Erfahrungsformen von Eigentum. Phänomenologische Perspektiven für sozialanthropologische Forschungen


Akademische Arbeit, 2020

14 Seiten, Note: 5.5 (Schweiz)


Leseprobe


1. Einleitung

Viele anthropologische Forschungen, die sich mit der Thematik Eigentum beschäftigen, lassen sich, so meine Ausgangsthese1, in zwei Kategorien einteilen, die sich aber keineswegs ausschliessen müssen. Die erste Kategorie will ich ontologische Forschung nennen. In ontologischen Forschungen der Anthropologie wird untersucht, was begrifflich gesehen Eigentum ist, welche Gegenstände und Objekte oder andere Entitäten als Eigentum betrachtet werden können und welche Rolle sie im Leben der Menschen spielen.2 So beschreibt bspw. Tsing (2019), wie das Pilzesammeln als Generierung von Eigentum verstanden werden kann und wie das Eigentum sich im kapitalistischen, globalen Markt verändert. Hierbei folgt sie der Theorie von Marx (2009) und erneuert seine Auffassung von Aneignung und Kapital. Währendem nämlich die Pilze auf den Allmenden noch als Trophäen einer freiheitsorientierten, epikapitalistischen Praxis angesehen werden, werden sie anschliessend in der globalen Lieferkette zu einer entfremdeten Ware, die sich nur anhand des Marktpreises definieren lässt (Tsing, 2019: 174). Der Status des Eigentums (hier der Pilze) verändert sich und damit nicht nur sein ökonomischer Wert sondern auch seine gesellschaftlich-kulturelle Bedeutung.

Die zweite Kategorie will ich genealogische Forschung nennen. Genealogische Forschung konzentriert sich im Gegensatz zur ontologischen Forschung eher auf die historische Entwicklung von Eigentum, wie sich also die Auffassung von Eigentum im Laufe der Zeit entwickelt hat. Auch hier werden wieder funktionalistische, ökonomische und politische Aspekte beleuchtet, wobei die diachrone Entwicklung des besagten Eigentums im Zentrum steht. So zeigt beispielsweise Pistor (2019), wie Eigentum sich als Bündel von Rechten in England und Grossbritannien etabliert hat, indem Land zuerst verpachtet und später mehr und mehr privatisiert wurde. Die Vergrösserung von privatem Vermögen, der vermeintliche Schutz vor einer Tragik der Allmende, Gewohnheitsrecht und Traditionen spielten dabei unterschiedliche argumentative Rollen und wurden im politisch-gesellschaftlichen Diskurs ausgehandelt.

Ich möchte im vorliegenden Essay nicht die beiden Positionen mit ihrem je eigenen Forschungsansatz exemplarisch aufzeigen, sondern stattdessen den beiden Forschungsansätzen einen dritten an die Seite stellen, den ich als phänomenologische Forschung bezeichne. Die phänomenologische Forschung geht von der Erfahrungsform aus (Knibbe & Versteeg, 2008: 48). Dementsprechend würde es in diesem Ansatz also um die Frage gehen, wie überhaupt Eigentum erfahren und erlebt wird. Dabei werden nicht nur subjektive Erfahrungsberichte gesammelt, in denen von Eigentum berichtet wird, sondern es wird zusätzlich versucht, die darin zugrundeliegenden Erfahrungsformen zu erklären, um damit aufzuzeigen, wie die Erfahrung von Eigentum in der gegebenen Situation überhaupt zustande kommt und welche Bedeutung dem Eigentum dadurch zugemessen wird (Fellmann, 2015: 157).3 Obwohl bspw. Tsing und Pistor auch auf phänomenologische Aspekte zur Erfahrung von Eigentum eingehen, werden diese in ihren Werken jedoch nur marginal behandelt. Aus diesen Gründen scheint es mir angebracht, diesen Ansatz als einen eigenen hervorzuheben.

Dementsprechend ist es das Ziel der vorliegenden Arbeit, herauszukristallisieren, wie solche Erfahrungsformen aussehen könnten. Dabei wird versucht, einige Anknüpfungspunkte zu präsentieren, wie Eigentum phänomenologisch in der Sozialanthropologie erforscht werden könnte und wie damit das Erleben von Eigentum interpretiert werden kann. So wird eine Thematik aufgedeckt, die bisher noch nicht genügend beleuchtet wurde. Anhand dessen lassen sich verschiedene Erfahrungsformen von Eigentum herauskristallisieren und analysieren. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass die phänomenologische Forschung die anderen beiden hier erwähnten Forschungsansätze in der Anthropologie ausschliesst. Vielmehr können sie ergänzend miteinander verbunden werden (Desjarlais & Throop, 2011: 95). Die vorliegende Arbeit ist insofern theoretisch-methodologischer Natur und versucht einen ersten Grundstein zu legen für weitere phänomenologische Forschungen zu Eigentum in der Sozialanthropologie.

2. Erfahrungsformen von Eigentum

Die zweite These, die ich hier vertreten möchte, lautet, dass verschiedene Formen von Erfahrung existieren (Prechtl, 2012: 29f) und diese damit das Erleben von Eigentum unterschiedlich beeinflussen. Jene Formen sind jedoch nicht zwangsläufig kategorisch zu unterscheiden, sondern können auch mit- und untereinander zusammenhängen. Ich will in der vorliegenden Arbeit vier verschiedene Formen von Erfahrung präsentieren.4

Weiter gehe ich davon aus, dass wir in der Theorie von Heidegger (2006) genügend fruchtbare Ansatzpunkte finden, um eine mögliche Grundlage für eine phänomenologische Forschung von Eigentum zu entwickeln. Heidegger geht davon aus, dass wir immer schon in-der-Welt-sind, dass der Mensch also in der Welt schon sinnerkennend und sinnstiftend da ist (Heidegger, 2006: 66f). Die Welt in der Eigentum dem Menschen begegnen kann, ist daher schon in verschiedenen Arten und Formen erschlossen. Diese verschiedenen Arten von Welterschliessung bilden den Bedeutungszusammenhang der Welt (Figal, 2016: 76). Diese Bedeutung formt und bestimmt daher auch die Art und Weise, wie Eigentum erfahren und erlebt wird. Dabei kann sich der Fokus der Erfahrung und die Form der Erfahrung jeweils ändern (Desjarlais & Throop, 2011: 90).

Die vier Formen die ich hier vorstellen will, lassen sich wie folgt aufteilen: Die offensichtliche Erfahrung von Eigentum (2.1.) sowie deren Unterformen Erschliessung (2.1.1.) und Abhandenkommen (2.1.2.). Zusätzlich existieren auch alltägliche Formen (2.2.) und zwar die Zuhandenheit (2.2.1.) und die Leiblichkeit (2.2.2.). Diese vier Formen sollen nun der Reihe nach vorgestellt werden, ohne damit suggerieren zu wollen, dass die Liste vollständig ist, oder dass die Reihenfolge eine Form von Rangordnung der besagten Formen darstellen soll.

2.1. Offensichtliche Formen

Wenn wir uns die Frage stellen, wie Eigentum erfahren wird, so ist es naheliegend jene Formen von Erleben zu untersuchen, in denen Eigentum auffällig wird (Heidegger, 2006: 73). Das Eigentum als Ding rückt dabei in den Fokus der Wahrnehmung und wird daher bewusst erfahren. In dieser Form des Erlebens ist auch die Bedeutung des Eigentums im Handlungsvollzug des Menschen schon in gewisser Weise geklärt (Mugerauer, 2015: 52), wie sich anhand der Erschliessung und des Abhandenkommens noch genauer zeigen wird.

2.1.1. Erschliessung

Die Erschliessung von Eigentum ist jene Form der Erfahrung, die man erlebt, wenn Eigentum angeeignet wird. Menschen planen ihren Lebensvollzug und hierbei benötigen sie Gegenstände und/oder Dinge (teilweise auch immaterielle), die vorerst erschlossen werden müssen (Heidegger, 2006: 85). Dabei rückt der Gegenstand oder das Ding, welches erschlossen wird, so in den Fokus des Bewusstseins, dass es in die Pläne des eigenen Lebensvollzugs implementiert wird. Diese Interpretation der Erfahrung nennt Heidegger in seinem Spätwerk auch Bestand (Heidegger, 2000: 16). In der Erfahrung von Bestand wird das zur Aneignung geplante Ding ausdifferenziert, skaliert und in seiner pragmatischen Wirksamkeit eruiert. Das Eigentum stellt sich dabei in den Dienst der eigenen Lebenspläne.5

Ansätze für die sozialanthropologische Forschung findet man folglich in all jenen Bereichen, in denen Güter erschlossen werden. So beschreibt beispielsweise Li, wie Land in Indonesien zuerst temporär und in Form von Allmenden genutzt wurde und in soziokulturelle Kontexte eingebettet war (Li, 2014: 58f). Erst durch die Einführung kapitalistischer Strukturen wurde Land zu einem Bestand, also zu einer Ressource, die aufgebraucht werden kann und ökonomisch erschlossen werden muss. Dabei hat sich nicht nur die Sprache der Lauje People verändert (die Einführung des Wortes "Land" als Eigentum), sondern auch eine grosse Spannbreite an anderen gesellschaftlichen Gepflogenheiten (Li, 2014: 115f). So entstanden beispielsweise notarisch festgehaltene Schulden sowie kriminelle Investitionen und Allokationen. Li erklärt in ihrer Forschung jedoch hauptsächlich, welche ökonomischen Auswirkungen dies auf die Lauje People hat, aber nicht, wie das Land als Eigentum sich im Erfahrungsgehalt dieser Menschen verändert hat. Es scheint jedoch wichtig zu sein, genauer zu betrachten, wie es dazu kommt, dass Landbesitz und dessen Ernte auf einmal verschuldet werden können und wie sich das Erleben der Bevölkerung durch solche Entwicklungen verändert. Es ist deshalb wichtig, weil nicht nur gesellschaftlich-ökonomische Veränderungen stattfinden, sondern auch das Erleben dieser Menschen. Mögliche Forschungsfragen wären hier bspw.: Wie verändert sich der Blickwinkel auf das Land, wie auf sich selbst, den Markt und die SchuldnerInnen etc.? Welche Bedeutungsaspekte erscheinen bei der Erschliessung von Bestand und welche gehen dabei verloren?

2.1.2. Abhandenkommen

Eine weitere Form des auffälligen Modus von Eigentum in der vorgeschlagenen Terminologie ist das zum Erschliessen gegenteilige Abhandenkommen. Das Abhandenkommen ist daher ein defizitärer oder negativer Modus der Erfahrung, weil Eigentum in seinem Fehlen oder seinem Ungenügen in den Fokus der Erfahrung rückt (Safranski, 2015, 181). Das Eigentum ist also paradoxerweise in seiner Abwesenheit im Bewusstsein. Damit ist also auch schon seine Bedeutung erschlossen, denn es ist nur fehlend oder untauglich, wenn es in seinem Verwendungspotenzial schon erfasst wurde. Dennoch bleibt das fehlende oder ungenügende Eigentum in diesem Modus der Erfahrung dinghaft, wird also als Entität erlebt, die sich auf die Erfahrung davon reduzieren lässt (Heidegger, 2006: 74).

Verdereys Ethnografie (2003) beschreibt, wie Land als Ressource in postkommunistischen Ländern Osteuropas rechtlich sowie gesellschaftlich erfasst, verteilt und verhandelt wird. Viele Bauern und Bäuerinnen haben Probleme, das Land zweckgemäss und effizient zu bewirtschaften oder scheitern am Konkurrenzdruck des internationalen Marktes. Land als Eigentum und Ressource für ökonomische und rechtliche Interessen wird dabei in seinem defizitären Modus erschlossen. Das bedeutet, entweder fehlt es (resp. es hat zu wenig Land) oder es ist ungenügend (resp. es ist nicht fruchtbar genug) (Verderey, 2003: 123f). Das Land und die Art und Weise wie es wahrgenommen wird, unterliegt unterschiedlichen gesellschaftlichen (historischen und rechtlichen) sowie diskursiven (moralischen und arbeitsethischen) Ordnungen, welche durch den auffälligen Modus des Abhandenkommens von den verarmten Bauern und Bäuerinnen kritisiert und bekämpft werden. Hierbei müssen sie sich sowohl gegen politische Parteien und bürokratische Hürden als auch gegen Einzelpersonen durchsetzen, resp. scheitern an ihnen. Dieser defizitäre Modus ist hierbei die Form, in der das Land erschlossen wird. In ihr erleben die Menschen Eigentum als ein Abhandenkommen. Auch hier wäre es möglich, weitere phänomenologische Untersuchungen der Personen durchzuführen, um ihr Erleben davon genauer zu verstehen. Wie ist also das Land und dessen Fehlen oder Unfruchtbarkeit im Lebensplan der Bauern und BäuerInnen verankert? Welche Gewichtungen von Wohlstand/Not, Eigeninteresse und andere Aspekte spielen hier bei der Erfahrung des Abhandenkommens eine Rolle?

[...]


1 Es ist im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, eine ausführliche Darstellung des ethnografischen Diskurses widerzugeben. Im vorliegenden Essay beziehe ich mich daher nur auf eine beschränkte Auswahl an Literatur, im Wissen darüber, dass meine vorgebrachte These nicht auf jede anthropologische Forschung zutrifft.

2 Hierbei geht es nicht nur darum, Gesellschaftsgruppen aufgrund ihrer materiellen Basis ethnografisch zu erfassen und zu erklären, sondern beim sogenannten ontological turn geht man sogar soweit, dass man anhand der ontologischen Bestimmungen erklären kann, was kulturelle Leistungen und/oder Strukturen sind und was nicht (Carrithers et al., 2010).

3 Anhand von Tsings Forschung (2019) lässt sich die Dreiteilung von ontologisch, genealogisch und phänomenologisch am besten erklären, und es zeigt sich auch, dass sich die drei Forschungsrichtungen nicht ausschliessen: Der Pilz als ontologische Entität kann als Eigentum angeeignet werden und hat für die PilzsammlerInnen sowie für die HändlerInnen einen bestimmten Wert (sei dieser ökonomisch oder nicht). Als genealogische Forschung kann genau der Beschrieb jener historischen und ökonomischen Entwicklungen angesehen werden, in welcher das Pilzsammeln und -verkaufen sich verändert hat. Die Art und Weise, wie der Pilz erfahren wird, das heisst als Trophäe oder als entfremdete Ware, ist jedoch ein phänomenologischer Zugang. Der letzte Punkt wird bei Tsings Forschung jedoch am wenigsten beachtet.

4 Dadurch werden die vier einzelnen Analysen aus Platzgründen jedoch weniger detailliert betrachtet. Dennoch glaube ich, dass das Aufzeigen der vier verschiedenen Formen mehr Erkenntniswert für künftige Perspektiven einbringt als eine einzelne tiefgreifende Analyse.

5 Selbstverständlich kann man hier von einer menschzentrierten Ontologie absehen und den Gegenständen auch einen gewissen Aktantenstatus zuschreiben (vgl. ausführlicher Latour, 2019).

Ende der Leseprobe aus 14 Seiten

Details

Titel
Erfahrungsformen von Eigentum. Phänomenologische Perspektiven für sozialanthropologische Forschungen
Hochschule
Universität Bern  (Institut für Sozialanthropologie)
Note
5.5 (Schweiz)
Autor
Jahr
2020
Seiten
14
Katalognummer
V985731
ISBN (eBook)
9783346342096
ISBN (Buch)
9783346342102
Sprache
Deutsch
Anmerkungen
Note 5.5 (Schweiz) entspricht 1,5 (dt. Notensystem)
Schlagworte
Phänomenologie, Eigentum, Sozialanthropologie
Arbeit zitieren
Omar Ibrahim (Autor:in), 2020, Erfahrungsformen von Eigentum. Phänomenologische Perspektiven für sozialanthropologische Forschungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/985731

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