschichtsdeutung wird hier weitertradiert und macht auch weiterhin einen wichtigen Bestandteil der historischen Selbstverortung des Luthertums aus.

Susanne Rau präsentiert eine Zusammenfassung ihrer Dissertation zur städtischen Chronistik in der Frühen Neuzeit. Sie konstruiert - wie auch Sandl - einen Widerspruch zwischen der angeblichen „Traditionsfeindlichkeit“ der Protestanten und ihrer eingehenden Beschäftigung mit der Geschichte. Mir scheint hier jedoch eine entscheidende Begriffsunschärfe vorzuliegen: Weder Luther noch sonst ein Protestant richtete sich jemals gegen alles Vergangene! Abgelehnt wurde zweierlei: erstens die Tradition als zweite Quelle der Offenbarung neben der Bibel, zweitens ganz bestimmte menschliche „traditiones“. Rau zeigt nun, wie in Bremen, Hamburg und Breslau Historiografen nach der Reformation die Geschichte ihrer Stadt protestantisch einfärbten. Worin bestand aber genau der Einfluss der Reformation auf die städtische Geschichtsschreibung? Raus Antwort darauf – „Luther und Melanchthon ging es in erster Linie um die Perpetuierung von Erfahrung“ (S. 101) – ist dürftig. Unplausibel, da empirisch nicht eingelöst ist auch die Abschlussthese, dass die protestantisch geprägte Stadtchronistik langfristig zum Niedergang der vom Buch Daniel her konzipierten Universalgeschichtsschreibung beigetragen habe.

Das 17. Jahrhundert wird mit Aufsätzen zur lutherischen Sterbekunst, zum lutherischen Gesangbuch und zur Zeit- und Sprachökonomie in lutherischen und pietistischen Milieus abgedeckt. Alle drei Beiträge sind anschaulich geschrieben und enthalten eine Reihe wichtiger Einsichten zur lutherischen Konfessionskultur, haben aber meines Erachtens wenig mit Erinnerung zu tun. Hier wird mit Tricks gearbeitet: mit „erinnerter Zukunft“ an die Zeit nach dem Tod im Fall der ars moriendi (S. 115-134), im Fall des Gesangbuchs mit dem „hymnischen Gedächtnis“, das an das „christliche Zentralereignis“ erinnert (S. 135-155); mit Zeit, nicht Erinnerung, im Kontext von Zeitknappheit und Sprache (S. 157-173).

Der Abschnitt über die Moderne wird eingeleitet mit einer Darstellung der Bachrenaissance zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Kontext des deutschen Nationalismus. Die Verbindung von Protestantismus und Nationalismus ist oft behandelt worden 2, insofern ist es einleuchtend, sie hier über das zwar marginale, im Einzelnen aber aufschlussreiche Thema Bach einzuführen. Zwei Artikel über Kulturkritik in der Dialektischen Theologie und über die verschiedenen Zugangsweisen zu Luther in der Theologie des frühen 20. Jahrhunderts bieten interessante, aber wenig überraschende Einsichten; ähnliches gilt für den etwas verloren wirkenden Schlussartikel über die Rolle Luthers in der bildenden Kunst der späten DDR.

Zum Schluss noch eine Bemerkung zur Begrifflichkeit. In den meisten Beiträgen wird vom Luthertum - einschließlich des Pietismus - gehandelt, selten kommt der Calvinismus zur Sprache. Auch die Täufer und die gesamte ‘radikale Reformation‘ bleiben ausgespart. Was gewinnt man also durch den nivellierenden Begriff des Protestantismus, der - wie einer der Beiträger anmerkt - nur dann sinnvoll verwendbar ist, wenn man Dinge beschreibt, die für den gesamten Protestantismus, nicht nur für konfessionelle Sondervarianten gelten? Es wären also Untersuchungen zu erwarten, die die Memorialbrüche eines in sich differenzierten Protestantismus beleuchten. Im Kontext der Luther-Memoria wäre beispielsweise eine Untersuchung über das mutmaßlich ambivalente und bisher nicht recht erforschte Lutherbild des deutschen, aber auch europäischen Reformiertentums interessant. Doch das Hantieren mit dem Protestantismusbegriff ist symptomatisch für den kleinen Sammelband: Er nimmt sich mehr vor, als er leisten kann - und der Leser ist enttäuscht.

Lebenszeit ist knapp: Das schärften lutherisch-orthodoxe wie pietistische Prediger ihren Gemeinden immer wieder ein. Joachim Jacob zeigt in seinem Beitrag, dass das Problem der menschlichen Zeitknappheit immer auch die Frage nach einem zentralen Lesekanon berührte. An welche Art von Büchern soll man seine kostbare Lebenszeit wenden? Beim vorliegenden Band muss man leider konstatieren: Nicht an diese Art von Buch.

Anmerkungen:
1 Fuchs, Thomas, Protestantische Heiligen-memoria im 16. Jahrhundert, in: HZ 267 (1998), S. 587-614.
2 Siehe zuletzt: Haupt, Heinz-Gerhard; Langewiesche, Dieter, Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt am Main 2001.

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