U. Jensen: Gebildete Doppelgänger

Cover
Titel
Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestantismus im 19. Jahrhundert


Autor(en)
Jensen, Uffa
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 167
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
383 S.
Preis
€ 46,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dagmar Bussiek, Fachbereich Geschichte, Universität Kassel

Wer oder was ist uns “unheimlich”? Sigmund Freud hat eine Antwort zu geben versucht: Das Unheimliche sei „jene Art des Schreckhaften [...], die auf etwas früher Altbekanntes und Vertrautes zurückgeht“ (S. 38). Wenn das, was im Geheimen, im Verborgenen bleiben sollte, plötzlich hervortritt – dann empfindet der Mensch dieses Erleben als „unheimlich“. Und wenn uns in der Person eines unheimlichen „Doppelgängers“ eine Variante unseres eigenen Ich begegnet, dann mischt sich das merkwürdige Unbehagen, mischt sich das „Unheimliche“ mit Selbstzweifeln.

Diese tiefenpsychologischen Überlegungen „für soziale Tatbestände fruchtbar zu machen“ (S. 38), ist das erklärte Ziel des Historikers Uffa Jensen. In seinem Werk „Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert“, das 2003 vom Institut für Geschichte und Kunstgeschichte der Technischen Universität Berlin als Dissertation angenommen wurde und jetzt als Monografie vorliegt, beschäftigt er sich mit den komplexen Beziehungen zwischen deutschen Juden und Protestanten in der bürgerlichen Bildungskultur des 19. Jahrhunderts und geht dabei methodisch neue Wege. In deutlicher Abgrenzung zu den Prämissen der klassischen Sozialgeschichtsschreibung, die den seit 1878/79 gewaltig aufstrebenden Antisemitismus in erster Linie als Folgeerscheinung ökonomischer Krisen und sozialer Verunsicherung analysiert, richtet Jensen den Fokus nicht auf den Judenhass der so genannten Modernisierungsverlierer, sondern auf die bürgerlichen protestantischen Leistungsträger der Gesellschaft. Für sie, so argumentiert Jensen, muss die Konfrontation mit einem gebildeten, verbürgerlichten Judentum, das in seiner Lebensweise der nichtjüdischen Umwelt immer ähnlicher wurde, jene Konfrontation mit dem „Doppelgänger“ gewesen sein, die als „merkwürdig, monströs, irgendwie unheimlich“ (S. 326) erschien und kollektive Abwehrreflexe auslöste:

„Zwischen gebildeten Juden und Protestanten entstand ein kompliziertes, zutiefst ambivalentes Beziehungsgeflecht aus Allgemeinem und Partikularem, aus Nähe und Ferne. [...] So konnte es den gebildeten Juden zugeschrieben werden, dass sich die gebildeten Protestanten in ihrer eigenen Haut zunehmend unwohl fühlten. [...] Dass Juden als Juden gebildet zu sein beanspruchten, mutete ihnen wie ein Paradox an. Für sie behaupteten hier Fremde vertraut – gebildet – zu sein, und wenn ihre Behauptung berechtigt war, so konnte das nur heißen, dass ihnen das Eigene – die vertraute Bildungskultur – fremd geworden war. Die Integration der Juden in die Bildungskultur führte zu unheimlichen Identitätsdoppelungen. Gebildete Juden und gebildete Protestanten waren sich selbst und ihrer Lebenswelt nicht mehr sicher. Die Geschichte ihres wechselseitigen Verhältnisses zu beschreiben, bedeutet somit, eine Geschichte von gebildeten Doppelgängern zu erzählen, deren Eigenarten einander zu sehr glichen, als dass sie einander hätten ignorieren können, die sich aber zugleich zu sehr voneinander unterschieden, als dass sie nicht aufeinander fixiert hätten sein können.“ (S. 38f.)

Dass sich die Lebensbedingungen der einst überwiegend armen und ungebildeten deutschen Juden wandelten, registrierte das gebildete protestantische Bürgertum Jensen zufolge etwa seit den 1840er-Jahren. Seine Untersuchung beginnt an dieser Stelle. Sie endet mit einer detaillierten Darstellung der Auseinandersetzungen um die antisemitischen Thesen des Berliner Historikers Heinrich von Treitschke zwischen 1879 und 1881 – und das, obwohl die antisemitische Bewegung des Kaiserreiches gerade in den folgenden anderthalb Jahrzehnten ihre größten Triumphe feierte. Ausgehend von einem diskursanalytischen Ansatz, den er über die Kommunikationsmuster hinaus auf Wahrnehmungs- und Interaktionsprozesse erweitert wissen will, betrachtet Jensen zeitgenössische Ausführungen zur „Judenfrage“ in der Literatur sowie in den Geistes- und Kulturwissenschaften und arbeitet einen umfangreichen Flugschriften-Fundus auf. Diesen öffentlichen Stellungnahmen werden private Äußerungen, vor allem Briefe, gegenübergestellt. Die prekäre Frage, „wer ein Jude oder eine Jüdin ist“ (S. 19), beantwortet Jensen knapp mit dem Hinweis auf die Selbstidentifikation der Personen; ähnliches gelte für Protestanten. Ausführlich diskutiert er den Begriff des (Bildungs-)Bürgertums und den von ihm bevorzugten Terminus des „gebildeten Bürgers“. Beleuchtet werden auch die Entstehung des neuzeitlichen Bildungsideals und der Beginn des jüdischen Integrations- und Akkulturationsprozesses seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.

Anhand der analysierten Quellen arbeitet Jensen vier Muster protestantischer Wahrnehmung des Jüdischen heraus: Das Muster des Parvenüs, das Muster des Talmudisten, das Muster des Materialisten und das Muster des Nomaden. Der jüdische Parvenü zeichne sich dadurch aus, dass er bei oberflächlicher Anpassung an die „allgemeine“ Kultur in seiner jüdischen Subjektivität gefangen und damit nur bedingt kulturfähig sei; insbesondere die Beschäftigung mit Wissenschaft, Kunst und Philosophie sei ihm verschlossen, und wenn er sich dennoch in diesen Bereichen versuche, so betrachte er sie „eher als Mittel denn als Wert an sich“ (S. 103). Damit korrespondiert in gewisser Weise das Bild des scharfsinnigen, im logischen Zergliedern von Sachverhalten geübten Talmudisten, der – geprägt von einer ritualisierten und formalistischen religiösen Tradition – niemals zum Kern eines Sachverhaltes vordringen könne. Das Klischee des jüdischen Materialisten wurzele in der Vorstellung des Händlervolkes, „welches keine beständigen Werte zu schaffen in der Lage sei“ (S. 104) und folglich „keinen Sinn für das Ideale“ (S. 104) besitze. Schließlich würden die Juden als ein staatenloses, zum Aufbau eines politischen Gemeinwesens unfähiges Nomadenvolk wahrgenommen, das durch seine schlichte Anwesenheit in allen „funktionierenden Nationen“ (S. 104) zersetzend wirke.

Während derartige Denk- und Deutungsmuster bei gebildeten Protestanten laut Jensen immer einflussreicher wurden, versuchten gebildete Juden, ihre frisch errungene Position in der bürgerlichen Bildungskultur zu verteidigen. Sie bemühten sich dabei nicht nur um eine offensive Abwehr des zeitgenössischen Antijudaismus und Antisemitismus, sondern schufen zugleich mit dem Muster des Menschheitsjuden, der auf eine uralte, auf Sittlichkeit und Gelehrsamkeit beruhende Kultur zurückgreifen könne, eine neue Identitätskonstruktion: „Zur deutschen Kultur könnten sie [die Juden] mit ihrer universalistischen Mission beitragen, so dass es zu einer kongenialen Vereinigung zweier Kulturen kommen könne. In gewisser Weise porträtierte dieses Muster die Protestanten als Nachahmer, mithin als Doppelgänger der bürgerlichen Bildungskultur, die eigentlich eine jüdische Erfindung sei.“ (S. 104) Der Teufelskreis schloss sich: Je mehr die Juden ihre Bemühungen um Gemeinsamkeit steigerten, desto mehr mussten sie den gebildeten Protestanten als „unheimliche Doppelgänger“ erscheinen und entsprechende Abgrenzungs- und Abwehrmechanismen mobilisieren.

Es ist ein großes Verdienst Jensens, dass er den Blick über die häufig gestellten Fragen der jüdischen Emanzipation einerseits und der Entwicklung des modernen Antisemitismus andererseits auch auf die Perspektiven innerjüdischer Identitätsfindung richtet. Zugleich leidet sein Werk jedoch unter einem augenfälligen Mangel: Katholiken kommen nicht vor. Jensen verzichtet vollständig darauf, die Beziehungen von gebildeten Juden und gebildeten Katholiken zu untersuchen. Seine Begründung ist zunächst nachvollziehbar: Die deutsche bürgerliche Bildungskultur im 19. Jahrhundert war zweifellos protestantisch geprägt. Und: Während sich für Juden und Protestanten gleichermaßen feststellen lässt, dass Bildung und Religiosität „zu einer weltlichen Frömmigkeit [verschmolzen], die weder im eigentlichen Sinne als religiös noch als säkular zu bezeichnen wäre“ (S. 25), war dies für Katholiken sehr viel weniger der Fall. Dennoch bleibt der Einwand: Es gab in Deutschland zweifellos auch gebildete Bürger katholischer Konfession, und auch sie haben sich zur „Judenfrage“ geäußert; man denke nur an breite Rezeption der von Treitschke angestoßenen Antisemitismus-Debatte in der katholischen „Germania“. Bei der Untersuchung der zeitgenössischen Flugschriften stößt das Konzept der Arbeit endgültig an seine Grenzen. Während Jensen ausführt, „dass für 27 Prozent aller Flugschriftenautoren die ethnische und religiöse Zugehörigkeit nicht geklärt werden konnte“ (S. 161) und dass etwa ein halbes Dutzend der bekannten Verfasser katholisch gewesen sei, spricht er im gleichen Atemzug von Flugschriften, die „von Juden wie Protestanten“ (S. 155) veröffentlicht wurden. Der Verdacht drängt sich auf, dass Jensen die Termini „gebildeter Protestant“ und „gebildeter Nichtjude“ als quasi kongruent begreift und mitunter sogar beliebig gegeneinander austauscht. Es ist unverständlich, dass er in einem so wichtigen Punkt die Begrifflichkeiten nicht schärfer trennt. Auch hätte sich der Leser neben einem Exkurs über das katholische antisemitische Milieu den Versuch einer regionalen Differenzierung gewünscht.

Insgesamt ist Uffa Jensen jedoch eine anregende Studie gelungen. Der Versuch, Deutungsmuster aus dem Bereich der Tiefenpsychologie bzw. Psychoanalyse auf historische Konstellationen zu übertragen, bietet einen innovativen Zugang zu der immer wieder gestellten Frage, warum die Integration der Juden in die deutsche bürgerliche Kultur in so fatalem Maße Abwehr, Feindschaft und Hass hervorrief. Das Werk ermöglicht damit ein neues Nachdenken über den deutschen Antisemitismus – und über unseren alltäglichen Umgang mit dem Fremden, mit dem Vertrauten und mit dem „Unheimlichen“.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension