J. Schmidt: Arbeiterschaft und Bürgertum in Erfurt

Titel
Begrenzte Spielräume. Eine Beziehungsgeschichte von Arbeiterschaft und Bürgertum am Beispiel Erfurts 1870-1914


Autor(en)
Schmidt, Jürgen
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 166
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 48,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jochen Guckes, Berlin

Es ist ruhig geworden um die Arbeitergeschichte. Nachdem schon in den 1980ern das Interesse am Bürgertum die Forschungen zur Arbeiterschaft immer mehr aus dem Rampenlicht der Fachöffentlichkeit verdrängt hatte, verschärfte sich die Lage nach dem Untergang des Ostblocks und dem Ende des Kalten Krieges. Auch der innerfachliche Vormarsch der Kulturgeschichte in den 1990er-Jahren hat dies nicht geändert, klassische Arbeitergeschichte war nie eines ihrer Hauptthemen. Inzwischen scheint auch die Bürgertumsgeschichtsschreibung ihren Zenit überschritten zu haben, jedenfalls wenn man die Anzahl von einschlägigen Publikationen zum Maßstab nimmt. Umso bemerkenswerter ist es, dass gerade jetzt eine zentrale empirische Lücke hinsichtlich beider Forschungsfelder geschlossen wird: die Geschichte ihrer Verbindung, der Beziehungen von Arbeiterschaft und Bürgertum. Jürgen Schmidt hat es in seiner von Jürgen Kocka an der Freien Universität Berlin betreuten sozialgeschichtlichen Dissertation unternommen, dieses Verhältnis am Beispiel der Stadt Erfurt im Kaiserreich zu untersuchen. Um es gleich vorweg zu sagen: Das Ergebnis ist ein materialreiches, gut lesbares und wichtiges Buch, das den Forschungsstand kenntnisreich und souverän anhand der lokalen Befunde diskutiert, nicht ohne deutliche eigene Akzente zu setzen.

In seiner Einleitung wirft Schmidt eine Vielzahl wichtiger Fragen auf, die seine Untersuchung leiten, leider jedoch ohne diese und seinen eigenen Standpunkt bereits hier in der Forschungslandschaft zu verorten. Zunächst geht es ihm ganz allgemein um die Definition von Bürgertum und Arbeiterschaft als Sozialformationen. Er unterscheidet zwischen Arbeiterschaft und Arbeiterbewegung sowie, daraus folgend, zwischen Arbeiterkultur und Arbeiterbewegungskultur. Zugleich versucht er, Differenzen und Gemeinsamkeiten innerhalb des Bürgertums auszumachen. Den Kern seines Ansatzes bildet jedoch die Untersuchung der Beziehung beider Gruppen. Schmidt fragt danach, wie sie sich zueinander verhielten und gegenseitig beeinflussten. Er konzentriert sich dabei einerseits auf die Abgrenzung des Bürgertums gegenüber der Arbeiterschaft und andererseits auf die Strahlkraft von Bürgerlichkeit in die Arbeiterschaft hinein, konzeptionell gefasst im Begriff der „Verbürgerlichung”, die er als „Auswahl, Umformung und Aneignung von bürgerlichen Werten, bürgerlichen Ausdrucksformen und bürgerlichen Kunstwerken innerhalb der Arbeiterschaft” definiert (S. 352). Schmidt verfolgt beide Linien im Medium der diversen Kontakte zwischen beiden Gruppen, die er auf den verschiedensten Ebenen nachzeichnet. „Kontakt” und „Kommunikation” sind daher Zentralbegriffe seiner Arbeit.

„Begrenzte Spielräume” ist eine klassische Lokalstudie, die anhand eines überschaubaren Untersuchungsgegenstandes allgemeine Fragestellungen erhellen soll. Schmidt beginnt seine Arbeit zwar mit einer kurzen und präzisen Vorstellung der „Industrie- und Handelsstadt Erfurt mit zentralörtlicher Funktion” (S. 42) und kommt immer wieder auf ihre Besonderheiten zurück, um seine Befunde einzuordnen, der besondere Charakter der preußischen Verwaltungsstadt in Thüringen selbst wird im Folgenden jedoch nicht weiter untersucht, die Spezifik des Ortes steht nicht im Mittelpunkt des Interesses. Gleiches gilt für die Ebene der lokalen Deutungskultur und anderer kulturgeschichtlicher Fragestellungen, die Schmidt nur am Rande streift. Das ist für eine sozialgeschichtliche Studie natürlich legitim und im Rahmen einer Dissertation auch gar nicht anders zu leisten. Trotzdem ist es auch ein wenig schade. Man hätte gern mehr darüber gewusst.

Im gleichen Kapitel zu „Konstellationen und Konfigurationen” - das gesamte Inhaltsverzeichnis hält in den Überschriften eine K-Alliteration durch - entwickelt Schmidt aus einer quantitativen Berufsgruppen- und Schichtungsanalyse seine Begrifflichkeit zum Bürgertum. Die Unterscheidung eines Kernbürgertums aus Bildungs- und Wirtschaftsbürgertum, eines Mittelbürgertums aus mittleren Beamten und Angestellten sowie mittleren Selbständigen und eines Randbürgertums aus Handwerksmeistern, kleinen Selbstständigen sowie unteren Beamten und Angestellten bildet das Rückgrat der Analyse (S. 42f.). Innerhalb der Arbeiterschaft arbeitet er ebenfalls wichtige Unterschiede heraus, bedingt etwa durch die Besonderheiten einzelner Branchen oder verschiedene berufliche Positionen und damit auch lebensweltliche Erfahrungen, ohne diese jedoch begrifflich in gleicher Weise zu verfestigen. Der große Wert gerade der Differenzierungen hinsichtlich des Bürgertums zeigt sich im Laufe der Untersuchung immer wieder, wenn Schmidt die innerbürgerlichen Kontakte behandelt oder die Außenkontakte auffächert. Die etwas trockene Kärrnerarbeit der sozialstrukturellen Analyse aus Kirchenbüchern, Steuerlisten und Adressbüchern trägt reiche Früchte, da der Autor die Mitglieder von Vereinen und Parteien den einzelnen Untergruppen des Bürgertums zuordnen kann. Nach dieser begrifflichen und faktischen Einführung folgt ein Kapitel, das die „Komponenten der städtischen Gesellschaft” vorstellt. Die dort vorgestellte Spannung zwischen „Ausdifferenzierung und Homogenisierung” (Arbeiterschaft) sowie „Vielfalt und Gemeinsamkeiten” (Bürgertum) (S. 5) bleibt das Leitmotiv der gesamten Studie.

Den quantitativen und qualitativen Hauptteil der Arbeit bildet die Analyse von Kontakten und Kommunikation. Schmidt untersucht unter diesem Blickwinkel erstens die Sphäre der Arbeit und des Betriebes, zweitens Wohnumfeld und privates Leben sowie drittens die Öffentlichkeit, vor allem im Vereinsleben. Nach einer getrennten Darstellung der Binnenkommunikation in diesen Bereichen innerhalb von Arbeiterschaft und Bürgertum folgt die eigentliche Beziehungsgeschichte der Kommunikation zwischen ihnen, ergänzt um eine Untersuchung der sozialen Mobilität. Auf diesen 180 Seiten werden eine Vielzahl von Kontroversen der Arbeitergeschichtsschreibung und der Bürgertumsforschung angesprochen sowie auf dem Hintergrund der Erfurter Befunde vergleichend diskutiert. Viel Bekanntes wird aufgegriffen, durch den beziehungsgeschichtlichen Zugriff dann aber doch mit einer neuen Dimension versehen. Schmidt arbeitet beispielsweise erneut heraus, wie groß die Unterschiede zwischen Arbeiterbewegung und Arbeiterschaft waren, oder wie konservativ (auch parteipolitisch) weite Teile des Bürgertums waren, und zwar schon im Kaiserreich und nicht erst in der Weimarer Republik. Geschlechtergeschichtliche Perspektiven sind dabei als Erkenntnismittel integriert, ohne selbst Erkenntnisziel zu sein. Das gesamte Buch ist so geschrieben, dass auch diejenigen Leser der Diskussion folgen können, die nicht (mehr) mit der gesamten Arbeitergeschichtsschreibung und Bürgertumsforschung groß geworden sind. Eine Ausnahme bildet die Verwendung des Begriffs der Vergesellschaftung, die als einziges zentrales Konzept nicht vorgestellt und definiert wird. Insgesamt wird deutlich, wie vielschichtig die Kontakte gewesen sind, und wie beschränkt letztendlich die Beziehungen gewesen sind. Als Ursache hierfür betont Schmidt die Kommunikationsverweigerung des Bürgertums gegenüber einer Arbeiterbewegung, die einen Brückenkopf der Arbeiterschaft in der bürgerlichen Gesellschaft bilden wollte, hierbei jedoch ohne Erfolg blieb.

Das letzte Drittel der Arbeit ist stärker auf die Sphäre des Politischen ausgerichtet und nimmt auch mehr kulturgeschichtliche Ansätze auf. Zunächst leitet Schmidt die Erfurter Parteienlandschaft des Kaiserreichs aus Sozialstruktur und Erfahrungshorizont der jeweiligen Mitglieder ab und arbeitet die Spaltung in ein bürgerlich-nationales und ein sozialistisches Lager heraus. Während in ersterem Liberale und Konservative um die Vorherrschaft rangen, kämpften die Sozialdemokraten um die Deutungskompetenz für die gesamte Arbeiterschaft. Das Beispiel zweier Politiker mit ähnlichem sozialen Hintergrund, die sich für grundverschiedene Parteien entschieden, unterstreicht zudem die prägende Bedeutung der Lebenswelt für die politische Orientierung. Im folgenden Kapitel widmet Schmidt sich der Lokalpolitik, der er eine recht geringe Mobilisierungskraft attestiert. Erfurt blieb bis 1914 eine Bürgergemeinde, in der die Vorherrschaft des Bürgertums aus wahlrechtlichen Gründen unangefochten blieb. Die Sozialdemokratie nutzte diese Situation dazu, die alten Ideale des Bürgertums von Emanzipation, Demokratie und Selbstbestimmung aufzunehmen und für sich zu reklamieren. Politische Konflikte wurden mangels Präsenz der SPD im Stadtparlament auf anderen Ebenen ausgefochten, denen das nächste Kapitel gewidmet ist. Schmidt beschreibt Streiks, Reichstagswahlen, die Maifeiern der Arbeiterbewegung und die Erfurter Unruhen von 1898 sowohl im Hinblick auf Arbeiterschaft und Bürgertum als auch auf deren Beziehung zueinander. In diesem Abschnitt werden somit historische Wahlforschung, die Geschichte der Streiks im Kaiserreich und die historische Festforschung auf kürzestem Raum abgehandelt. So interessant und in der Logik der Gliederung unverzichtbar diese Aspekte auch sind, sie deuten doch auf ein generelles Problem der Arbeit: Schmidt versucht (zu) viele Fragen auf einmal zu klären. Er hat zwar zu allen durchaus spannende Dinge beizutragen, muss jedoch zwangsläufig an der Oberfläche bleiben. Es bleibt oft das Gefühl, dass man gerne mehr gewusst hätte, vor allem mit Blick auf kulturelle Deutungsmuster. Die Analyse ist zwar stets auf die zentralen Ausgangsfragen der Arbeit nach den Kontakten und der Beziehung zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum hin fokussiert, aber am Beispiel der Maifeiern etwa wird deutlich, dass eine ausführlichere Beschäftigung mit der historischen Festforschung, etwa in Form einer eingehenderen Untersuchung der performativen Elemente dieser Feiern, auch zu diesen Kernthemen weitere Aufschlüsse gegeben hätte. Ähnliches gilt für Schmidts hoch spannende Analyse verschiedener Vereine in Erfurt, bei der für die Untersuchung der spezifischen Inhalte und der ihnen zugrunde liegenden Deutungsmuster nicht genug Raum bleibt. Dies ist Schmidt im Anbetracht von 375 empirisch und analytisch sehr reichhaltigen Textseiten kaum vorzuwerfen, zumal der sozialgeschichtliche Zuschnitt der Arbeit deutlich dominiert, weckt aber die Neugier auf Anschlussstudien.

Dieses Argument trifft auch für das vorletzte Kapitel „Kulturwelten” zu. Schmidt untersucht hier auf kleinstem Raum die Sphäre der Kunst, die Vermittlung von Werten und den Umgang mit Symbolen sowie die Freizeitkultur in Erfurt, um an ihnen Prozesse der Verbürgerlichung der Arbeiterschaft nachzuzeichnen. Dabei weist er den zentralen Stellenwert der Kultur innerhalb der Arbeiterbewegung nach, verdeutlicht zugleich aber die geringe Reichweite der Erziehungsversuche führender Sozialdemokraten, die nicht einmal die Mehrheit der eigenen Parteigenossen erreichen konnten. Für das Bürgertum unterstreicht Schmidt noch einmal die elementare Bedeutung von Kultur und zeigt ihre binnendifferenzierende sowie einigende Kraft auf. Den Schluss der Studie bildet eine kurze Analyse der Augusttage des Jahres 1914 in Erfurt, an denen die ausführlich beschriebenen Differenzierungen in Arbeiterschaft und Bürgertum noch einmal deutlich zum Tragen kamen. Der Ausblick in die Zeit des Ersten Weltkrieges bildet den logischen Schlusspunkt dieser Beziehungsgeschichte. Der Krieg und die nachfolgenden Jahre der Weimarer Republik brachten auch und gerade diesbezüglich fundamentale Änderungen. Gleichwohl ist es zu bedauern, dass diese Studie die Verschiebungen innerhalb sowie zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum nach 1918 nicht mehr beleuchten kann, da gerade in diesen Änderungen zentrale Züge sowohl der Beziehungsgeschichte als auch der allgemeinen Geschichte dieser Sozialformationen sichtbar werden dürften.

Die wenigen kritischen Bemerkungen sollen den Stellenwert dieses Buches nicht schmälern. Jürgen Schmidt hat eine dringend benötigte Arbeit vorgelegt, auf die die künftige Forschung aufbauen kann, gerade auch aus kulturgeschichtlicher Perspektive. Die Verknüpfung vieler verschiedener Perspektiven am Beispiel einer Stadt zeigt mustergültig das Potential eines solchen Zugriffs, auch wenn nicht alles in der wünschenswerten Länge ausgeführt werden konnte. Die präzise sozialgeschichtliche Verortung und Differenzierung der Großgruppen Arbeiterschaft und Bürgertum in Erfurt an sich ist bereits eine große Leistung, mit der empirisch dichten Analyse der Kontakte zwischen ihnen und ihrer gegenseitigen Beeinflussung leistet Schmidt darüber hinaus einen eminent wichtigen Beitrag zu Bürgertumsforschung und Arbeitergeschichtsschreibung, dem ein möglichst breites Publikum zu wünschen ist.