T. Sandkühler u.a. (Hrsg.): Geschichtskultur durch Restitution?

Cover
Titel
Geschichtskultur durch Restitution?. Ein Kunst-Historikerstreit


Herausgeber
Sandkühler, Thomas; Epple, Angelika; Zimmerer, Jürgen
Reihe
Beiträge zur Geschichtskultur (40)
Erschienen
Köln 2020: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
488 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Felix Hinz, Geschichte, Pädagogische Hochschule Freiburg

Die europäischen und nicht zuletzt die relativ zahlreichen deutschen Völkerkundemuseen sind voll von Objekten, die zur Zeit des europäischen Kolonialismus in die Sammlungen gelangten. Die europäischen Nationalstaaten und Großstädte verfolgten mit der Ausstellung von Dingen anderer Kulturen nicht nur Bildungsziele, sondern beabsichtigten auch, die eigene kulturelle, politische, militärische und oft auch „rassische“ Überlegenheit über diese zur Schau zu stellen – nicht zuletzt, um unter Hinweis auf eine selbstauferlegte Mission, die mit Zwang verbundene „Zivilisierung“ und Beherrschung sowohl der eigenen Unterschichten als auch der „Wilden“ in Übersee zu legitimieren sowie Artefakte der als doomed races Angesehenen zu „retten“ (Rebekka Habermas, S. 79-99). Doch die militärische Übermacht Europas in der Welt ist seit 1918 Geschichte und selbst die des Westens ist brüchig geworden, sodass auch die Selbstgewissheit angesichts der eigenen Geschichte ins Wanken kommt, während der die damaligen Kolonialmächte oft allenfalls pseudolegal mit dem Recht des Stärkeren agiert hatten.

Die westeuropäischen ehemalig imperialen Rumpfgesellschaften versuchen sich neu zu erfinden, indem sie ihre Politik (zumindest teilweise) an moralischen Prinzipien ausrichten – vielleicht auch, um, wie Romain Kirt es ausdrückte, nun wenigstens „Weltmacht der Herzen“ zu werden.1 Dies dürfte der tiefere Hauptgrund dafür sein, dass sie sich, aufgeschreckt durch Emmanuel Macrons kolonialkritische Grundsatzrede von 2017 und den von ihm in Auftrag gegebenen Bericht „Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationelle“2, jetzt mehr und mehr dafür interessieren, was sie während des Kolonialismus an Schuld auf sich geladen haben. Erstmals kommt ernsthaft die Frage nach Wiedergutmachung auf, erstmals werden auch die Forderungen nach „Restitution“ während der Kolonialzeit nach Europa verbrachter Kulturgüter nicht einfach abgewunken.3 Als in Deutschland das Humboldt-Forum geplant wurde, begann die Debatte von postkolonialen Aktivist:innen befeuert hitzig zu werden: Mittlerweile steht das Erbe der Aufklärung, mit ihm verbunden die gesamte europäische Wissenschaft und mithin auch die Institution „Museum“ (Mirjam Brusius, S. 144; Christoph Zuschlag, S. 439) unter Kolonialverdacht.

Den aktuellen Stand dieser Debatte um „Restitutionen“ beabsichtigt der vorliegende, vom Geschichtsdidaktiker Thomas Sandkühler (Humboldt-Universität zu Berlin), der Neuzeit-Historikerin Angelika Epple (Universität Bielefeld) und dem Hamburger Afrika-Historiker Jürgen Zimmerer herausgegebene Band mit 21 Beiträgen multiperspektiv einzufangen. Eine einleitende Studie der Herausgeber:innen, die selbst keine Aufsätze beisteuerten, ordnet die Debatte in den größeren postkolonialen Kontext ein, zu dem allerdings auch andere Aspekte der gegenwärtigen sorry culture, wie immer mehr öffentliche Entschuldigungen für Imperialismus und Kolonialismus, gehören würden. Der Einleitung folgen die Artikel, die in die vier Themenbündel „Positionen“, „Fallstudien“, „Deutschland postkolonial?“ sowie „Rechtsgeschichte und Geschichtskultur“ gegliedert sind. Mit dem letzten Beitrag bricht der Band recht unvermittelt ab. Eine abschließende, auswertende und ggf. auch abwägende Studie vermisst man. Ebenso fehlt ein Register, das gerade in einem Sammelband, der auch auf zahlreiche Akteur:innen, Orte und Objekte eingeht, bereichernd gewesen wäre.

Der Titel des Werks ist übrigens nicht glücklich gewählt. Das in der einführenden Studie erläuterte Konzept der Geschichtskultur (S. 18–33) wird nur im allerletzten Beitrag von Christoph Zuschlag aufgegriffen und trägt zu einem tieferen Verständnis der bisherigen Debatte kaum bei. Auch die Verkürzung derselben auf einen „Kunst-Historikerstreit“ wirkt trotz Erläuterung (S. 20) in seiner Ausblendung ethnologischer, philosophischer, juristischer und vor allem politischer Akteur:innen nicht überzeugend. Die Debatte ist ja letztlich eine politische, denn man wird die These wagen dürfen, dass links eingestellte Akteur:innen (also auch Wissenschaftler:innen) eher einer „Restitution“ zuneigen als rechts eingestellte. Wes Geistes Kind ist nun dieser Band, in dem es letztlich um Fragen der Geschichts- und Erinnerungspolitik geht? Um ihn zu kontextualisieren, muss man bedenken, dass derzeit diejenigen, die sich (teilweise mit Verve) für „Restitutionen“ einsetzen, die Debatte vorantreiben, während die, die dagegen sind, sich eher bedeckt halten. Einige Beiträger:innen des Bandes möchten explizit schon gar nicht mehr das „Ob“, sondern nur noch das „Wie“ von „Restitutionen“ diskutieren (z.B. Bettina Brockmeyer, S. 413). Sie argumentieren dabei im Kielwasser von Sarr / Savoy teilweise mit dem pauschalen Hinweis darauf, dass Kolonialismus Unrecht war und daher alles, was damit zusammenhing, illegal gewesen sei. Diejenigen, die noch dagegen halten, verlegen sich in fast schon hilflos wirkender Weise auf vernebelnde Verkomplizierung der Sachverhalte (aufwändige Provenienzforschung nötig; juristische Bedenken; Adressaten einer „Restitution“ oft unklar; konservatorische Aspekte müssten geklärt werden; Hermann Parzinger S. 101–112; Benno Nietzel, S. 160; Andreas Eckert, S. 245–259) und mehr oder minder praktikable alternative Vorschläge wie den eines in Wechselausstellungen herumzureichenden shared heritage (Hermann Parzinger, S. 108; Hartmut Dorgerloh, S. 113-123). Dadurch, dass Baden-Württembergs Landesministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst Theresia Bauer (Bündnis 90/Die Grünen) in der „Restitutionsfrage“ seit 2018 vorprescht, geraten die Zögerlichen noch mehr unter Druck.4

Auf jeden einzelnen der ausnahmslos ergiebigen Beiträge einzugehen, wird in diesem Rahmen leider nicht möglich sein, weshalb es hier stattdessen eher um allgemeine und vergleichende Beobachtungen gehen soll. Grundsätzlich – und nicht überraschend – fällt auf, dass die deutliche Mehrzahl der Beitragenden sich für eine „Restitution“ ausspricht, wenngleich die meisten von ihnen diese an Bedingungen geknüpft wissen wollen – unter diesen übrigens auch die afrikanischen Stimmen des Bandes. Eine die Postcolonial Studies auszeichnende Haltung, nämlich auch die Subalternen zu Wort kommen zu lassen, wird in allen Beiträgen mehr oder minder deutlich. Bedenkenswert (aber auch schwer umsetzbar) scheint der Hinweis darauf, dass nicht nur europäische Konzepte von Eigentum (Brigitta Hauser-Schäublin, S. 66–67, Sheila Heidt, S. 336) oder schlicht das europäisch determinierte Völkerrecht (Matthias Goldmann / Beatriz v. Loebenstein, S. 373) anzuwenden sind. Daher erscheint es wichtig, die Debatte nicht nur eine akademische bleiben zu lassen. Der Beitrag von Till Förster (S. 163–180) zeigt überdeutlich, dass man sie auch in die ländlichen außereuropäischen Regionen tragen müsste, wo sie offenbar bislang noch keine große Resonanz erfährt (Flower Manase, S. 185).

In diesem Zusammenhang ist außerdem der Hinweis wichtig, dass die aus den ehemaligen Kolonien hervorgegangenen Nationalstaaten nicht automatisch die idealen Ansprechpartner für eine „Restitutionsdebatte“ sind (Erhard Schüttpelz, S. 54) – jedenfalls sicher nicht ausschließlich, denn mitunter ist das Denken der entsprechenden Regierungen heute „kolonialer“ als dasjenige der ehemaligen Kolonialmächte.

Darüber hinaus ist eine nur von Brigitta Hauser-Schäublin (S. 56 u. 72-73) vorgebrachte Perspektive in der übrigen Debatte unterbelichtet: diejenige auf die Vorgeschichte der bisweilen vorschnell einseitig als Opfer deklarierten Gruppen, denen die Objekte einst ggf. unrechtmäßig entwendet wurden. Denn ist es z.B. wirklich unerheblich, dass die Könige von Benin waffenlose Europäer getötet hatten (selbst, wenn man sie wie Osarhieme Benson Osadolor, S. 210, als Späher und Spione bewertet), kurz bevor Europäer ihnen die heute weltberühmten Bronzen nahmen?5

Insbesondere der juristische Part des Sammelbands bringt für Historiker:innen neue Perspektiven ein, erweckt jedoch z.T. auch den Eindruck von Spiegelfechterei, wenn etwa wiederholt die Haager Landkriegsordnung von 1899 in Bezug auf das koloniale Afrika bemüht wird (z.B. Benno Nietzel, S. 153, oder Judith Hackmack / Wolfgang Kaleck, S. 387), die ja im Grunde nur zwischen „zivilisierten“ Völkern gelten sollte. Dass damals im Krieg mit „Wilden“ alles Mögliche erlaubt war, ist jedem:r Kolonialhistoriker:in bewusst. Im kolonialen Kontext wurde, da die Verlockung groß und die Kontrolle gering war, immer schon das Recht gebeugt.

Die vielleicht wichtigste Einsicht der Beiträge lautet, dass „Restitutionen“ nicht reinwaschen werden (z.B. Erhard Schüttpelz, S. 52). Wenn man diesen Weg geht, muss einem klar sein, dass es dann nicht dabei bleiben kann, denn „Restitutionen“ beinhalten ein Schuldeingeständnis, das dann auch öffentliche Entschuldigungsakte, einen fortlaufenden Dialog und angemessene Reparationen folgerichtig sein lassen. Dabei ist die Annahme, dass koloniale Strukturen heute überwunden seien, irreführend. Moralisierende Selbstgefälligkeit ist also völlig unangebracht (vgl. Brigitta Hauser-Schäublin S. 59).

Der Umstand, dass vier Beiträge auf Englisch abgedruckt sind (während ein ursprünglich französischer ins Deutsche übersetzt ist), wirft die Frage auf, weshalb nicht gleich der ganze Band auf Englisch publiziert wurde, denn die Entscheidung für eine vorwiegend deutsche Veröffentlichung hat nun wieder zur Folge, dass ein Dialog auf Augenhöhe mit außereuropäischen Partnern erheblich erschwert wird. Die Gesellschaft der ehemaligen deutschen Kolonialmacht kann nun zwar immerhin auch Stimmen der Erben der Kolonisierten vernehmen, aber nicht umgekehrt. Ja, selbst der Erfahrungsaustausch mit anderen ehemaligen Kolonialmächten, der allerdings wiederum in Außereuropa unter Kolonialverdacht steht (Osarhieme Benson Osadolor, S. 220), dürfte auf Deutsch kaum möglich sein. Aus diesem Grund ist dem eine postkoloniale Diskussion zweifellos anregenden Band, solange er noch aktuell ist, eine Übersetzung ins Englische sehr zu wünschen.

Anmerkungen:
1 Romain Kirt, Europa – die Weltmacht der Herzen. Zukunftsszenarien für das 21. Jahrhundert, Hildesheim 2009.
2 Felwine Sarr / Bénedicte Savoy, Rapport sur la restitution du patrimoine culturel africain. Vers une nouvelle éthique relationelle, November 2018, http://restitutionreport2018.com/sarr_savoy_fr.pdf (30.07.2021).
3 Im Text wird „Restitution“ in Anführungszeichen gesetzt, da der Begriff bereits einen Raub und damit eine juristische Bewertung voraussetzt.
4 Vgl. jüngst: dpa, Konkrete Auftrag ans Linden-Museum. Baden-Württemberg macht den Weg frei für Rückgaben von Benin-Bronzen an Nigeria, in: Badische Zeitung, 22.7.2021, S. 9.
5 Vgl. Brigitta Hauser-Schäublin, Dieses Blut gehört dem König. Die Benin-Bronzen, 1897 von den Briten erbeutet, sind heute die Galionsfiguren der Restitutionsdebatte. Ihre Geschichte wird in einer bereinigten Fassung erzählt, in der Täter und Opfer zu säuberlich sortiert sind, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.03.2021, S. 14.

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