Isensee, Josef

Tabu im freiheitlichen Staat

Das Paradies ging der Menschheit verloren, doch die verbotenen Bäume blieben ihr erhalten. Die Aufklärung, die antrat, alle Verbote zu beseitigen, die das Erkenntnisstreben hindern, und alle Schranken der Freiheit aufzuheben, die sich nicht zweckrational rechtfertigen lassen, errichtet, sobald sie gesiegt hat, ihre eigenen Denk-, Rede- und Handlungsverbote, um ihre Errungenschaften gegenüber den Verstockten und Aufklä-rungsresistenten abzusichern. Die liberale Demokratie versteht sich als Staat ohne Tabus. Doch verhindert sie nicht, daß auf dem Boden der grundrechtlichen Freiheit gesellschaftliche Tabus spries-sen. Sind Staat und Gesellschaft auch heute angewiesen auf Normen, die nicht hinterfragt werden dürfen, Gegenstände, die sie mit Scham umgeben, Werte, die ihnen heilig sind?

Der Autor:
Josef Isensee, geb. 10.06.1937 in Hildesheim. Studium der Rechtswissenschaft und der Philosophie in Freiburg i. Br., Wien und München; Promotion zum Doktor iur. utr. (Er-langen-Nürnberg 1967) und Habilitation für die Fächer Staats- und Verwaltungsrecht sowie Steuerrecht (1970). 1971-1975 o. Professor an der Universität des Saarlandes für Staats- und Verwaltungsrecht. Seit 1975 Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Bonn. Seit 1986 Ordentliches Mitglied der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. 1997 Verleihung des Doc-tor honoris causa scientiarium iuris der Fakultät für Kanonisches Recht der Akademie für Katholische Theologie Warschau.