Cover
Titel
Goal!. Kultur- und Sozialgeschichte des modernen Fussballs


Autor(en)
Brändle, Fabian; Koller, Christian
Erschienen
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
€ 29,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Erik Eggers, Universität Bonn, Historisches Seminar

„Die Welt ist zwar kein Fußball“, formulierte einst der deutsche Schriftsteller Ror Wolf, „aber im Fußball, das ist kein Geheimnis, findet sich eine ganze Menge Welt. Es ist eine zuweilen bizarre Welt, in der unablässig Gefühlsschübe aufeinanderprallen; Emotionen, die jederzeit in ihr Gegenteil umschlagen können: Entzücken in Entsetzen, Begeisterung in Wut, Verzweiflung wieder in Entzücken“.1 Sicherlich trug jene Irrationalität dazu bei, dass sich die Historiographie mit dem Fußball lange Zeit so schwer tat. Erst seit Beginn der 1980er Jahren näherten sich zunächst britische Soziologen und Historiker zunehmend dem Fußball als Gegenstand der Wissenschaft 2, nach 1990 schließlich auch vermehrt Forscher vom Kontinent und in Übersee.3 Momentan wächst die Literatur zu diesem Thema kontinuierlich.

Wenn nun die beiden jungen Schweizer Historiker Fabian Brändle und Christian Koller mit „Goal“ einen Band vorlegen, der „einen Überblick über die Ergebnisse sowohl der britischen als auch der deutschsprachigen Forschung zur Geschichte der Fußballs geben“ (S. 14) soll, dann ließe sich das allein schon damit trefflich begründen, dass die Ergebnisse neueren Datums bislang nirgends zusammengefasst publiziert worden sind (die letzte gleichgeartete Herausgabe in deutscher Sprache von Eisenberg erschien 1997 4). Von jenem hervorragenden Sammelband unterscheidet sich „Goal“ indes grundlegend. Eisenberg trug seinerzeit der Globalisierung des Phänomens Fußball Rechnung, indem sie neun sozialhistorisch motivierte Aufsätze aus einer jeweils nationalen Perspektive schreiben ließ. Brändle und Koller hingegen konzentrieren sich auf Großbritannien, Deutschland, Österreich und die Schweiz, was schon eine breitere Darstellung des aktuellen Forschungsstand zulässt, und gleichzeitig gliedern sie in neun größere thematische Blöcke.

Naturgemäß beschränkt sich der erste Abschnitt „Das Spiel der Eliten“ weitgehend auf die Anfänge des Fußballs in den „Public Schools“ wie Eton, Rugby oder Cambridge, hier gefällt insbesondere die Einordnung des Fußballs in seinerzeit neue Gesundheits-, Körper- und Männlichkeitskonzepte der viktorianischen Gesellschaft, die unter anderem beeinflusst wurden durch Fortschrittstheorien von Herbert Spencer und Charles Darwin (S. 23f.). Die ebenfalls daraus resultierende Konkurrenzethik auch in Bezug auf den Menschen (Sozialdarwinismus) begünstigte „das Aufkommen des modernen Sports im Allgemeinen und des Fußballs im Besonderen in starkem Maße“, schien doch das Spiel „als reglementierter Wettbewerb die menschliche Gesellschaft insgesamt zu verkörpern“ (S. 25). Weiterhin wird die Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzende Institutionalisierung dieser Sportart geschildert, seine Fortentwicklung zu einem Gentlemansport sowie den beginnenden Kulturtransfer des Spiels überall dorthin, wo sich größere britische Kolonien befanden. Auch dabei zeigte sich jener soziale Mechanismus, der auch für die Popularisierung des Fußball auf der britischen Insel zu beobachten war: Das Nacheifern elitärer Praktiken eines bewunderten Vorbilds selbst in der Freizeitgestaltung, in diesem Fall das Vorbild des industriell hochüberlegenen britischen Staatgebildes.

So souverän, stilsicher und nachvollziehbar die Verfasser diesen und den folgenden Abschnitt „Das Spiel des Volkes“ auch abhandeln, so ist dennoch hier leise Kritik angebracht. Richten die Verfasser ihren Fokus doch fast ausschließlich auf die Folie der englischen Verhältnisse, speziell auf die entstehende kommerzielle Freizeitkultur rund um die Pubs und die Gegenentwürfe durch konfessionelle Gruppen, die für viele Clubgründungen, etwa die von Celtic Glasgow oder Aston Villa, verantwortlich zeichneten (55f.). An dieser Stelle scheint die Ausbreitung des Fußballs – gleichwohl sie stark zeitversetzt und im Grundsatz nach ähnlichen Mustern erfolgte – in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu kurz zu kommen.

Dies gilt ebenfalls für den ausgezeichneten Abschnitt „Fußball und Geld“, der jene Dynamik durch eine kaum zu stoppende Ökonomisierung beschreibt, die die Popularisierung des Fußballs in vielen Regionen nicht erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts gehörig befeuerte und der dennoch in der deutschsprachigen Forschung bislang kaum Aufmerksamkeit gewidmet wurde. Die Autoren fokussieren sich erneut auf die Professionalisierung des Fußballs in Großbritannien und, untermauert durch eigene Forschungen, auch auf die in der Schweiz. Doch wiederum fehlen wichtige Entwicklungen für Österreich und Deutschland. Beispielsweise diejenige, dass bereits der 1927 vom Österreicher Hugo Meisl initiierte Mitropa-Cup, der Vorläufer des heutigen Europapokals, aus vorwiegend kommerziellen Gründen eingeführt wurde; denn nur durch den regelmäßigen Spielbetrieb mit Profis aus anderen Ländern (Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, später auch Italien und die Schweiz) und den daraus resultierenden Anreiz für die Spiele auf nationaler Ebene ließ sich die seit 1924 in Österreich existierende Profiliga langfristig refinanzieren. Auch waren es vorwiegend kommerzielle Gründe, die den Deutschen Fußball-Bund (DFB) in den 20er Jahren zu einer rigorosen Ablehnung des Profifußballs bewogen, denn andernfalls hätten sie die enormen Subventionen durch die öffentliche Hand aufs Spiel gesetzt. Walther Bensemann, 1920 der Gründer des Fachorgans „Kicker“, hielt indes nicht in der Weimarer Republik eine Profiliga für „wirtschaftlich nicht überlebensfähig“ (S. 88), sondern glaubte, wie zahlreiche Glossen und Diskussionsbeiträge in seiner Fachzeitschrift belegen, fest an eine Zukunft des Profifußballs auch in Deutschland.

Intelligent und anregend angelegt ist das Kapitel „Fußball und Emotionen“, also exakt jener Bereich, dem viele geisteswissenschaftliche Analysen nicht habhaft werden können. Brändle/Koller versuchen sich darin erfolgreich an einer Typisierung der Emotionen, die sich während eines Fußballspiels äußern, und sie gehen in sehr anregender Weise „auf verschiedene Spieler ein, die gleichsam idealtypisch Identifikationsangebote an Fans oder Gegner darstellen“ (104); diese sind gegliedert und anschaulich beschrieben in „Helden“, „Schurken“, „Narren“ und „Außenseiter“.

Das Kapitel „Fußball und Nation“ liefert fünf Fallbeispiele: die Rivalität zwischen England und Schottland sowie den protestantischen „Rangers“ und katholischen „Celtics“ in Glasgow, das WM-Achtelfinale 1938 zwischen der Schweiz und „Großdeutschland“ als Akt der „geistigen Landesverteidigung“, das WM-Finale 1954 von Bern als verspäteten nationalen Gründungsakt der BRD sowie das einzige innerdeutsche Duell bei der Weltmeisterschaft 1974 in Deutschland als Fußballmodell des „Kalten Krieges“. Auch hier fehlt es an Beispielen aus österreichischer Perspektive. Dabei liegen illustre Beispiele für Fußballmatches mit nationaler Verdichtung geradezu auf der Hand, etwa das als „Spiel des Jahrhunderts“ apostrophierte Match zwischen England und Österreich am 7. Dezember 1932 an der Londoner Stamford Bridge, das seinen Platz im kollektiven Gedächtnis (Sport-)Österreichs erhielt.5

Das Kapitel „Fußball und Klassenkampf“ schließlich stellt eine ideologische Auseinandersetzung dar, die in Rudimenten heute noch in Israel, Finnland, Österreich und Belgien geführt wird: Fußball als Instrument verschiedener politischer Klassen. Die stärkste Ausprägung erfuhr dieser politische Kampf in der Weimarer Republik, in der kommunistische, sozialistische, „bürgerliche“ und konfessionelle Verbände getrennt voneinander Fußball spielen ließen. Die Verfasser stellen hier indes klar, dass sich viele Arbeiter von dieser ideologischen Vorgabe wenig beeindruckt zeigten und oftmals bei den sportlich attraktiveren Vereinen des „Klassenfeindes“ spielten (S. 172). In der Schweiz und in Österreich ergaben sich ähnliche Konflikte; in Wien schließlich geriet der Arbeiterfußball nach der Professionalisierung „recht eigentlich zum Inbegriff des Amateurismus und des Breitensports“ (S. 177). Dass der Arbeiterfußball ausgerechnet im Mutterland des Fußballs der Arbeitersport kaum eine Rolle spielte, führt der britische Sozial- und Wirtschaftshistoriker Stephen G. Jones darauf zurück, dass „die englischen Arbeiter stärker als ihre Kollegen auf dem Kontinent den professionellen und den ‚bürgerlichen’ Amateursport zu ihrer eigenen Angelegenheit zu machen vermochten“ (S. 182).

Für den Abschnitt „Fußball und Krieg“ ist der Forschungsstand ebenfalls souverän zusammengefasst. Mittelpunkt vieler Diskussionen in Kriegszeiten war für Sportverbände in England, Deutschland und Österreich stets die eine Frage: Ob nämlich „die Spitzensportler im Krieg an der Front kämpfen oder zu Hause auf den Sportplätzen die Moral stärken sollten“ (S. 192). Letztlich wurde diese Frage überall und zu allen Zeiten immer gleich beantwortet; die Sportler mussten an die Front. Gleichwohl weist der geringe Seitenumfang für dieses Feld daraufhin, dass noch zahlreiche Desiderate bestehen.

Der letzte größere Block ist betitelt mit „Fußball und Geschlecht“, und er ist schon deshalb zu loben, weil er sich nicht nur auf Frauenfußball begrenzt, sondern sich auch den wichtigen Fragen der „Männlichkeitsbilder“ widmet. Fußballsport wird unter dieser Perspektive als Männerbund mit drei verschiedenen Ausprägungen geschildert: „Die Funktionärskaste in Verbänden und Vereine, die Mannschaften (...), und schließlich die Fangruppen, die in ihrem Verhalten wie in ihren Orientierungsmustern dem Idealtyp des Männerbundes sehr nahe kommen“ (S. 210). Auch hier werden die Autoren erfreulich konkret, etwa beim Beispiel des ersten Popstars des Fußballs, George Best von Manchester United, der es sich Ende der 60er Jahre zur Gewohnheit machte, „seine Teamkameraden versteckt in Kleiderschränken und hinter Vorhängen beim Geschlechtsakt zuschauen zu lassen“ (S. 211). Aber dieser anregende Abschnitt beschreibt ebenfalls en detail die massiven Widerstände der Männerwelt gegenüber dem Frauenfußball, etwa die dubiosen Verbote 1921 in England und 1955 in Deutschland. In der „genderedness“ des Fußballs, so urteilen die Autoren abschließend, zeige sich eine „erstaunliche Kontinuität über nicht weniger als eineinhalb Jahrhunderte hinweg“ (S. 231).

Es ist sicher nicht verwegen, „Goal“ in den Rang eines Standardwerkes zu erheben, auch wenn der letzte, kleine Abschnitt „Fußball und Literatur“ merkwürdig deplatziert wirkt in diesem Buch. Eine Vertiefung ist jedenfalls jederzeit möglich angesichts des umfangreichen und präzisen Anmerkungsapparates (leider fehlt größere, eine nach Themen geordnete Bibliographie). Von den geringen Mängeln abgesehen, erfüllt „Goal“ jedenfalls den Anspruch, die aktuelle Forschung in der britischen, deutschen, schweizerischen und österreichischen Fußballgeschichte zu überblicken.

Anmerkungen:
1 R. Wolf, Das nächste Spiel ist immer das schwerste, Königstein 1982, S. 319.
2 Etwa T. Mason, Association Football and English Society, 1863-1915, Brighton 1980; N. Elias/E. Dunning, Quest for Exitement. Sport and Leisure in the Civilization Process, London 1986.
3 Zu nennen wären etwa die anregende Monografie von Dietrich Schulze-Marmeling, Der gezähmte Fußball. Geschichte eines subversiven Sports, Göttingen 1992, sowie der Sammelband von Roman Horak / Wolfgang Reiter (Hgg.), Die Kanten des runden Leders. Beiträge zur europäischen Fußballkultur, Wien 1991.
4 Chr. Eisenberg (Hrsg.), Fußball, soccer, calcio, München 1997.
5 J. Skocek/W. Weisgram, Wunderteam Österreich, Scheiberln, wedeln, glücklich sein, Wien 1996.

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