W. Hardtwig: Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters

Titel
Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters.


Autor(en)
Hardtwig, Wolfgang
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 169
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
387 S.
Preis
€ 46,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Flemming Schock, Institut für Europäische Kulturgeschichte, Universität Augsburg

Der vorliegende Sammelband vereint Aufsätze Wolfgang Hardtwigs aus den Jahren von 1978 bis 2002. Hardtwigs Deutungsparadigma eines perspektivisch erweiterten Kulturbegriffs sieht das „Sinnpotential von Hochkultur“ auf den vielfältig verschränkten Ebenen von „politischen und sozialen Strukturen und ihrer Rezeption in ästhetischen Artefakten“ – kurz, im semantischen Komplex eines „kulturellen Ganzen“.

Was die Anlage von Historiografie mit dem Bürgertum zu tun hat, streicht Hardtwig in der hervorragenden Einleitung heraus: Der klassisch historistische Fortschrittsgedanke in Gestalt „distanzierend-rationaler, analytischer Erklärung“ sei „überhaupt die wesentlichste“ historiografische Form gewesen, in der sich das Bürgertum über seine Identität vergewissert habe. An die Verabschiedung dieser Vergangenheitsverständigung sei nichts weniger als „das definitive Ende des bürgerlichen Zeitalters“ gekoppelt. Leicht resignativ klingt daher die Gegenwartsbestimmung der Historiografie: „Das Sozialsystem Geschichtswissenschaft ist allerdings nur finanzierbar, das heißt lebensfähig, solange die Gesellschaft den Eindruck hat, dass damit ihrer Selbstverständigung – und das heißt letztlich Wohlfahrt – gedient ist.“

Im ersten Aufsatz, „Varianten des historischen Erzählens“, spielt Hardtwig seine Kennerschaft der Historiografiegeschichte aus und skizziert Probleme der sprachlichen Darstellung des Historikers. Ranke, Droysen und Humboldt hätten letztlich zwar auf Autonomie gegenüber „literarischen Darstellungsweisen“ gepocht, der poetischen Form aber Zugeständnisse gemacht. Hardtwig spannt den Bogen bis hin zum „linguistic turn“. Trotz Kritik schätzt er Hayden Whites „Metahistory“ im Hinblick auf ihre Sensibilisierungsleistung für den Zusammenhang von Forschung und sprachlicher Darstellung. Auf geringstem Raum glückt Hardtwig eine Einführung in andauernde theoretische Konzeptionsprobleme historischer Erzählung.

Der zweite Aufsatz präzisiert diese „Grundlagenreflexionen einer sich wandelnden Geschichtswissenschaft“ an den changierenden Bewertungen Rankes. So habe Ranke gerade dem „linguistic turn“ als „Gewährsmann einer in die Postmoderne führenden Theorie der historischen Erzählung“ dienen können. Hardtwig zeigt, wie das Objektivitätsideal Rankes schon früh mit Anfeindungen zu kämpfen hatte. Doch war Ranke Bestseller; ein Grund, wieso sich Hardtwig im Folgenden mit „Rankes Grenzgängertum zwischen Geschichtswissenschaft und Literatur“ auseinandersetzt. Mit einer ästhetischen statt enzyklopädischen Komposition habe Ranke „exemplarisch den Paradigmenwechsel vom aufklärerischen zum historistischen Geschichtsverständnis“ exerziert. Die Größe Rankes liege unbestritten in seinen virtuos konstruierten Erzählungen, die Grenze in der Verabsolutierung des Machtprinzips als das Zentrum aller historischen Prozesse. Vor allem aber habe Rankes Objektivitätspostulat einer kritischen Geschichtsschreibung bis heute überdauert.

„Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität: Der Historismus in neuer Sicht“ geht davon aus, dass über Ranke und Droysen hinaus die Annahme eines geschichtlichen Wirken Gottes nicht nur in pragmatischer Hinsicht die Auswahl der „Tatsachen“ organisiert habe. Jenseits aller Empirisierung bleibe auch für Droysen „die Theodizee die eigentliche Aufgabe des Historikers“. In der griffigen Formel Hardtwigs: Eine „empirisch-wissenschaftliche Explikation der Geschichtsreligion“. Mit der „Krise des Historismus“ habe diese jedoch im Übergang zur industriellen Klassengesellschaft ihren Hoheitsanspruch verloren. Über den „Lamprecht-Streit“ und Marx’ „Geschichtsreligion […] materialistischen Zuschnitts“ arbeitet sich Hardtwig mit stupender Kenntnis zur modernen Konzeption von „Wissenschaft als Beruf“ (Max Weber) und Arbeit vor, ein Modell, das Geschichtserzählungen bis heute konstituiere.

„Die Krise des Geschichtsbewusstseins im Kaiserreich und Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus“ fragt nach dem Autoritätsverlust von Deutungsmustern während der „Krise der klassischen Moderne“. Die Skizze des historisch-politischen Bewusstseins seit dem späten 19. Jahrhundert hebt auf eine sonst kaum thematisierte Verkommerzialisierung eines „germanozentrischen Geschichtsbildes“ ab. Ernst Troeltsch sprach später von einem „grundsätzlichen Größenwahn“ der Literatur jener Tage. Hier seien die Grenzen zwischen historischem Fach- und Dilettantenwissen porös geworden. Hardtwig belässt es nicht bei ideologiegeschichtlichen Befunden zum außerakademischen historischen Denken. Vielmehr führt er mit bestechender Schärfe die Ursachen dafür an, dass sich z.B. das rassische Deutungsmuster schon lange vor den Nationalsozialisten im Bürgertum verankern konnte.

„Alltagsgeschichte heute. Fragestellung – Methoden – Perspektiven“ geht es um die Standortreflexion der heutigen Geschichtswissenschaft. Hardtwig entwickelt in hervorragender Klarheit den Paradigmenwechsel einer Abwendung von der Sozialgeschichte als Strukturgeschichte. Eine wieder stärker dem Individuum zugewandt Historiografie habe schließlich auch geschichtsteleologische Fortschrittsmuster verabschiedet. Nach einer sehr grundsätzlichen Zwischenbilanz reißt Hardtwig aktuelle wissenschaftliche Trends und Desiderata der Alltags- und Erfahrungsgeschichte an: Vor allem der Kulturbegriff müsse noch weiter differenziert werden. Die Forschung müsse sich im Zeichen „verstärkter Pluralisierung“ auf eine „Dezentrierung der Perspektiven“ einlassen.

Den gegenwärtigen Boom zeitgeschichtlicher Romane nimmt Hardtwig zum Anlass, den Beitrag „fiktionaler Vergangenheitsbewältigung zur aktuellen […] Erinnerungskultur“ zu problematisieren. Er stützt sich dabei auf fünf Romane. Trotz aller Differenzen lägen ihnen vergleichbare Motive zugrunde: vor allem der kategorischen Imperativ der Überlieferung sowie kollektive und individuelle Relevanz des Erinnerten. Hardtwig resümiert, dass ein „Antagonismus zwischen individualisierter Erinnerung und ebenso machtlegitimiertem wie machtlegitimierendem offiziell-kollektivem Gedächtnis zu einer zentralen Struktur der Erinnerungskultur“ aufgerückt sei. Personenzentrierte Geschichtsschreibung sei als Chance gegenüber strukturbezogener Sozialgeschichte zu werten. Eine Annäherung von literarischer und historiografischer Darstellung befürwortet Hardtwig jedoch nicht: Historiografie könne nur durch Aufgabe ihrer kritisch-analytischen Standards die Leistungen von Schriftstellern erfüllen.

In „Der Historiker und die Bilder. Überlegungen zu Francis Haskell“ fragt Hardtwig ausgehend von der Monografie „Die Geschichte und ihre Bilder“ des Kunsthistorikers Haskell (2001), warum das Bild als visuelle Quelle von der Geschichtswissenschaft bis heute stiefmütterlich behandelt wurde. Er denkt Kritik an Haskells Buch „immenser Gelehrtheit“ einige Aspekte systematisch weiter. Hardtwig skizziert, u.a. gestützt auf Haskell, die historische Entwicklung des Verhältnisses von Bild und Text. Das Fehlen dieser historiografiegeschichtlichen Komponente bemängelt Hardtwig bei Haskell. Da es der Historiografie seit jeher vor allem um die Geschichte der Macht ging, sei die bildhafte Überlieferung sekundär geblieben. Hardtwig hingegen pocht auf die Nutzung von Bildquellen, um sich von festgefahrenen Denktopoi zu distanzieren. In diesem Sinne plädiert er plausibel für eine „moderne Kulturgeschichte“ als „Geschichte der Imagination“.

Der Eroberung geografischer Räume widmet sich die zweite Sektion. „Von der Utopie zur Wirklichkeit der Naturbeherrschung“ weist eine Vorwegnahme des Arbeitscharakters bürgerlicher Gesellschaften in der Utopietradition nach. Hardtwig grenzt sich durch die Ausklammerung „totalitärer Implikationen“ von der älteren Utopieforschung innovativ ab. Ein „Wirklichkeitsgehalt“ der Utopien wird insofern sehr einleuchtend, als rationalisierte Produktionsvorgänge und propagierte Verwissenschaftlichung der Arbeit an der Natur (Andrae, Bacon) tatsächliche Auswirkungen auf den Dialog von Wissenschaft und Macht in der Frühen Neuzeit gehabt haben. Mit profunder Kenntnis deutet Hardtwig „die Utopie als historisch wirkmächtige Fiktion“.

„Naturbeherrschung und ästhetische Landschaft. Zur Entstehung der ästhetischen Landschaft am Beispiel der ‚Münchener Schule’“ folgt der Genealogie künstlerischer Gegenentwürfe zur „wissenschaftlich-ökonomischen Objektivierung“ der Natur in der Blüte der Landschaftsmalerei um 1800. Hardtwig entwickelt, gestützt auf zwei grundsätzliche Aufsätze von Gerhard Ritter, den radikalen Bruch des Verhältnisses von Mensch und Natur ab der Mitte des 18. Jahrhunderts. Eine allein dem Raum rationalen Handelns überlassene Natur habe damit schließlich eine Subjektivierung und Ästhetisierung der Natur in der Kunst herausgefordert: Im Prospekt der Landschaft fand sich kompensatorischer Müßiggang und das „Schöne an sich“, auch als Refugium gegenüber politischer Wirklichkeit. Diese „Wendung ins Subjektive“ (Arnold Gehlen) illustriert Hardtwig an elaborierten Bildanalysen.

Ausgehend vom Anspruch der Begriffsgeschichte, „geschichtliche Wirklichkeit in der historischen Sprache zu erfassen“, spürt Hardtwig in Überlegungen zur „Kunst und Geschichte im Revolutionszeitalter“ dem verspätet stattfindenden Eingang des Historismus-Begriffs in der Sprache der Kunstwissenschaft nach. Geschichts- und kunstwissenschaftlicher Historismus-Begriff entsprächen sich insofern, als in beiden eine „gegenüber aller bisherigen Geschichte neuartige Spannung von geschichtlichem Wissen und gegenwärtigem Handeln bzw. Bildern“ zu beobachten sei. „Strukturmerkmale historistischer Kunst“ erörtert Hardtwig u.a. an Karl Friedrich Schinkel. Hier gelingt ein brillanter Überblick historistischer Programmatik mit der Forderung nach „Mündigkeit der Architektur“. Erstmals sei „die Kunst der Wirklichkeit gegenüber mit der Forderung nach ihrer Veränderung“ aufgetreten. Diese produktive Selbstauslegung habe zur „Kontamination von Nation und Kunst“ geführt. An der symbolisch überhöhten Kölner Dombaurenovierung zeigt Hardtwig, wie ein politisch-ästhetischer Historismus vergangene und gegenwärtige Kunst in die Mitte nationaler Identitätssuche rückte.

„Nation – Region – Stadt. Strukturmerkmale des deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert“ plädiert für eine Vorverlegung des politischen Regionalismus in Deutschland in Verflechtung mit Form des Frühnationalismus zumindest ins 18. Jahrhundert. Territorialrevolution und Wiener Kongress haben laut Hardtwig Identitäten regionaler politischer Kulturen nachhaltig ausgeprägt. Gleichwohl gehe es nicht um „eine eindeutige Polarisierung von einzelstaatlich-regionaler und nationaler Loyalität“. Vielmehr bildete ein ganzes Bündel von Regionalismen das Fundament eines Nationalbewusstseins im 19. Jahrhundert. Das präzisiert Hardtwig anhand der Fallbeispiele Rheinland, Bayern und Württemberg. Erneut werden hier in konzentrierter Form beeindruckende Akzente für eine politische Kulturgeschichte gesetzt, die selbst die Rolle der Denkmalskulturen integriert. Hardtwig weist nach, dass auch die großen Nationaldenkmäler des Kaiserreichs „eine starke regionalistische Fundierung“ erkennen lassen. Erst nach 1871 habe sich „reichisches Nationalbewusstsein“ endgültig davon abgekoppelt.

Die funktionale Profillosigkeit moderner Großstadtarchitektur nimmt Hardtwig zum Anlass, „der Entstehung und den Funktionsmechanismen großstädtischer Raumgestaltung im Industriezeitalter“ am Beispiel Münchens nachzugehen und die städtebaulichen Entscheidungen der 1870er-Jahren auf die zugrunde liegenden wirtschaftlichen, politischen, konfessionellen und sozialen Interessen hin zu untersuchen. Architektur sei „sinnlich-anschauliche Präsenz der politischen Gemeinde“ gewesen. Mit hoher Detailkenntnis diskutiert Hardtwig z.B. den charakteristischen Bau des Industriezeitalters, die Messehalle. In München sei auf gestiegene Leistungsanforderungen der Urbanisierung mit einer oft gelungenen Verbindung von Funktionalität und traditionellen Stilelementen reagiert worden; seit 1890 habe auch ein breiteres Publikum Anteil an Fragen der ästhetischen Stadtgestaltung gezeigt. Die Kirchen seien schließlich als „die traditionelle Bauaufgabe[n]“ von ideologischen Zügen insofern durchsetzt als diese u.a. als „bühnenbildhafte Schauplätze“ der Verleugnung einer unästhetisch gewordenen Arbeitswelt gedient hätten.

Die Beiträge des beschließenden Kapitels wenden sich fortdauernder monarchischer Präsenz in den Geschichtsbildern und der Kunst- und Kulturpolitik des bürgerlichen Zeitalters zu. „Kugler, Menzel und das Bild Friedrichs des Großen“ skizziert lebendig die motivischen, künstlerischen und kommerziellen Hintergründe der seit Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgreichen volkstümlichen Biografie „Geschichte Friedrichs des Großen“. Ihr Erfolg basierte auf der Kollaboration des Kunsthistorikers Franz Kugler mit Adolph Menzel. Dessen Illustrationen prägten laut Hardtwig weit mehr als jede historische Spezialforschung das kollektive Erinnerungsbild an die Herrscherpersönlichkeit. Durch die Sezierung der Entstehungsgeschichte sowie einer Analyse von Bild- und Textzusammenhang legt Hardtwig die Popularität und historische Wirkmächtigkeit kritisch offen.

„Monarchisches Sammeln, bürgerliche Kunstkompetenz und Museen 1800-1914“ verfolgt die Entwicklungs- und Konfliktlinien in Symbiosen bürgerlicher und monarchischer Sammelkultur in der Kunstszene des 19. Jahrhunderts. An den Beispielen Preußens und Bayerns umreißt Hardtwig Profile der fürstlichen Sammler und die „bestimmende Rolle für Kunstförderung durch einige Monarchen“. So sei die Kunstpolitik Ludwigs I. „sofort ins Große gegangen“. Anders das Mäzenatentum in Preußen, wo Desinteresse (Friedrich Wilhelm III., Wilhelm I.) von einer ins Extreme gesteigerte Sammlungspolitik (Friedrich Wilhelm IV., Wilhelm II.) konterkariert worden sei. Hardtwig entwirft übergreifende Entwicklungen und Voraussetzungen eines auch in der Kunstpolitik nationalpädagogischen Jahrhunderts. Die symbolisch-kommunikative Dimension des Sammelns gerät dabei allerdings ein wenig ins Hintertreffen.

Allein dem bürgerlichen Mäzenatentum widmet sich der Schlussbeitrag. An drei für das Kunst- und Kulturleben der Wilhelminischen Ära zentralen Figuren thematisiert Hardtwig Momente der Kunst in ihrem Verhältnis zur Öffentlichkeit an der Jahrhundertwende: An Wilhelm Bode, dem „Bismarck der Museumswelt“, am sammelnden Unternehmer Eduard Arnhold und am schillernden Gesellschafter Harry Graf Kessler, der mit der Förderung zeitgenössischer Kunst zu „einer Lebensreform durch Bewusstseinsveränderung“ anleiten wollte. Kenntnisreich und pointiert arbeitet Hardtwig das Gefüge der Berliner Gesellschaft um 1900 heraus, das schließlich „die Hinwendung einer aufgeschlossenen Minderheit zur Moderne […] und den [verspäteten] Aufstieg Berlins zur Kulturmetropole“ begünstigt habe.

In Summe: Als Syntheseangebot der methodischen und perspektivischen Bandbreite von Hardtwigs Forschung demonstriert die Aufsatzsammlung noch einmal beeindruckend, wie viel Hardtwig – nicht zuletzt dank eines differenzierten Kulturbegriffs - für die eingeforderte „Geschichtswissenschaft in der Erweiterung“ geleistet hat und leistet. Argumentationsdichte und Reflexionsniveau sind überlegen, Sinnproduktion und Durchsetzungskraft im „bürgerlichen Zeitalter“ werden auf vielen Ebenen anschaulich.