↓1 |
Es ist kaum eine Übertreibung zu sagen, dass die Fußballweltmeisterschaft heute das wichtigste Sportereignis der Welt ist. Zwar fesseln auch Olympiaden Millionen von Zuschauern, die ihren Tagesablauf auf die Übertragung der Wettkämpfe in ihren Lieblingssportarten hin ausrichten, aber eine Begeisterung, bei der sich Zehntausende von Fans auf öffentlichen Plätzen zum Public Viewing versammeln, lösen sie nicht aus. Einer der Gründe liegt darin, dass die Sportart Fußball wie keine andere weltweite Verbreitung gefunden hat. Moderne Kommunikationstechnologie bietet die Möglichkeit, die Fans aus aller Welt alle vier Jahre zu einem globalen Publikum zu verschmelzen und sie live am gleichen Geschehen teilhaben zu lassen. Auf diese Weise bieten Sport-Mega-Events dem jeweiligen Gastgeber eine beinahe grenzenlose Bühne der Selbstdarstellung. Das macht den besonderen Reiz der Gastgeberschaft aus.
Auch die FIFA-Fußballweltmeisterschaft 2002 Südkorea/Japan war in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Dennoch unterschied sie sich von ihren Vorgängern. Sie war nicht nur das erste Ereignis ihrer Art im neuen Jahrtausend, sie war auch die erste WM, die in Asien stattfand, und vor allem war sie die erste, die von zwei Gastgebern gemeinsam ausgerichtet wurde.1 Mit der Vergabe an die beiden Konkurrenten Japan und Südkorea2verwies die FIFA (franz. Fédération Internationale de Football Association) auf zukünftige Entwicklungen: Die Wahl asiatischer Gastgeber unterstrich den internationalen Charakter und Anspruch des Sport-Events und hob die Bedeutung hervor, die der Kontinent in zunehmendem Maße spielt. Die Vergabe an zwei asiatische Länder verwies gleichzeitig auf das sich verändernde Kräfteverhältnis in der Region. Japan als das Land, das sich durch seine frühe Entwicklung zu einer modernen Nation von allen anderen asiatischen Ländern deutlich abgehoben hatte, war der selbstverständliche Anwärter auf die erste in Asien ausgerichtete Olympiade, die Sommerspiele 1964 in Tōkyō, gewesen. Gleiches galt für die erste nach Asien vergebene Weltausstellung, die 1970 in Ōsaka eröffnet wurde. Kein anderes Land dieser Region war damals bereits in der Lage, den mit der Organisation eines dieser Mega-Events verbunden Anforderungen gerecht zu werden und hätte mit einer Vergabe der auf Europa und Nordamerika konzentrierten Veranstaltungen rechnen können.3
Anfang der 1980er Jahre war Japans Bewerbung um die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele im Jahr 1988 nicht mehr konkurrenzlos: Auch Südkorea trat als Kandidat auf. In der entscheidenden Abstimmung des Internationalen Olympischen Komitees am 30. September 1981 unterlag Nagoya mit 52:27 Stimmen deutlich gegenüber Seoul.4 Seitdem ist die Konkurrenz in Asien gewachsen. Im Juli 2001 schied Ōsaka, das sich um die Ausrichtung der Olympischen Sommerspiele 2008 beworben hatte, bereits in der ersten Auswahlrunde aus dem Rennen aus, das Peking für sich entschied.5
↓2 |
Japan und Korea, die eine 35-jährige Kolonialgeschichte teilen, hatten erbittert um die Gastgeberrolle bei der Fußballweltmeisterschaft 2002 gekämpft. Durch die Entscheidung der FIFA waren die Konkurrenten plötzlich zu gleichberechtigten Partnern geworden und gezwungen, für eine erfolgreiche Ausrichtung organisatorisch eng zusammenzuarbeiten. Die gemeinsame Ausrichtung hatte darüber hinaus weitreichende Konsequenzen. Eine wichtige Motivation bei der Bewerbung um die Ausrichtung eines Mega-Events ist die Verheißung einzigartiger Medienpräsenz nicht nur in der Zeit des Turniers, sondern auch in den Jahren der Vorbereitung. Gunter Gebauer sagt über Olympiaden, ihr Sinn und Zweck sei einzig die Erzeugung von Ereignissen im weltweiten Netz der visuellen Kommunikation6, und es gibt keinen Grund, dasselbe nicht auch für Fußballweltmeisterschaften anzunehmen. Das weltweite Interesse, das dem Gastgeber über den Zeitraum mehrerer Jahre hinweg garantiert ist, bietet unvergleichbare Möglichkeiten der Präsentation und der Imagewerbung. Durch die doppelte Gastgeberschaft waren diese beeinträchtigt. Statt die ungeteilte Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit für sich allein in Anspruch nehmen zu können, standen zwei Länder im Mittelpunkt der geteilten Aufmerksamkeit. Ferner war nicht auszuschließen, dass ihr schwieriges Verhältnis ebenfalls ins Blickfeld der internationalen Berichterstattung rücken würde.
In dieser Arbeit wird untersucht, welche Bedeutung die Ausrichtung des Sport-Mega-Events für die beiden Länder unter diesen Voraussetzungen hatte. Japan und Korea reagierten unterschiedlich auf die veränderte Ausgangslage. Wie sie reagierten, wird im Kapitel 3 anhand der in den Jahren der Vorbereitung in den jeweiligen WM-Diskursen artikulierten Erwartungen untersucht. Kapitel 4 ist den Erfahrungen gewidmet, die die Ausrichternationen während des Turniers sammelten. Schließlich stellt sich die Frage, ob es den beiden Ländern gelungen ist, die Rolle als gemeinsamer Gastgeber zum Anlass zu nehmen, das gegenseitige Verhältnis zu überdenken und einer Revision zu unterziehen.
Der theoretische Ansatz der Arbeit ist es, die Fußballweltmeisterschaft 2002 als Mega-Event zu interpretieren. Das bietet den Vorteil, den verschiedenen an sie gerichteten Erwartungen und den durch sie vermittelten Erfahrungen gerecht werden zu können. Innerhalb dieses Rahmens, dessen Grundlage Maurice Roches Arbeit zu Mega-Events und Moderne bildet, wird u.a. auf Volker Klenks Arbeit zu Weltausstellungen als Instrumente der Imagepolitik, auf die Eventtheorie von Winfried Gebhardt, Ronald Hitzler, Michaela Pfadenhauer u.a. sowie auf Gunter Gebauers Untersuchungen zur nationalen Repräsentation durch Sport zurückgegriffen, um einzelne Aspekte zu diskutieren.7Abschießend wird die Frage aufgeworfen, ob bei einer gemeinsamen Ausrichtung eines Mega-Events die Zielsetzung der nationalen Entwicklung überwunden und durch eine gemeinsame Perspektive ersetzt werden kann.
↓3 |
Der Auswahl der Quellen gingen die folgenden Überlegungen zur Definition des Begriffs „Diskurs“ voran. Diskurs wird als ein Geflecht von thematisch zusammengehörigen Aussagen verstanden, die über Textkorpora zu erschließen sind. Weil das besondere Interesse der Arbeit der Bedeutung der WM im Hinblick auf das Verhältnis zum Nachbarland gilt, wurden Medien, in denen das japanisch-koreanische Verhältnis diskutiert wird, gegenüber solchen bevorzugt, die sich in ihrer Berichterstattung auf Themen wie Fußball, Prominente usw. konzentrieren.
Die Auswahl der Quellen aus der Fülle der vorliegenden Texte ist ein hermeneutisches Verfahren, bei dem pragmatische Gesichtspunkte gegenüber Fragen der Repräsentativität abgewogen werden müssen. Schließlich ist „jedes Textkorpus, das einen Diskurs(ausschnitt) repräsentieren soll, [..] eine Gratwanderung zwischen ökonomisch Machbarem und wissenschaftlich Verantwortbarem.“8
Als Textkorpus dienten Artikel aus japanischen und südkoreanischen Monatszeitschriften. Im Gegensatz zu Tageszeitungen können sie Themen aufgreifen, die jenseits der Tagesaktualität liegen, und die Länge der Artikel erlaubt es, Themen und Hintergründe auszuführen und Meinungen und Argumente zu entfalten. Ausgewählt wurden Zeitschriften, die eine breite Mitte des öffentlichen Meinungsspektrums abdecken. Für eine eher zum Konservativen tendierende Sichtweise stehen die japanische Chūō Kōron und die koreanische Wŏlgan Chosŏn, für eine eher liberale Tendenz die japanische Sekai und die koreanische Sin Tonga. Alle vier decken ein allgemeines Themenspektrum ab. Da sich herausstellte, dass das Thema Fußballweltmeisterschaft in den koreanischen Zeitschriften stärker präsent war als in den japanischen,9wurde das japanische Textkorpus durch Artikel aus der Wochenzeitschrift Aera ergänzt. Zwar spiegelt dieses Ungleichgewicht deutlich das unterschiedliche Interesse an der WM wider, die geringe Anzahl von japanischen Artikeln während und nach der WM ließ jedoch kaum aufschlussreiche Vergleiche mit der koreanischen Seite zu. Die Aera als eine populäre Wochenzeitschrift liberaler Tendenz, die jüngere Leser anspricht, erwies sich als gute Ergänzung.
↓4 |
Für die Eingrenzung des Untersuchungszeitraumes waren folgende Daten ausschlaggebend: Am 1. Juni 1996 entschied die FIFA, dass Japan und Südkorea die Fußballweltmeisterschaft 2002 gemeinsam ausrichten sollten. Am 31. Mai 2002 wurde die WM in Seoul eröffnet, am 30. Juni 2002 fand in Yokohama das Finale statt. Um die Stimmung kurz vor der FIFA-Entscheidung, die Diskussionen in den sechs Jahren der Vorbereitung und das Erleben der WM während und kurz nach dem Turnier verfolgen zu können, wurde der Untersuchungszeitraum auf April 1996 bis Dezember 2002 festgelegt.
Japanische Wörter werden nach dem Hepburn-System transkribiert, lange Vokale sind mit einem Balken gekennzeichnet, z.B. ō; koreanische Wörter werden nach dem McCune-Reischauer-System transkribiert.
Die Namensnennung von Personen folgt der in Japan und Korea üblichen Weise, bei der der Familienname voransteht.
↓5 |
Die Namen koreanischer Autoren werden bei ihren Veröffentlichungen in westlichen Sprachen in der dort verwendeten Schreibweise wiedergegeben.
Eigennamen und Begriffe, die sich in einer bestimmten Schreibweise eingebürgert haben, werden in dieser gängigen Weise verwendet, wie die Schreibung „Seoul“ statt der Umschrift „Sŏul“ für die südkoreanische Hauptstadt.
An einigen Stellen wurden übersetzte koreanische und japanische Begriffe mit chinesischen Zeichen angegeben, in der Absicht, dem nur des Japanischen oder nur des Koreanischen kundigen Leser eine Vorstellung der ursprünglichen Bedeutung zu geben. Dabei ist jedoch zu beachten, dass in den beiden Sprachen mit dem gleichen Zeichen unterschiedliche Bedeutungsnuancen verbunden sein können.
↓6 |
CK |
Chūō Kōron |
STA |
Sin Tonga |
WC |
Wŏlgan Chosŏn |
1 Es gab gemeinsame Ausrichtungen großer Sportveranstaltungen vor dem Jahr 2002, z.B. die Kricket-Weltmeisterschaft 1996 in Indien, Pakistan und Sri Lanka oder die Fußball-Europameisterschaft 2000 in Belgien und den Niederlanden. Trotz ihrer Größe waren diese Turniere keine Mega-Events wie sie hier verstanden werden, da sie kein weltweites Publikum ansprachen.
2 Im Folgenden werden „Südkorea“ und „Korea“ als Bezeichnungen für die Republik Korea (kor. Taehan Min‘guk) verwendet.
3 1956 fanden die Olympischen Spiele in Melbourne statt.
4 Vgl. Kluge (2002), S. 26.
5 Vgl. Tagsold (2002), S. 183.
6 Gebauer (1996), S. 7.
7 Roche, Maurice (2000): Mega-events and modernity: Olympics and expos in the growth of global culture; Klenk, Volker (1999): Mega-Events als Instrument der Imagepolitik: Eine Mehrmethodenstudie zu Images und Imagewirkungen der universellen Weltausstellung Expo ‘92; Gebhardt, Winfried und Hitzler, Ronald und Pfadenhauer, Michaela (Hg.) (2000): Events: Soziologie des Außergewöhnlichen; Gebauer, Gunter z.B. (2000): Sport in der Gesellschaft des Spektakels.
8 Böke u.a. (2000), S. 16.
9 Im Zeitraum April 1996 bis Mai 2002 erschienen in der japanischen Chūō Kōron acht und in der Sekai vier Artikel mit Bezug zur WM 2002, während es für den gleichen Zeitraum in der südkoreanischen Wŏlgan Chosŏn zwölf und in der Sin Tonga 22 Artikel waren. Im Zeitraum Juni 2002 bis Dezember 2002 erschien in der japanischen Chūō Kōron kein einziger Artikel, in der Sekai erschienen drei. In der Wŏlgan Chosŏn erschienen 34 und in der Sin Tonga 15 Artikel.
© Die inhaltliche Zusammenstellung und Aufmachung dieser Publikation sowie die elektronische Verarbeitung sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung. Das gilt insbesondere für die Vervielfältigung, die Bearbeitung und Einspeicherung und Verarbeitung in elektronische Systeme. | ||
DiML DTD Version 4.0 | Zertifizierter Dokumentenserver der Humboldt-Universität zu Berlin | HTML-Version erstellt am: 05.09.2013 |