S. Baller: Spielfelder der Stadt

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Titel
Spielfelder der Stadt. Fussball und Jugendpolitik im Senegal seit 1950


Autor(en)
Baller, Susann
Erschienen
Köln 2010: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans-Peter Hahn, Institut für Ethnologie, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Städte in Afrika gehören seit nunmehr bereits zwei Dekaden zu den spannendsten Untersuchungsfeldern der Kulturwissenschaften. Dies erklärt sich zum einen durch die außerordentlich hohen Urbanisierungsraten auf diesem Kontinent, zum anderen durch die herausgehobene Position der Städte in Afrika im Kontext postkolonialer Verflechtungen von Macht und kulturellen Leitbildern. Eine Geschichte des Fußballs in Afrika (die noch zu schreiben wäre) muss beide Aspekte als Ausgangspunkte wählen: Zum einen die fast unglaublichen Wachstumsraten dieser Städte, die im wesentlichen durch Arbeit suchende Migranten bedingt sind, zum anderen die nicht anders als ironisch-entstellend zu bezeichnende Nachahmung von kulturellen Topoi der Metropole, zu denen nicht nur der Fußball insgesamt als Sport gehört, sondern auch die Namen der Vereine und die selbst gegebenen Regeln der Klubs. Beides, der Fußball und das Vereinswesen, hat europäische Modelle als Referenz, unterläuft aber in einer im besten Sinne als postkolonialer Diskurs zu bezeichnenden Art und Weise deren normative Ansprüche. Nicht nur dem Leser von Susan Ballers detailreichen Schilderungen kommt es seltsam vor, dass da in Dakar die Bayern gegen Brasilien spielen; auch staatliche Organe, allen voran der Jugendminister, wittern subversive Strömungen angesichts der phantasievollen aber doch präzisen Namen, Klubregeln und Spielweisen.

Susan Baller ist es gelungen, eine äußerst komplexe Materie von hoher kultureller und politischer Aussagekraft zu thematisieren. Hervorzuheben ist die schwierige Quellenlage: Wie sie schreibt, sind für die Zeit vor 1968 kaum schriftliche Quellen vorhanden, und viele der Klubs, die sich Sport- und Kulturverein nennen, haben ihre schriftlichen Unterlagen vernichtet. Interviews mit Zeitzeugen und die Dokumente des (in der Regel eher hilflos agierenden) Ministeriums gleichen diesen Mangel aus. Das klar strukturierte Werk, das auf einer Dissertation basiert, umfasst nach einer Einleitung mit Definitionen zu den Begriffen „Jugend“ und „Stadt“ sechs inhaltliche Kapitel. Dabei geht es um die Jugendpolitik im Senegal (Kapitel 2), um die Entwicklung eines „Vereinswesens“ (Kapitel 3), um die Spielorte, also Fußballfelder in dem Stadtviertel Pikine (Kapitel 4), um die Spieler und Vereinsmitglieder und zuletzt um politische Ausdrucksformen (Kapitel 5), die damit in Verbindung stehen - nämlich politisch engagiertes Straßentheater (Kapitel 6). Die Schlussbemerkung fasst wesentliche Aspekte noch einmal zusammen. Es gehört zu den Stärken des Buches, sich auf einen bestimmten Ort, nämlich den Stadtteil Pikine, einen Vorort von Dakar, zu konzentrieren, und eine bestimmte Gruppe in den Vordergrund zu stellen, nämlich die so genannten Navetanes, wie sich die Wanderarbeiter und ihre Nachkommen nennen. Nur diese Mikroperspektive erlaubt es, die Dynamik der einander widerstreitenden Kräfte und die subversive, aber vollkommen nachvollziehbare Haltung der Fußballer angemessen zu schildern. Noch einmal ist auf die Komplexität der Quellenlage zu verweisen: Die Verbindung der persönlichen Aussagen aus Interviews mit den Berichten der Regierung ist heikel. Aber es ist der einzige Weg, überhaupt zu einem hinreichend differenzierten Bild zu kommen.

Mehrfach, unter anderem in der Einleitung und im Schlussteil, bezieht sich die Autorin auf Luftbilder bzw. Bilder von Google Earth als Metapher einer spezifischen Perspektive. Gleichwohl hebt sie in all diesen Kontexten hervor, wie grundlegend falsch ein solcher Blick aus der Ferne und die Vorstellung einer Gesamtdarstellung einer Stadt sind. Susan Baller entscheidet sich dezidiert für die Nahperspektive, für den differenzierten Blick auf die Lebendigkeit der Stadtviertel und hebt hervor, wie wichtig der Fokus auf Akteure ist, um historische Entwicklungen angemessen zu beschreiben. Das gilt nicht nur für solche Bereiche, in denen dieser Zugang eher naheliegend ist, wie die Sport- und Kulturvereine, sondern auch für die Schilderung der Stadt selbst. Pikine, dieser so widersprüchlich bewertete junge Vorort, erscheint in dramatischer Akzentuierung durch Berichte der Bewohner, durch die Lieder der populären Musiker, die dort aufgewachsen sind, und andere, oft im Wortlaut wiedergegebene Aussagen über die alltäglichen Probleme an diesem Ort.

In der Einleitung zum vierten Kapitel verknüpft die Autorin Ansätze von Pierre Bourdieu und Henri Lefebvre, um die Rolle der Stadt, des Stadtviertels und des Sportplatzes als „angeeigneten Raum“ zu klären. Raum ist, was man daraus macht. Das gilt insbesondere für umkämpfte öffentliche Plätze und ganz spezifisch für einen Ort wie Pikine, der als „Abfall“ oder „Rest“ für marginalisierte Gruppen im Großraum Dakar bewertet wird. Lefebvre ist diesen Gedanken konsequent weitergegangen, über Bourdieus „Habitus“ hinaus. In einem späteren Werk hat er sich polemisch gegen die „Ordnung des Raumes“ gewandt und die Analyse der Bewegungen und der Dynamik noch mehr in den Vordergrund gestellt 1. Diese Zuspitzung ist bedeutsam für die Thematik des Buches, weil es den Blick nicht auf die „existierenden“ Spielfelder, sondern auf ihre Entstehung und auf den Kampf darum lenkt.

So betont die Autorin vollkommen zu Recht, dass Sport sich eben nicht auf die zugewiesenen Plätze beschränkt, sondern vom öffentlichen Raum Besitz ergreift. Gerade weil Sport auf den ersten Blick als eine unpolitische Domäne erscheint, wurde sie zum Forum der Machtlosen, um Ansprüche durchzusetzen, manchmal auch in direkter Konfrontation mit der Regierung. Einem offenen Platz in Pikine, den sich die Spieler aneigneten, gaben sie beispielsweise den ironischen Namen Stade Maracana. Damit wird eigentlich eines der größten, in Rio de Janeiro gelegenen Fußballstadien der Welt bezeichnet. Diese Bezeichnung, wie auch die erwähnten Namen der Gruppen, sind selbst ein Politikum. In ihnen schwingt Spott mit, vielleicht auch Enttäuschung über die Verhältnisse an dem Ort, an dem die Träger dieser selbst gewählten Namen leben (müssen). Brad Weiss hat dies jüngst thematisiert; er zeigt, wie sehr die Wahl von Namen im urbanen Raum, die Nationen und Orte außerhalb Afrikas betreffen, zugleich ein Kommentar auf die eigene Lebenswelt in Afrika ist 2.

Der subversive Charakter der Aneignung von öffentlichen Räumen als Spielfelder und der Namensgebung ist in ähnlicher Weise auch in der Verwendung okkulter Praktiken durch die Mannschaften gegeben. Susan Baller zitiert die wiederholt erneuerten und immer detaillierteren Regelwerke zur Unterbindung solcher Praktiken. Sie wurden von den Vereinen selbst, aber auch von der Regierung erlassen, lassen aber erahnen, in welchem Umfang die Mannschaften und Klubs im Alltag versuchen, durch Marabouts und Gris-Gris den Spielausgang zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

Aus diesen Schilderungen ist eine allgemeine Bewertung des Bandes abzuleiten: Keiner der hier geschilderten Felder des Spiels, weder die Vereine, noch die Jugendpolitik oder die Spielstätten sind das, was sie auf den ersten Blick vorzugeben scheinen. Stets handelt es sich nicht nur um Sport und Freizeit, sondern auch um Felder der Aushandlung. Mehr noch: Es sind Felder, in denen marginalisierte, mehr oder weniger ohnmächtige Akteure (Jugendliche, Vorstadtbewohner) ihre eigenen kreativen Formen der Artikulation finden, und damit unweigerlich Widerspruch leisten gegen den Platz, den die Gesellschaft und Politik ihnen zugewiesen hat. Diese Form der Subversion mag gelegentlich mit einer gegenseitigen Nicht-Wahrnehmung einhergehen, viel öfter ist es aber eine direkte Konfrontation, welche die Autonomie der Akteure erkennen lässt. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Fußball in Westafrika grundsätzlich vom europäischen Fußball. Im Aufzeigen dieser politischen Dimension liegt auch die besondere Bedeutung von Susann Ballers Studie. Hier geht es nicht nur um eine Geschichte des Fußballs, der Vereine und der Plätze, sondern sehr viel umfassender um Fußball als Plattform, die grundlegende Tendenzen der Stadtentwicklung in Afrika erkennen lässt. Das bestätigt sich zudem durch die unmittelbaren gesellschaftlichen Aktivitäten der Klubs, die sich auf Theatergruppen beziehen oder auch auf die Säuberung der Stadtteile. Die Sport- und Kulturklubs sind keine „outlaws“, sondern kennen sehr gut die Felder, in denen sie durch vorbildliches Engagement für ihr Stadtviertel Anerkennung erlangen können.

Insgesamt leistet das Buch einen außerordentlichen Beitrag zu einem besseren Verständnis der „Stadtlandschaften“ in Afrika unter einem historischen Blickwinkel. Der Fokus des Werkes ist darüber hinaus geeignet, nicht nur die „offizielle“ Version der Stadtentwicklung, sondern viel deutlicher die Rolle marginalisierter Akteure zu erkennen. Die spezifische Leistung der Studie besteht zudem darin, ein breites Spektrum an Quellen aus der jüngeren Geschichte (vor allem ab 1968) verarbeitet zu haben. Dies führt dazu, dass der Text mit zahlreichen Zitaten, zum Teil in Französisch, nicht immer leicht zu lesen ist. Dennoch lohnt die Mühe, da durch die Wahl der Quellen ein ganz neues, lebensnahes Bild der Stadt entsteht. Es ist zu wünschen, dass dieses Buch nicht nur Interessenten für Fußball in Afrika als Leser findet, sondern ebenso Urbanisten und Entwicklungsexperten. Sie alle können von der differenzierten Darstellung nur profitieren.

Anmerkungen:
1 Henri Lefebvre, Rhythmanalysis. Space, Time, and Everyday Life, London 2004.
2 Brad Weiss, Thug Realism. Inhabiting Fantasy in Urban Tansania, in: Cultural Anthropology, 17 (2002), S. 93-124.

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