V. G. Liulevicius: The German Myth of the East

Titel
The German Myth of the East. 1800 to the Present


Autor(en)
Liulevicius, Vejas Gabriel
Erschienen
Anzahl Seiten
312 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gregor Thum, Freiburg Institute for Advanced Studies, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Vejas Liulevicius hat sich vor einigen Jahren mit dem auch ins Deutsche übersetzen Buch „War Land on the Eastern Front“ einen Namen gemacht.1 Dieser Studie über die deutsche Besatzungspolitik in Osteuropa während des Ersten Weltkrieges lag die These zugrunde, dass die von Erich Ludendorff und anderen verfolgten Utopien einer deutschen Siedlungskolonie „Ober Ost“ Vorboten jener nationalsozialistischen Kolonialphantasien waren, die sich im Zweiten Weltkrieg in radikalisierter Form im „Generalplan Ost“ niederschlagen sollten. In seinem neuen Buch setzt Liulevicius die Suche nach dieser Art Kontinuitäten in den deutschen Visionen vom und für das östliche Europa fort, indem er nun eine weit größere Zeitspanne in den Blick nimmt.

Wer die Propagierung simpler Kontinuitätsthesen fürchtet, wird durch die Einleitung des Buches angenehm überrascht. In dieser stellt Liulevicius klar, dass der anhaltenden deutschen Faszination für das östliche Europa, die sich in einem „Mythos des Ostens“ verdichtet habe, keine monolithische Vorstellung zu Grunde lag. Es habe, trotz der Persistenz mancher Bilder und Topoi, immer verschiedene Sichtweisen auf das östliche Europa gegeben. Insofern dürfe man die Geschichte der deutschen Visionen vom Osten nicht in der Weise „überdeterminieren“, dass sie konsequent und unaufhaltsam auf die Schrecken des NS-Regimes hinauszulaufen scheine. Auch sei in Rechnung zu stellen, dass die Vorstellungen, die sich die Deutschen vom Osten machten, im Kontext diverser Orientalismen standen und insofern nicht unbedingt spezifisch für die deutsche Gesellschaft waren. Allerdings schützt das Bewusstsein für die Fallstricke, in der eine an langen Kontinuitäten orientierte Studie geraten kann, nicht unbedingt davor, sich nicht in ihnen zu verstricken. Denn Liulevicius’ Studie vermittelt im Widerspruch zum selbst formulierten Anspruch dann doch eher den Eindruck, alles sei der Kolonial- und Vernichtungskrieg des Dritten Reiches im Osten Europas die logische Konsequenz eines sich schon in der Zeit der Aufklärung festsetzenden deutschen Bildes vom Osten als einem Raum der Unzivilisiertheit und des Schmutzes, in dem allein die Hand der Deutschen Ordnung schaffen und der Zivilisation den Boden bereiten könne.

Dazu hat Liulevicius auf der Basis der deutsch- und englischsprachigen Literatur in acht chronologischen Kapiteln eine eindrucksvolle Fülle von Belegen vornehmlich aus der deutschen Geistesgeschichte zusammengetragen. In gewisser Anknüpfung an Larry Wolffs Studie „Inventing Eastern Europe“2 versucht er so vor Augen zu führen, dass Europas Osten und die dort lebenden Völker den Deutschen vor allem als Kontrastfolie dienten, um sich selbst als zivilisierte, kulturell überlegene Nation zu stilisieren. Zwar führt er auch Beispiele für abweichende – sprich positive – Bilder vom Osten an. Doch anders als bei Gerd Koenen, der in seiner Studie zum „Russlandkomplex“ die Ambivalenzen des deutschen Russlandbildes wirklich schimmern ließ3, fallen bei Liulevicius die Hinweise auf Ambivalenzen so spärlich und isoliert aus, dass sie vom Strom negativer Bilder und ihrer Verdichtung zu einem destruktiven Mythos des Ostens einfach fortgerissen werden. Im Staccato von Namen, Fakten und Zitaten, das wenig Raum lässt für quellenkritische Erörterung, für Kontextualisierung und Problematisierung, wird eine Entwicklung eher suggeriert als dokumentiert, die unaufhaltsam auf den Eroberungs- und Vernichtungskrieg des Dritten Reiches zuzusteuern scheint, gefolgt vom Zusammenbruch der hypertrophen Beherrschungsphantasien und der Vertreibung der Deutschen aus dem Osten.

Der teleologische Zug der Untersuchung wird auch dadurch verstärkt, dass Liulevicius entgegen der Ankündigung in der Einleitung den europäischen Kontext gar nicht, Österreich allenfalls am Rande und die Periode von 1945 bis zur Gegenwart, die rechnerisch fast ein Drittel des untersuchten Zeitraumes ausmacht, in nur einem einzigen Kapitel abhandelt. In diesem Kapitel bleibt wenig Raum für eine angemessene Berücksichtigung jener fundamentalen und keineswegs voraussetzungslosen intellektuellen Neuorientierung der deutschen Gesellschaft seit den 1950er-Jahren, ohne die die Ostpolitik der Regierung Willy Brandt nicht zu verstehen ist. Schließlich wurde letztere vorbereitet und mitgetragen von Intellektuellen wie Siegfried Lenz, Günter Grass, Christa Wolf und später auch Marion Gräfin Dönhoff. Diese konnten ihrerseits anknüpfen an Joseph Roth, Robert Musil oder August Scholtis, die inmitten der Hochphase eines völkisch-radikalen Nationalismus nach dem Ersten Weltkrieg ein völlig anderes Bild vom Osten Europas entworfen hatten. Durch Auslassungen wie diese ergibt sich eine von Ambivalenzen weitgehend bereinigte Darstellung, die dann mit Blick auf die Gegenwart in der so lapidaren wie unvermittelten Feststellung endet, „there is reason to suppose that the German myth of the East has now largely disappeared“ (S. 239). Man kann dann nicht anders als an Daniel Goldhagen erinnert zu werden, der seinerzeit auch nicht so richtig erklären konnte, wie der von ihm diagnostizierte tiefverwurzelte eliminatorische Antisemitismus der deutschen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg einfach verschwinden konnte.

Doch das Buch hat auch Stärken. Wenn Liulevicius über die den Ersten Weltkrieg und die Zeit danach spricht, kann er aus der empirischen Fülle der eigenen Forschung schöpfen und plausible Deutungen anbieten für die auf den europäischen Osten bezogenen Überwältigungsphantasien der Deutschen, bei denen sie sich selbst mal als Subjekt und mal als Objekt sehen. Auch das Kapitel über die nationalsozialistischen Eroberungsphantasien ruht in der Dichte der zusammengetragenen Belege. Zudem finden sich über das ganze Buch verstreut aussagekräftige Quellenzitate und interessante Fingerzeige, wie etwa auf die schon bei Herder zu findende Vorstellung vom deutschen Bollwerk gegen ein barbarisches Asien, die sich durchaus mit seinem positiven Slawenbild vertrug, auf die sich vom Chauvinismus der radikalen Nationalisten wenig unterscheidende Slawenverachtung eines Friedrich Engels, oder auf die Frage, ob sich in der Rede von den „Ossis“ nicht die tradierten Bilder vom Osten gegen die eigenen Landsleute kehrten. Vor allem aber ist Liulevicius zu Gute zu halten, dass er als erster gewagt hat, auf der Basis unzähliger Einzelstudien über das deutsche Verhältnis zum östlichen Europa zur großen Synthese auszuholen. Diese mag vielleicht noch nicht in jeder Hinsicht zu befriedigen, auch weil Liulevicius die in der Einleitung des Buches formulierten Ansprüche nur zum Teil einlöst. Aber er kann für sich in Anspruch nehmen, dass bisher keine bessere Synthese zu diesem wichtigen Thema geschrieben worden ist.

Anmerkungen:
1 Vejas Gabriel Liulevicius, War Land on the Eastern Front. Culture, National Identity, and German Occupation in World War I, Cambridge 2000.
2 Larry Wolff, Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994.
3 Gerd Koenen, Der Rußland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900-1945, München 2005.