H. S. Jones: Intellect and Character in Victorian England

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Titel
Intellect and Character in Victorian England. Mark Pattison and the Invention of the Don


Autor(en)
Jones, H. Stuart
Erschienen
Anzahl Seiten
285 S.
Preis
$ 95.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roland Ludwig, Hanau

Nahezu 200 Jahre nachdem Wilhelm von Humboldt eine umfassende Reform der Hochschulausbildung in Preußen in die Wege geleitet hat, wird heutzutage das Humboldtsche Modell, an dem sich in Deutschland die Hochschulpolitik weitgehend orientierte, in Windeseile demontiert. Ersetzt wird es durch ein verschultes Modell, das sich an angloamerikanische und französische Vorbilder anlehnt und dem Studenten, der jetzt den Bachelor- und Master- und nicht mehr den Magisterabschluss anstrebt, das enge Korsett der Module aufzwingt.

Für Humboldts Bildungskonzept war der selbst lernende und forschende Student, angeleitet und unterstützt durch Professoren, die sich selbst im ständigen Lern- und Forschungsprozess befinden, zentral. Dass dieses Konzept im viktorianischen England Befürworter fand, daran erinnert den Leser H. S. Jones in seiner Studie über Mark Pattison, der ein Verfechter der Ideen der preußischen bzw. deutschen Universitätsreform in Oxford war.

Seinen Unterricht hatte Pattison (1813-1884) zu Hause vom Vater, einem Landpfarrer in Yorkshire, erhalten. Als Pattison 1832 an die Universität nach Oxford kam, überwog der religiös ausgerichtete Teil des Studiums, das heißt es ging vornehmlich um eine „gentlemanly education“ für den angehenden Klerus. Auch ging es an den Universitäten darum, Public School-Absolventen für die im British Empire auf sie wartenden Aufgaben auszubilden. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die Forschung nicht von Bedeutung für die englischen Universitäten; es bestand ein beschränktes Curriculum, das sich auf Theologie, Jura und Medizin konzentrierte.

Pattison, der 1839 als Fellow ins Lincoln College gewählt worden war, wurde 1843 zum Priester geweiht und war seit 1842 auch Tutor seines Colleges. Die Mehrzahl der „fellowships“ in Oxford waren „clerical fellowships“ mit der hohen Wahrscheinlichkeit einer späteren Ordination. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war Pattison ein Anhänger von John Henry Newman (1801-1890) (ohne unter dessen persönlichem Einfluss gewesen zu sein) und damit ein Anhänger der Oxford-Bewegung bzw. des „tractarianism“, die bzw. der sich gegen staatliche Eingriffe wandte und in einer liberalen britischen Gesellschaft den religiösen Ernst vermisste. Die Anhänger dieser Bewegung sollten sich später selbst als Anglo-Katholiken bezeichnen. In den 1830er-Jahren dominierte in Oxford der „tractarianism“, der auch als eine Gegenbewegung zum Rationalismus des 18. Jahrhunderts verstanden werden kann, das intellektuelle Leben. 1850 hatte Pattison seine Verbindung zu den „tractarians“ gelockert. Stattdessen gehörte er nun zu den Reformkräften und befürwortete den Umbruch in der Universitätsausbildung und eine akademische Spezialisierung.

1851 konnte Pattison, der im Verein mit einigen Gleichgesinnten bestrebt war, das College zu reformieren, das Rektorat im ersten Anlauf nicht erlangen. Das vorläufige Scheitern führt zu einer Abwendung vom klerikalen Oxford und forcierte seine Schreibtätigkeit für Zeitungen und Zeitschriften. Pattison engagierte sich in Debatten über Erziehung und akademische Bildung.

Sein 1853 in der „Quarterly Review“ erschienener Artikel über Isaac Casaubon macht die Zuwendung zur „intellectual history of modern Europe“ deutlich. Pattison schrieb über die Theologie in Deutschland, rezensierte Henry Thomas Buckles „History of Civilisation in England“ (1857-1861) und legte Überblicksdarstellung zur neueren Literatur in Theologie, Philosophie, Geschichte und Biographie vor. Expertentum verlangte er vom Rezensenten wie vom Akademiker. Mitte der 1850er-Jahre wurde er Herausgeber der theologischen Sektion der „Westminster Review“ und machte sich für eine wissenschaftliche Theologie nach deutschem Vorbild stark. Pattison schrieb nicht nur über Casaubon (1559-1614), sondern auch über John Milton (1608–1674) und Joseph Justus Scaliger (1540-1609). Er machte sich einen Namen als Beiträger für „Essays and Reviews“ (1860). Pattison wurde 1861 doch noch Rektor des Lincoln College in Oxford. In den 23 Jahren seines Rektorats wuchs die Reputation des Colleges spürbar.

Seine posthum erschienenen Memoiren, die Jones eifrig auswertet, erregten Aufsehen (z.B. Gladstone war fasziniert) und fanden recht viele Leser. Pattison bot aus erster Hand eine Sicht der Oxford-Bewegung und der Ideenwelt im viktorianischen Oxford. Der späte Pattison engagierte sich in diversen wissenschaftlichen Institutionen und Organisationen, machte seine Sympathien für liberale Politik, für Frauenemanzipation und -wahlrecht deutlich.1 Sein Wandel vom religiösen zum nichtgläubigen Menschen kann fast als exemplarisch gelten.

Hatte der spätere Pattison mit der Re-Katholisierungsbewegung, zu der er in jüngeren Jahren zählte und die gegen Liberalismus, Unglauben und Wissenschaft antrat, nichts mehr zu tun? Es scheint so zu sein, aber Pattison zog selbst in seinen Memoiren die Verbindung von der Ernsthaftigkeit in religiösen Fragen, die er in seinen jungen Jahren praktizierte, und dem Bemühen um eine Universitätsreform. Akademischer Konservativismus wird von ihm mit Laxheit in religiösen Dingen zusammengebracht. So behielt auch der liberale und zunehmend säkulare Pattison der späteren Lebensphase aus der Askese des „tractarianism“, der ja auch das Mönchtum in der Church of England wiederbelebte, etwas: 1) die Vorstellung eines „learned retreat“ und 2) die Vorstellung des persönlichen Einflusses – „mind on mind“. Eine neue Bestätigung des mönchischen Ideals des Rückzugs von der Welt – der religiöse Impetus, beeinflusst durch die Oxford-Bewegung, diente der Askese des Wissenschaftlers. Jones zieht seine Argumentation an diesem Punkt unter anderem aus Pattisons Predigten: Die Universität soll in kritischer Distanz zur Welt stehen. Angestrebt wird eine Elite des Geistes („spiritual elite“) und keine akademische Elite im herkömmlichen Sinn. Dem moralischen Feldzug gegen die Brotgelehrten dient Fichtes Botschaft von der heiligen Sendung der Gelehrten. Pattisons pädagogisches Ziel war die spirituelle Entwicklung des Selbst und nicht die Fertigstellung von Examensarbeiten: Anzustreben ist das lebenslange Lernen in der Profession des Wissenschaftlers. Casaubon wurde ab ca. 1850 für ihn ein Heroe des Lernens – Lernen verstanden als Arbeitsethos im viktorianischen Sinn.

Der Charakter eines Menschen war für Pattison eine zentrale analytische Kategorie, die er in seinen Memoiren auch für seine eigene Lebensgeschichte nutzte. Er hatte Probleme mit der Erziehung durch den Vater, die er als Isolation empfand und die nur eine geringe Zahl sozialer Kontakte ermöglichte, was in annehmen ließ, eine „Jugend ohne Charakter“ und eine „Schwäche des Charakters“ gehabt zu haben. Ein philosophisches Leben und der Triumph des freien Willens schienen ihm der Inbegriff eines charaktervollen Lebens zu sein. Thematisch beschäftigte er sich (vor allem) mit den Lebensläufen und autobiographischen Schriften von Wissenschaftlern (in erster Linie der Humanisten der französischen Renaissance). Dabei fand er Lebenswege, die seiner Suche nach einem gelehrten Leben als Selbstentwicklung und -entdeckung entsprachen; intellektuell fühlte er sich aber stark dem deutschen Neo-Humanismus und der Romantik verbunden, die den geistigen Hintergrund für den Aufschwung der deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert bildeten.

Für den deutschen Leser ist sein Beitrag zum Zweck der Universitäten in der mittleren viktorianischen Periode von Interesse. In Großbritannien gilt er als ein maßgeblicher Vermittler des deutschen Einflusses auf das viktorianische intellektuelle Leben. Freilich fand er dabei wenig Zustimmung beim englischen Publikum, das traditionell das Modell des „man of letters“ präferierte. Jones korrigiert dieses Bild leicht: Pattison stand zerrissen zwischen deutschem Ideal und englischer Wirklichkeit, die Verbindung von deutscher Wissenschaftsidee und englischem Modell des „man of letters“ suchend. Pattison besuchte in der Mitte des 19. Jahrhunderts Deutschland mehrfach; seit den 1850er-Jahren knüpfte er vielfache Kontakte zu deutschen Gelehrten. Wichtig für Pattison war die Lektüre der Scaliger-Biographie des deutsch-jüdischen Gelehrten Jacob Bernays (1824-1881), die 1855 erschienen war. Pattison plante selbst eine Biographie über Scaliger zu schreiben. Er traf Bernays und andere deutsche Gelehrte in Heidelberg und Berlin. Ende der 1850er-Jahre galt Pattison in England als Autorität in deutschen Fragen und war nicht nur als Korrespondent für die „Times“ in Berlin tätig, sondern er erarbeitete für die „Newcastle Commisssion on Popular Education“ einen Bericht über das deutsche Schulwesen. Pattison beklagte die kommerzielle Orientierung in England: „The English middle class [...] had no interest in education for its own sake.“ (S. 50) Die deutsche Kultur schien im nicht so oberflächlich zu sein wie die englische (und die französische): Bei aller Kritik an illiberalen Zügen der preußischen Politik, am wirklichen Gelehrtendasein schien man in der Mitte Europas Interesse zu haben. Seine Kritik an den Colleges und die Befürwortung der Stärkung der Universitäten als Einheit (S. 179-183), entstammte seiner Sicht von Forschung und Lehre als komplementärer Aktivitäten wie er es bei Humboldt fand. 1852 sprach er sich für das „tutorial system“ und gegen das „professorial system“ aus (S. 181/182). Letzten Endes befürwortete er nicht die Abschaffung der Colleges, sondern deren Reform und er wollte auch nicht Oxford und Cambridge in deutsche Universitäten umwandeln (S. 204).

Pattison war Klassizist, Historiker, Philosoph und Theologe (S. 219). Jones hebt hervor, dass Pattison einer der ersten englischen Gelehrten war, der zwar über kein geschlossenes Konzept der Ideengeschichte verfügte, der aber seine intellektuellen Projekte in Begriffen der Geschichte der Ideen zum Ausdruck brachte. Hier liegt auch das Verdienst der Arbeit von Jones der sich stärker den Ideen Pattisons zuwendet als es in den bereits vorliegenden Büchern von John Sparrow und Vivian Green geschehen ist. Jones konstruiert aus einer Reihe von Schriften die Ideenwelt Pattisons; das singuläre Meisterwerk der Ideengeschichte hat Pattison nicht geschrieben.

Pattison zeigte 1838 Interesse an der „history of opinion“ ebenso wie an der Philosophie der Geschichte (S. 221). 1855 bezeichnete er sein Interessengebiet als: “the laws of the progress of thought in modern Europe” (S. 221/222). Er war an Gesetzen der historischen Entwicklung interessiert und sah wie Buckle die Totalität menschlicher Aktionen durch die Totalität menschlichen Wissens regiert, aber bei Pattison galt das nur für die europäische Zivilisation (S. 225).

Pattison sah religiöse Ideen als Produkte einer spezifischen Zeit und spezifischer Umstände und nicht als metahistorische Waffen im Kirchenstreit. Ideen hatten für ihn ihren Ort und ihre Zeit: „The idea of development – the notion that any phenomenon is to be understood in the light of what went before – was an important feature of Pattison´s intellectual outlook.” (S. 235-236) Pattisons heute etwas naiv wirkendes Konzept eines evolutionären Fortschritts beinhaltete einen mit der Generationenabfolge und einer holistischen Gesellschaftssicht verbundenen „spirit of improvement“ (S. 237-242).

Pattisons am deutschen Vorbild, der Forschungsuniversität, orientiertes Interesse an Bildung, Studium und wissenschaftlicher Arbeit fand im Oxford seiner Zeit eine nur mäßige Unterstützung. Pattison war keineswegs der große Universitätsreformer, aber er setzte sich in einer Zeit des Umbruchs für ein Konzept akademischer Berufung bzw. des akademischen Berufs ein. Jones erinnert daran: „He warns us not to become so caught up in the machinery by which academic life is conducted that we forget the ends for which it exists.” (S. 10) Auch wenn die Umstände heute anders sind, Pattisons Konflikt ist wieder aktuell.

Anmerkung:
1 Das Scheitern der spät geschlossenen Ehe Pattisons (48 Jahre) mit Emily Francis Strong, die zum Zeitpunkt der Hochzeit 21 Jahre alt war, wird von Jones ausführlich behandelt (S. 72ff.). Die Altersdifferenz von deutlich mehr als zwanzig Jahren zwischen Pattison und seiner Frau taucht auch bei den fiktiven Charakteren Dorothea und Edward Casaubon in George Eliots „Middlemarch“ auf – eine der Ähnlichkeiten zwischen der Romanfigur Casaubon und Pattison. Jones möchte Pattison allerdings anders als bislang angenommen nicht als Prototyp der Romanfigur verstanden wissen.

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