M. Swiniartzki: Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel

Cover
Titel
Heavy Metal und gesellschaftlicher Wandel. Sozialgeschichte einer Musikkultur in den langen 1980er Jahren


Autor(en)
Swiniartzki, Marco
Reihe
Studien zur Popularmusik
Anzahl Seiten
657 S.
Preis
€ 66,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wiebke Wiede, Fachbereich III, Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier

Als „Heavy Metal Village“ bewirbt die schleswig-holsteinische Tourismus-Agentur das „beschauliche Dorf“ Wacken, das alljährlich zum Schauplatz des Heavy Metal-Festivals „Wacken Open Air“ wird. In den frühen 1990er-Jahren von einer Gruppe ortsansässiger „Metaller“ gegründet, avancierte die Veranstaltung inzwischen zum größten Metal-Festival weltweit, das, global vermarktet, ein selbstreferentielles Metier einschlägiger Dokumentar- und Spielfilme hervorgebracht hat.1 Die Entwicklung des „Wacken Open Air“ illustriert trefflich den Ansatz Marco Swiniartzkis, der in seiner Habilitation die Entwicklung des Heavy Metal vom lokalen Szene-Ereignis zum globalen Phänomen nachzeichnet.

Statt des konservativen, agrarisch geprägten Dithmarschen der frühen 1990er-Jahre, wählt er aber sieben (sub-)urbane Räume in England, dem Ruhrgebiet, der San Francisco Bay Area, den US-amerikanischen Nordosten sowie in Florida, Schweden und Norwegen, um die Entwicklung der „westlichen“ Metal-Szenen in den langen 1980er-Jahren (1978 bis 1995) vergleichend zu untersuchen. Swiniartzki möchte eine Sozialgeschichte des Heavy Metal anhand der Kategorien „class, race, gender und place“ (S. 36) schreiben. Damit ordnet er sich in Debatten um den Stellenwert der Popgeschichte für eine allgemeine Gesellschaftsgeschichte und um Ausprägung und Reichweite des gesellschaftlichen Strukturwandels nach dem Boom ein.

Marco Swiniartzki nähert sich seinem Gegenstand systematisch und auf breiter Quellenbasis von Fanzines, Zeitungs- und Zeitschriftenartikel, biographischen und autobiographischen Schriften sowie 35 eigens erhobenen qualitativen Interviews mit Metal-Akteuren. Er betrachtet individuelle Erwerbsbiographien von Metallern und verortet diese in die physischen und sozialen Settings ihrer Wohn- und Arbeitsorte. Dadurch gelingt ihm der Nachweis, dass Heavy Metal vor allem von Jugendlichen der Mittelklasse ausgeübt wurde, deren Eltern während der Boomjahre in die Vororte urbaner Ballungsräume abgewandert waren. Den Jugendlichen wiederum boten sich im Zuge des Strukturwandels neue Erwerbschancen, um ihre Musik professionell zu betreiben. Ein eigenes Kapitel widmet er den Heavy Metal-Bands als „soziales Handlungsfeld“ (S. 243) einschließlich ihrer verbreiteten „trinkfesten und pöbelnden Männlichkeit“ (S. 266). Im Laufe der 1980er-Jahre hätten sich Amateurbands professionalisiert und eigene Metal-Szenen mit entsprechenden Sozialräumen (Plattenläden, Fanzines, Magazinen) etabliert. Damit einher ging die „ambivalente Kommerzialisierung“ (S. 517) des Heavy Metal zwischen Distinktions- und Verwertungszwang. Musiker, Musikproduzenten, Manager und Plattenlabel bewegten sich in Produktions- und Verwertungslogiken, für die Tom Holert und Mark Terkessidis vor einigen Jahren die Formel vom „Mainstream der Minderheiten“ prägten. Gemeint sind damit die Originalitätsbemühungen des popkulturellen Underground, der doch immer Teil einer kommerziellen Kulturindustrie bleibt.2 Schließlich nimmt Swiniartzki in einem Kapitel zum Crossover Überschneidungen und Abgrenzungen zwischen Heavy Metal und Punk in den Blick und damit exemplarisch die sich in den 1980er-Jahren zunehmend ausdifferenzierenden Subkulturen von Pop und Rock.

Die umfangreiche Studie Swiniartzkis argumentiert akribisch und durchaus detailverliebt, dennoch sei hier auf zwei Desiderata hingewiesen. Zum einen entscheidet sich der Autor, bekennender „langjähriger Metal-Fan“ (S. 59), dafür, das Klangmaterial des Heavy Metal nicht systematisch in die Analyse einzubeziehen, da ihm „das musikwissenschaftliche Rüstzeug“ (S. 55) fehle. So bleibt es der Leserin überlassen, sich die erwähnten diversen Spielarten und Subgenres des Heavy Metal (Death Metal, Black Metal, Thrash Metal, Glam Metal, Extreme Metal etc.) und ihre klanglichen Charakteristiken selbst zu erschließen. Schwerer wiegt allerdings, dass die Analyse damit außen vor lässt, was denn nun das spezifische Klangmaterial und Klangerlebnis des Metal war, das die Körper von Musikern und Fans individuell und kollektiv in Bewegung setzte. Offen bleibt die Frage, ob und, wenn ja, welchen gesellschaftlichen Effekt dieser Sound als Sound und nicht nur als Anlass sozialen Handelns hatte.

Zum zweiten kommt die politische Positionierung des Metal meines Erachtens zu kurz. Explizit wird lediglich im Crossover-Kapitel vergleichend zum Punk das gesellschaftskritische Potential der Metal-Szene, vorwiegend anhand von Interviews mit Metal-Musikern in Fanzines, dargestellt. Der hinlänglich bekannten und erforschten Tatsache, dass in Teilen der Metal-Szenen Rechtsextremismus verbreitet ist, stellt sich Swiniartzki zwar, bleibt in der diesbezüglichen Analyse aber apologetisch und widersprüchlich. Dem US-amerikanischen Death Metal, der strukturell rassistisch schwarze Musiker ausschloss, spricht er „rassistisches Selbstverständnis“ ab, führt jedoch in der entsprechenden Fußnote Metal-Bands an, die „durch rassistische Lyrics“ auffielen (S. 180, Fußnote 92). Das rechtsextreme Engagement des norwegischen Black Metal-Musikers Kristian Vikernes räumt er ein (S. 239), doch fügt er entschuldigend hinzu, dass dieses Subgenre des Metal „besonders in seiner politisierten Form als ‚NSBM‘ (National Socialist Black Metal), als musikkulturelles Element gesellschaftlicher Umsturzphantasien leider in vielen Ländern instrumentalisiert“ worden sei (S. 240). Bandnamen wie „Wehrmacht“ (S. 413) oder „Holocaust“ (S. 486) werden im Text nicht weiter problematisiert. Der Name der schwedischen Black-Metal-Band „Treblinka“ sei „auf keine Ideologie, sondern eher auf unreflektierte jugendkulturelle Distinktion zurückzuführen“ (S. 222) – quasi ein harmloser Dummejungenstreich. Damit bleibt unklar, warum ausgerechnet Metal-Musiker und ihre Fans vergleichsweise häufig auf dieses affektive Vokabular von Antisemitismus und Rassismus zurückgriffen.

Insgesamt bieten sich in Marco Swiniartzkis Studie eine Reihe weiterführender Hinweise zum Verständnis von Populärkultur und sozialem Strukturwandel in den Jahren nach dem Boom. Überzeugend zeigt er etwa, dass sich lokale und globale, soziale und kulturelle Räume in der Entwicklung des Heavy Metal wechselseitig bedingten. Die Geschichte des Heavy Metal in den langen 1980er-Jahren erweist sich somit als erhellendes Beispiel für den Prozess der „Glokalisierung“ in populärkultureller Variante. Ferner gelingt es Swiniartzki, Heavy Metal exemplarisch als Teil eines kulturell verarbeiteten Deindustrialisierungsprozesses in den Jahren nach dem Boom zu beschreiben: die musikalischen „Schwermetaller“ knüpften an die „harte Arbeit“ der Metallindustrie im Augenblick ihres Verschwindens an. Dem Argumentationsgang des umfangreichen Buchs von Swiniartzki ist nicht immer leicht zu folgen. Ein Register hätte den Gebrauch der Studie sicherlich erleichtert. Da der Autor die Einzelkapitel „auch als einzeln lesbare Abschnitte“ (S. 40) anlegte, bietet sich eine kapitelweise Lektüre an.

Anmerkungen:
1 Nikolai Okunew, Legend of Wacken. Raus aus der Langeweile?. In: Zeitgeschichte-online, August 2023, https://zeitgeschichte-online.de/film/legend-wacken (29.04.2024).
2 Tom Holert / Mark Terkessidis, Einführung in den Mainstream der Minderheiten, in: dies. (Hrsg.), Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Berlin 1998, S. 5–19.

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