F. Wetzel: Heimisch werden durch Geschichte

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Titel
Heimisch werden durch Geschichte. Ústí nad Labem 1945–2017


Autor(en)
Wetzel, Frauke
Reihe
Veröffentlichungen des Collegium Carolinum (144)
Erschienen
Göttingen 2021: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Arnika Peselmann, Universität Würzburg

Im Herbst 2021 wurde in der grenznahen Stadt Ústí nad Labem im Nordwesten der Tschechischen Republik die Dauerausstellung „Unsere Deutschen / Naši Němci“ eröffnet, die sich der Geschichte der deutschsprachigen Minderheit in Böhmen, Mähren und Schlesien vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert widmet. Diese über viele Jahre vom dortigen Verein Collegium Bohemicum vorbereitete und von einigen Kontroversen begleitete Ausstellung erfuhr nationale wie internationale Beachtung und ist neben dem 2020 eingeweihten Sudetendeutschen Museum in München eine weitere Institution, die sich mit den komplexen und im 20. Jahrhundert äußerst konfliktreichen deutsch-tschechischen Beziehungen befasst.

Um ein vertieftes Verständnis dieser Beziehungen bemühen sich zahlreiche Forschungen, u.a. im Bereich der Geschichts- und Erinnerungskultur in und zu den tschechischen Grenzregionen, die von einer multikulturellen Vergangenheit und einem umfassenden Bevölkerungsaustausch nach 1945 geprägt sind.1 In diese Arbeiten reiht sich auch die Dissertation der Kulturwissenschaftlerin und Kulturmanagerin Frauke Wetzel „Heimisch werden durch Geschichte. Ústí nad Labem 1945–2017“ ein. Die Autorin interessieren darin insbesondere die „Komplexität der Beziehungen zwischen Mensch und Ort sowie die verschiedenen nationalen, historischen und individuellen Vorstellungen von Zugehörigkeit in Beziehung zur politisch-historischen Situation“ (S. 9). Zum Ausdruck kommen diese in der Konstruktion unterschiedlicher Stadtbilder von Ústí nad Labem, dem früher mehrheitlich von deutschsprachigen Einwohner:innen besiedelten Aussig an der Elbe, denen die Autorin sowohl auf Seiten der neuen als auch der ehemaligen Bewohner:innen nachspürt. Sie fragt, wie sich deren jeweilige Vorstellungen von der Stadt ähneln oder unterscheiden, wie sie rezipiert werden und sich gegenseitig beeinflussen.

Im Fokus der in sieben Kapitel gegliederten Studie stehen drei unterschiedliche Konstruktionsweisen von Erinnerungsorten: ikonische (Denkmäler, Mahnmale), rituelle (Gedenkveranstaltungen, Aufmärsche) und narrative (Historiografie, belletristische Literatur, Ausstellungen). Ein besonderes Anliegen Wetzels ist es dabei, die in der Forschungsliteratur bislang kaum thematisierte Bedeutung der Regionalgeschichtsschreibung und die Rolle von (Laien-)Historiker:innen als Produzent:innen von Geschichtsbildern herauszustellen. Dazu hat sie unter anderem regionale Zeitschriften, städtische Chroniken, Akten regionaler und städtischer Verwaltungsausschüsse und Dokumente von Minderheitenvereinen sowie aktuelle Websites ausgewertet. Zudem analysiert sie autobiografische Quellen wie Egodokumente und narrative Interviews, die sie mit ehemaligen und gegenwärtigen älteren Einwohner:innen geführt hat.

Die Beschränkung auf einen lokalen Raum erlaubt der Autorin zum einen die Untersuchung über einen längeren Zeitraum, der gesamtstaatlich relevante Zäsuren umfasst und deren Auswirkungen auf die Stadtgeschichte sie nachgeht. Zu diesen Einschnitten zählen die Vertreibung und Neubesiedlung nach Kriegsende, die politische Öffnung unter Alexander Dubček bis zur Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und schließlich die Einleitung der Samtenen Revolution und des politischen Wandels nach 1989. Zum anderen kann sie so den Schwerpunkt auf individuelle Akteur:innen legen, von denen sie einige ausführlich vorstellt. Bemerkenswert ist außerdem, dass Wetzel die Heterogenität der früheren und gegenwärtigen Einwohnerschaft anerkennt und sich nicht auf eine Gegenüberstellung von „deutschen“ und „tschechischen“ Erinnerungsgemeinschaften beschränkt, sondern auch nach dem kollektiven Gedächtnis der in Ústí lebenden Roma und der jüdischen Bevölkerung fragt. Löblich ist daher, dass sie auch entsprechend terminologisch differenziert und statt von „Deutschen“ konsequent von „Deutschsprachigen“ spricht, um so nationale Zuschreibungen zu vermeiden.

Mit ihrer Mikrogeschichte der Stadt möchte Frauke Wetzel den Prozess der Aneignung und „Heimatfindung“ abbilden. Sie versteht darunter die Verschränkung zwischen der Nutzung von „Heimat als Ideologie“ durch Verbände oder Politiker:innen einerseits und den „eigensinnig und individuell gelebten Prozess“ (S. 8f.) des Heimischwerdens andererseits. Um die unterschiedlichen Praktiken und Diskurse sowohl für die deutschsprachigen Zwangsausgesiedelten als auch für die Neusiedler:innen zu dekonstruieren, nimmt die Autorin unter anderem auf die in den Quellen relevanten, aber nicht äquivalenten Konzepte von „Heimat“, „domov“ und „vlast“ Bezug. Hilfreich wäre es dabei gewesen, wenn sie ihren Ansatz noch stärker in Bezug auf aktuelle Forschungsdebatten über eine Neujustierung des „Heimat“-Begriffs diskutiert hätte.2

Wer oder was im Stadtbild von Ústí erinnert oder vergessen wird, wandelt sich im Untersuchungszeitraum deutlich. Dies zeigt Wetzel sowohl anhand der Neucodierung des öffentlichen Raums, etwa durch die Umbenennung von Straßen (Kapitel 3), als auch anhand der gezielten Abrissaktionen, durch die das als kleinbürgerlich stigmatisierte Aussig verschwinden und im Sinne des propagierten Aufbaumythos Platz für ein neues Ústí geschaffen werden sollte. Vergleichend schaut Wetzel dabei auch auf die Gedenkpraktiken der zwangsmigrierten Aussiger:innen in der Ferne, die beispielsweise begannen, virtuelle Friedhöfe zu errichten. Nach 1989 entstanden schließlich gemeinsame Gedenkorte, wie für das als „Massaker von Aussig“ bezeichnete Progrom an deutschsprachigen Zivilist:innen im Juli 1945 (Kapitel 4).

Das fünfte Kapitel widmet Wetzel der Historiografie über Ústí von 1945 bis in die Gegenwart. Sowohl die Geschichtsschreibung der zwangsausgesiedelten Aussiger:innen, die sich in ihren Darstellungen lange auf den Zeitraum vor 1938 beschränkten, als auch die tschechische regionale Historiographie wirkten auf Autor:innen wie Adressat:innen stark identitätsstiftend. Letztere wurde in Ústí im Rahmen staatlicher Vorgaben von Fachhistoriker:innen ebenso wie von Laien betrieben. Allerdings wurde die staatlich forcierte Deutung von Ústí als „geschichtsloser Stadt“ nicht zuletzt durch materielle Kontinuitäten wie die museale Sammlung unterlaufen. Bemerkenswert ist, dass sich die Akteur:innen der neuen Regionalgeschichtsschreibung in der Tradition der deutschsprachigen Vorkriegs-Heimatkunde sahen (S. 202). Die Geschichte der deutschsprachigen Bevölkerung wurde jedoch weitestgehend marginalisiert und erst seit den 1990er Jahren aufgearbeitet. Dazu gehört auch eine gesonderte Betrachtung jüdischen Lebens sowie deutschsprachiger antifaschistischer Widerstandskämpfer:innen. Unterrepräsentiert bleibt nach wie vor die von Ausgrenzung und Verfolgung geprägte Geschichte der Roma.

Abgeschlossen wird die Arbeit von einer pointierten Zusammenfassung der Ergebnisse und einem umfangreichen Anhang: Neben Kurzbiogrammen der Interviewpartner:innen und anderer relevanter Akteur:innen enthält dieser auch ein Personenregister. Das Buch ist zudem mit zahlreichen Bildquellen bestückt, zu denen u.a. historische wie gegenwärtige Aufnahmen von Ústí/Aussig gehören.

Insgesamt hat Frauke Wetzel auf Basis eines breiten, deutsch- und tschechischsprachigen Quellenkorpus eine beeindruckende und überaus lesenswerte Studie vorgelegt, die in ihrer differenzierten Perspektive auf die unterschiedlichen Erinnerungsgemeinschaften der Stadt Ústí und deren „Heimatfindung“ einen wichtigen Beitrag zur bestehenden Literatur der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung in den von Bevölkerungsaustausch betroffenen tschechischen Grenzregionen leistet. Dazu gehört ebenfalls, dass sie den nicht unproblematischen Heimat-Begriff auch für individuelle Prozesse des Heimischwerdens diskutiert und dabei nicht nur Zwangsausgesiedelte, sondern auch explizit die Neusiedler:innen einschließt. Durch den gewählten Zeitausschnitt kann sie Umbrüche, aber auch Kontinuitäten über politische Zäsuren hinweg aufzeigen. Dank der Fokussierung auf eine Stadt und auf individuelle Akteur:innen gelingt es ihr, eine empirische Dichte zu schaffen, die Ambivalenzen und Abweichungen von der staatlichen Erinnerungs- und Geschichtspolitik, zu denen etwa das Narrativ von Ústí als geschichtsloser Stadt zählt, sichtbar macht. Ihr Verdienst ist es zudem, relevante tschechische Forschungsliteratur für eine deutschsprachige Leserschaft zu diskutieren.

Anmerkungen:
1 Kristina Kaiserova, Tschechische Erinnerungskultur in den ehemaligen deutsch-böhmischen Gebieten, in: Walter Schmitz (Hrsg.), Ein anderes Europa. Innovation – Anstöße – Tradition in Mittel- und Osteuropa, Dresden 2007, S. 315–320; Martina Krauss u.a. (Hrsg.), Erinnerungskultur und Lebensläufe. Vertriebene zwischen Bayern und Böhmen im 20. Jahrhundert – grenzüberschreitende Perspektiven, München 2013.
2 Vgl. beispielsweise Natalia Donig u.a. (Hrsg.), Heimat als Erfahrung und Entwurf, Münster 2009; Dana Bönisch u.a. (Hrsg.), Heimat revisited: kulturwissenschaftliche Perspektiven auf einen umstrittenen Begriff, Berlin 2020.

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