Cover
Titel
Objektivität.


Autor(en)
Daston, Lorraine; Galison, Peter Louis
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
531 S.
Preis
€ 34,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerdien Jonker, Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung Braunschweig

Dies ist nicht irgendein Buch. Seit es vor zwei Jahren gleichzeitig in Boston und Frankfurt am Main erschien, hat Objektivität vor allem im englischsprachigen Raum zahlreiche Besprechungen in hochrangigen Zeitschriften erfahren, unter anderem in „The American Scientist”, “Perspectives in Science”, “The Times Literary Supplement” und der “Quarterly Review of Biology“. Dort wurde es als originell, brillant, gut geschrieben und “shockingly new” gepriesen. Worum geht es in diesem Buch? Es geht um die Herstellung von wissenschaftlichen Attitüden gegenüber dem Untersuchungsobjekt, den so genannten epistemischen Tugenden, mit deren Hilfe seit dem siebzehnten Jahrhundert die Natur in wissenschaftlichen Atlanten abgebildet wird. Atlanten sind das Untersuchungsobjekt der beiden Autoren. Damit grenzen sie sich von der Kunst auf der einen Seite und der philosophischen Betrachtung auf der anderen Seite ab und stellen das Bild in der Wissenschaft in den Mittelpunkt. Die Bilder, die sie besprechen, spiegeln nicht die Sichtweise einzelner wider, sondern die von „Beobachtergemeinschaften, die dieselben Dinge in derselben Weise sehen“ (S. 27). Gemeinschaften produzieren die wissenschaftlichen Bilder und werden zugleich auch von ihnen gestiftet.

In den Kapiteln werden drei wissenschaftliche Attitüden vergleichend nebeneinander gestellt: „Naturwahrheit“ (Kapitel 2), „Mechanische Objektivität“ (Kapitel 3) und „Geschultes Urteil“ (Kapitel 6). Dazwischen befindet sich stets das „wissenschaftliche Selbst“ (Kapitel 4). Um die Frage, was man tun und wie man den eigenen Körper disziplinieren soll, um die wahre, die objektive bzw. die geschulte Sichtweise zu reproduzieren, dreht sich das Buch. Wie sich bald erweist, produzierten die drei Wissenschaftsideale ganz unterschiedliche Akteure, die einen pedantisch, die anderen selbst verleugnend und asketisch, die letzten intuitiv und reflexiv. Auch die Mittel mit denen sie das, was sie sahen, zu Papier brachten, divergierten. Die Kernfrage lautet: Wie ist die richtige Abbildung mit dem wissenschaftlichen Selbst verbunden? Die Geschichte dieses Selbst und die Betrachtung der Produkte, die es zustande bringt, machen Objektivität zu einer spannenden und überaus vergnüglichen Lektüre.

Eine kurze Zusammenfassung der aufgeführten Episteme möge die Brisanz des Themas verdeutlichen. „Naturwahrheit“ verkörperte seit Mitte des siebzehnten Jahrhunderts den Wunsch, hinter dem unendlichen Facettenreichtum der Natur das Ideal herauszuarbeiten. Nicht die zufällige Erscheinung einer einzigen Pflanze, eines Tieres oder menschlichen Organs interessierte hier, sondern der Prototyp, die Pflanze, das Tier oder das Organ „an sich“. Dies sichtbar zu machen, erforderte stets erhebliche Eingriffe seitens der wissenschaftlichen Beobachter, die nicht davor zurückschreckten, die Zeichnungen der Künstler, die naturgetreu arbeiteten, zu „korrigieren“, bis diese in Übereinstimmung mit dem postulierten Ideal gebracht waren. Die Forscher funktionierten dabei stets als die zentrale Schaltstelle, in der die vielen unterschiedlichen Momentaufnahmen von Bäumen, Blumen und Kräutern, Vögeln und exotischen Menschen zu einem Ganzen zusammengefügt und in statischen Bildern kristallisiert wurden.

Ganz anders war die „Objektivität“, die um 1860 der „Naturwahrheit“ die Herrschaft streitig machte, der Versuch die eigene Persönlichkeit auszuklammern und Techniken zu entwickeln, die die Natur „automatisch“, ohne Eingriff von Seiten der untersuchenden Person, einzufangen vermochten. Sie war „das Verlangen, ein leidenschaftlicher Entschluß, den Willen zu unterdrücken und die sichtbare Welt ohne Interventionen auf dem Papier erscheinen zu lassen“ (S. 151). Die Methode, das zustande zu bringen, bevorzugte Fotoapparate statt Zeichner. Statt Kunstfertigkeiten bedienten sich die Untersucher Maschinen, zu deren Handlanger sie sich machten. Nicht sie stellten fest, was „Wahrheit“ sei, sondern die Maschinen hielten diese in vielen einzelnen Momentaufnahmen fest. Produziert wurden jetzt Fotoserien von Tropfen, die auf einem Gegenstand aufprallten, von sich schnell mehrenden Bakterien unter einem Mikroskop, von Entwicklungsstadien von Embryos und der unendlichen Varianz der Schneeflocken. Dabei ging es auch um die Bewegung, um die atemberaubende Schnelligkeit, mit der sich die einzelnen Momentaufnahmen ablösten.

Um 1905 konnten viele Forscher die explodierende Bildervielfalt schon nicht mehr bewältigen. Wo alles denselben Stellenwert erhielt, wurde das Resultat geradezu unbrauchbar. Wie, so fragte sich zum Beispiel der Radiologe R. Grashny, konnte man das Normale gegen das Pathologische abgrenzen? (S. 327) So entwickelte sich eine Strategie, welche der eigenen Übung und Erfahrung ein kontrolliertes „re-entry“ verschaffte, „das geschulte Urteil“.

Damit ist die Geschichte, die in diesem Buch erzählt wird, umrissen. Sie fängt mit dem Atlas von Linné (1737) an und hört mit Momentaufnahmen von Nanoröhrchen (2007) auf. Den Höhepunkt der Objektivität fixieren die Autoren indes zwischen ca. 1860 und 1910. Objektivität, so das Fazit, entspricht einer wissenschaftlichen Haltung unter anderen. Sie ist datierbar und ihre Geschichte ist begrenzt. Es gibt ein vorher und daher wahrscheinlich auch ein nachher, so einfach ist das. Der Leser akzeptiert und rechnet: 1750, 1850, 1900 – was war da los? Entspricht das nicht der so genannten Sattelzeit, in der sich nicht nur das Begriffsinstrumentarium der Wissenschaft, sondern auch viele andere gesellschaftliche Begriffe grundlegend gewandelt haben? Gegen die übliche Periodisierung der drei Episteme und gegen ihre Verortung in den jeweiligen gesellschaftlichen und politischen Rahmen wehren die Autoren sich jedoch ganz entschieden. Ihre Periodisierung, so explizieren sie, „verläuft nun mal quer zu den üblichen Einschnitten [..] zwischen früher Neuzeit und Moderne“ (S. 51).

Erstens, so sagen sie, ist Objektivität zwar ohne vorhergehende Naturwahrheit nicht denkbar, aber diese löste jene nicht ab, ebenso wenig wie das geschulte Urteil die Objektivität ersetzte. Vielmehr existieren sie nebeneinander weiter. Zweitens setzt sich das Neue erst allmählich neben dem Alten durch. Um diesen Prozess zu verdeutlichen, bemühen die Autoren eine ganze Reihe Naturvergleiche: Es ist die Rede von einer Lawine, einer Unwetterfront und einer Frühlingsschmelze. Die Vergleiche rufen Reinhart Kosellecks’ geologische Schichten, in denen die Geschichte gebannt ist, geradezu herausfordernd in Erinnerung. Wo jedoch Koselleck von Ablagerungen spricht, die nur manchmal etwas preisgeben, setzen diese Autoren die unbezwingbaren Naturgewalten dramatisch in Szene. Wie bei einer Lawine zuerst ein Stein ins Rollen kommt, dann noch einer, bis eine kleine Erschütterung das ganze Brett herunterstürzen lässt, so sehen sie auch das Eintreten der Objektivität in die Wissenschaft.

Gesellschaftliche Vorgänge mit Naturereignissen zu vergleichen, bringt Vor- und Nachteile. Der entscheidende Vorteil ist wohl, dass damit das kausale Denken, das ebenfalls um 1750 Einzug hielt, unterbrochen wird. Geschichte verläuft nicht auf der geraden Linie, auf der sie seitdem abgebildet wird, sondern wird bestimmt von Kontingenz, vom Eintreffen des Unvorhergesehen, von der Katastrophe bis zum Zufall. Der Nachteil offenbart sich vielleicht denjenigen Wissenschaftlern, die sich nicht der Wissenschaftsgeschichte widmen, sondern sich zum Beispiel mit Soziologie oder Bildung beschäftigen, am ehesten. Mit der Unterbrechung der Denkkonvention, Frühe Neuzeit und Moderne zu kontrastieren, scheint erstens auch die Möglichkeit weggefallen, danach zu fragen, was das jeweilige Forschungsethos mit anderen gesellschaftlichen Phänomenen verband. Wenn die Änderungen sich lawinenartig manifestierten, wie wurden die Erschütterungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen registriert? Oder andersherum, wenn es nur ein Steinchen war, das die Sache ins Rollen brachte, woher kam dieses denn? Was zum Beispiel hatte die Wahl der Abbildungen – und es macht nun mal ein Unterschied, ob man einen Kohlkopf oder einen aufprallenden Wassertropfen abbilden will – mit gesellschaftlichen Erwartungen und Anforderungen zu tun? Auf welches Problem antwortete die Auswahl? Berührte sie die ökonomischen Interessen der Handelsgesellschaften? Entsprach sie dem gesellschaftlichen Empfinden einer Zeitbeschleunigung? Oder reagierte sie auf das sich ändernde Verständnis von Volkshygiene und Gesundheit?

Zweitens, wenn die Forschung im achtzehnten Jahrhundert Zeichner brauchte, die die Natur so abzeichneten, wie die Forscher es für richtig hielten, was bedeutete das für die Schulbildung, in der die kleinen Forscher und Zeichner in spe gedrillt wurden? Standen etwa im achtzehnten Jahrhundert Biologie und Zeichnen auf den Stundenplan? Gleiches gilt für die Objektivität. Wie reagierten die nationalen Bildungssysteme auf die sich ändernden Wissenschaftsbetrachtungen? Wie bereiteten sie diese vor? Es sind Fragen, die nur eine anregende Lektüre hervorzurufen vermag. Das Buch Objektivität öffnet Blicke auf ein atemberaubendes Panorama, in dem nicht nur die Bilder, die die Welt abbilden sollen, Bedeutung erhalten und wieder verlieren, sondern auch die Akteure, die die Bilder herstellen, ihre Gestalt wechseln. Auf jeder Seite könnte es gedanklich in alle Richtungen weitergehen. Die beiden Autoren halten sich indes an den von ihnen abgesteckten Rahmen. Die Anschlusspunkte muss sich der Leser selber heraussuchen, aber vielleicht steckt dahinter planvolle Absicht?

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