Revitalisierungsbewegungen


Seminararbeit, 1997

15 Seiten, Note: 1,7


Leseprobe


INHALTSVERZEICHNIS

1. Zum Begriff "Revitalisierungsbewegungen"

2. Hintergrund der untersuchten Bewegungen
2.1. Sozioreligiöse Bewegungen in Brasilien
2.2. Cargo - Kulte in Melanesien

3. Fallbeispiele
3.1. Canudos im Nordosten Brasiliens
3.2. Der Nacktkult auf Espiritu Santo

4. Vergleich der beiden Bewegungen

5. Schlußbetrachtung

7. Bibliographie

1. Zum Begriff "Revitalisierungsbewegungen"

Unter Revitalisierungsbewegungen werden religiöse und politische Bewegungen zusam­men­gefaßt, denen "der Wunsch zu einer Innovation der herrschenden Lebensbedingungen zu­grunde liegt" (Hirschberg, 1988:403). Revita­lisierungsbewegungen künden - meist durch einen Prophe­ten - in einer Botschaft mit oft apokalyptischem Charakter von einer besseren Welt ohne Leid, Hunger und Elend. Diese Botschaft ist fast immer synkretistisch, d.h. sie kombiniert tradi­tionelle Mythen und Rituale mit eingeführten, meist christlichen Elementen. Revitalisierungsbewe­gungen, je nach ihrer speziellen Erschei­nungsform auch nativisti­sche, messianische, millenaristi­sche[1] oder chiliasti­sche[2] Bewegungen (und - allgemeiner - Heilserwartungsbewegungen, Auf­bruch- und Befreiungsbewegungen) genannt (Ertle 1972:61), treten am wahr­scheinlichsten in Kul­turen auf, in denen drei Bedin­gungen aufeinandertref­fen: Ein schneller Wandel, oft veran­laßt durch fremde Personen, Bräuche, Objekte, und Fremdherrschaft, insbesondere in kolonialen Situationen, können zu einem Gefühl der kulturel­len Unterlegenheit führen, und, daraus resultie­rend, zu einem Eindruck des Mangels an Wohlstand, Macht und Selbstwertgefühl (Peoples und Bailey 1994:342).

Wallace definiert Revitalisierungsbewegungen als einen "deliberate, organized attempt by some members of a society to construct a more satisfactory culture by rapid acceptance of a pattern of multiple innovation" (zit. nach Christiansen 1969:14). Linton dagegen definiert sie unter der Be­zeichnung Nativismus als "any conscious, organized attempt on the part of a society's members to revive or perpetuate selected aspects of its culture" (ebd.:12f). Hier wird eine Rückorientierung auf alte, traditionelle Werte betont, während in der Definition von Wallace das kreative und dy­nami­sche Element der Erneuerungsbewegungen hervorgehoben wird.

In millenaristischen Bewegungen herrscht der Glaube an einen Propheten vor, der als Reinkarna­tion Gottes gilt und das Paradies auf Erden predigt. Worsley unter­scheidet aktivisti­sche millenaristische Bewegungen, in denen das Mille­nium bald bevorsteht und solche, die den Eintritt ins Goldene Zeitalter in unbestimmte, ferne Zu­kunft verlegen und auf Erlösung in der nächsten Welt hoffen (passiver Millenarismus). Aktivistische Bewe­gungen führen fast immer zu einem Interessenkonflikt mit der regierenden Macht und werden durch diese ver­folgt, da sich die herrschende Klasse durch die Vision einer neuen sozialen Ordnung in ihrer traditionell tief ver­wurzelten Position bedroht sieht (ebd:15).

Im folgenden werden zwei aktivistische millenaristische Bewegungen untersucht: die soziore­ligiöse Bewegung von Canudos im Nordosten Brasiliens und der Nacktkult auf Espiritu Santo, ein Cargo-Kult aus Melane­sien.

2. Hintergrund der untersuchten Bewegungen

2.1. Sozioreligiöse Bewegungen in Brasilien

Der Nordosten Brasiliens wies zur Jahrhundertwende einen ganz speziellen Kulturtypus auf: In einer zentralisierten Sozialstruktur gruppierten sich arme Kleinbauern und Pächter um einen Großgrundbesitzer, der despotisch die Macht in allen öffentlichen Angelegenheiten in seinen Händen hielt. Das Hinterland lebte völlig isoliert, ohne Schutz durch Regierungsbehörden und ohne Kommunikation mit den entwickelte­ren Gebieten an der Küste Brasiliens; hier herrschte uneinge­schränkt das Gesetz des Stärkeren. Da sich die einzelnen Familien untereinander be­kämpften, bezahlten die Großgrund­besitzer Banden von Bewaffneten, um Macht und Einfluß aufrechtzuer­halten. Häufige blutige Racheakte und Versuche, einen durch seine unbegrenzte Macht unerträg­lich gewordenen Tyrannen durch einen anderen ersetzen zu wollen, verschärften die Lage zusätz­lich. Eine Art "feudaler Pakt: Schutz gegen Treue" zwischen Großgrundbesitzern und Landarbei­tern, exi­stierte nicht. Die Landarbeiter unterlagen einer rücksichtslosen Ausbeu­tung und wurden in Krisensituationen sich selbst überlassen (Pereira de Queiroz 1960:69).

Der in der Region herrschende Mangel an Priestern, eine Kirche, die sich alle Dienst­leistungen bezahlen ließ, Geistliche, die Familien gegründet hatten, sowie das Fehlen jeglicher sozialer Hilfe ließ die bäuerliche Bevölkerung verstärkt Trost und Zuflucht im volkstümlichen Katholizismus des Sertão[3] suchen. Dieser, von Pereira de Queiroz als "Bastardkatholizismus" (ebd.:298) bezeichnete, Glaube stellt sich in der Praxis dem offiziellen Christentum und der beste­henden Gesellschaftsordnung entgegen. So kann es in der traditionellen Kirche nicht zur Grün­dung eines "neuen Jerusalems" als Wohnsitz für die Gemeinschaft der Gläubigen kom­men, denn diese ist allein Gott vorbehalten. Auch die ausgeprägte Heiligenverehrung und die in den Glauben eingebundenen magisch-mystischen Vorstellungen der ehemaligen Sklaven stehen der Kirche entgegen (ebd.:295). Ein tief in der Region verwurzelter Messiasglaube, her­vorgerufen durch den Sebastianismus[4] aus der portugiesischen Zeit, bietet noch heute ein frucht­bares Feld für messianische Ideen, wobei einem Laienprediger (beato), der gleichzeitig als Kran­kenheiler und Wundertäter auftritt und seelsorgerisch tätig ist, große Bedeutung zukommt. Be­atos sind Ratge­ber (bras.: conselheiro), Ärzte und Tröster in einem; sie werden zu Inkarnationen eines Heiligen oder Christus selbst. Alle bekannten neubrasilianischen Messiasbewegungen ent­standen im Umkreis dieser charismatischen Persönlichkeiten (ebd.:299). Die jeweili­gen Anhänger folgten ihrem Messias nicht nur wegen der ihm zugeschriebenen göttlichen Macht, sondern auch, weil sie seelsorgerischer Hilfe bedurften (ebd.:69).

In den sozioreligiösen Bewegungen Brasiliens wurde aktiv an Verbesserungen der Le­bensbedingungen gearbeitet; zur Verwirklichung der Utopien wurden Gemeinwesen gegründet. Diese Gründung "Heiliger Städte" findet sich nur in neubrasilianischen Messiasbewe­gungen.

2.2. Cargo - Kulte in Melanesien

In Cargo-Kulten steht ein charismatischer Führer durch Träume oder Visionen in direktem Kontakt mit den Ahnen (bzw. mit einem Geistwesen oder einem mythischen Kulturheroen), die ihm die Situation der Einheimischen und ihre Ungleichheit erklären. So sieht man die materielle Überlegenheit der Weißen darin begründet, daß diese die den Einheimischen zugedachten Güter zurückhalten, in dem sie, z.B. im Mansren-Kult, Adressen auf den entsprechenden Kisten austau­schen oder auch, in der The Noise-Bewegung, Schiffe umleiten (Jebens 1990:54)[5]. Desgleichen zeigen die Ahnen Wege zu einer neuen, besseren Welt auf und sie geben konkrete Vorschriften, wie diese herbeigeführt werden kann. Würden alle Anweisungen befolgt, so kehrten die Ahnen oder Kulturheroen zu einem festgelegten Zeitpunkt in einem weißen Boot, Flugzeug oder Lastwa­gen, beladen mit westlichen Gütern, dem Cargo, zurück. In Erwartung dieser Güterladungen bauen die Einheimischen Anlegeplätze bzw. Landebahnen und Häuser zur Lagerung des erwarte­ten Cargos (Tabak, Außenbordmotoren, Dosennahrung, Messer, Äxte, Gewehre, Bulldozer, Traktoren usw., je nach Kenntnisstand der europäischen Technologie) (Christiansen 1969:16). Es kommt zur Zer­störung von Gegenständen der traditionellen Kultur, zu großangelegten Schlach­tungen, zur Verwüstung der eigenen Gärten oder, im Mansren-Kult, zum Vergraben der traditio­nellen Klei­dung, da sich mit der Ankunft des Cargo im kommenden Millenium ein paradiesischer Zustand entwickeln werde, in dem Mangel, Not, Leiden, Krankheit und Tod überwunden seien (Jebens 1990:4).

Durch die Vorstellung, daß die Ahnen bei ihrer Rückkehr eine weiße Hautfarbe aufweisen würden (ebd.), setzt man in Melanesien die Weißen oft den Ahnen gleich. Auch glaubt man, daß es zu einem Austausch der Hautfarbe zwischen den Weißen und den Einheimischen kommen werde, und sich die bestehende Weltordnung total umkehre: Land wird zu Meer, Berge zu Ebe­nen, Fische werden auf dem Land leben und Vögel in der See, Satan wird der wahre Gott werden und die Weißen werden, in einer Umkehr der Rollen, die Diener der Einheimi­schen (Christiansen 1969:16).

Um die Güter der Weißen zu erlangen, wird das Verhalten der Europäer nachgeahmt, was nicht unbedingt bedeutet, daß ihnen gegenüber eine positive Haltung eingenommen wird. Westli­che Kleidung wird angelegt (in der Mambu-Bewegung), im Vailala-Wahn werden Telegraphen­masten nachgebildet (Steinbauer 1971:80); Rituale wie die christliche Taufe in der Mambu-Be­wegung oder die Kommunion (mit Kokosmilch statt Wein) im Assisikult (Worsley 1973:156) und das Reinigen und Schmücken von Friedhöfen (Jebens 1990:56) sind weitere Beispiele der Nach­ahmung der Weißen.

[...]


[1] von lat. millenium (=Jahrtausend). Lehre von einer 1000-jährigen Herrschaft Christi auf Erden am Ende der geschichtlichen Zeit, vor dem Jüngsten Gericht. Diese Lehre beruht auf der Offenbarung Johannes (Apk. 20, 1-10), in der von einer Fesselung Satans für eine Zeit von 1000 Jahren gesprochen wird.

[2] chilias: aus dem Griechischen für eine Periode von 1000 Jahren, cf. 1

[3] Sertão: (bras.) Bezeichnung für wüstenartige, durch Dürren und Hungersnöte geprägte Regionen im Landes-inneren des Nordosten Brasiliens.

[4] Sebastianismus: nach D. Sebastião, König Portugals von 1568 -1578, der in der Schlacht von Alcácer-Quibir fiel und dessen Tod zur Personalunion von Spanien und Portugal führte. Sebastianismus bezeichnet die messianische Bewegung, nach deren Vorstellungen D. Sebastião wieder auferstehen und heimkehren würde, um Portugal von der spanischen Herrschaft zu befreien.

[5] Anhänger der Mansren-Bewegung warfen den Missionaren vor, daß diese die erste Seite aus der Bibel gerissen hätten, aus der hervorgehe, daß Jesus ein Papua gewesen sei (Worsley 1973: 192).

Ende der Leseprobe aus 15 Seiten

Details

Titel
Revitalisierungsbewegungen
Hochschule
Universität zu Köln  (Institut für Völkerkunde)
Note
1,7
Autor
Jahr
1997
Seiten
15
Katalognummer
V45887
ISBN (eBook)
9783638432139
ISBN (Buch)
9783638763783
Dateigröße
552 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Revitalisierungsbewegungen
Arbeit zitieren
Elke Timme (Autor:in), 1997, Revitalisierungsbewegungen, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/45887

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