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Die Fußballweltmeisterschaft des Jahres 2002 offenbart paradoxe Züge. Obwohl die geteilte Gastgeberrolle nicht geplant war und obwohl der Verlauf andere Erfahrungen bewirkte als vorhergesehen, diente dies den ursprünglichen Absichten der Ausrichter bei Weitem besser, als es ein alleiniges Unternehmen vermocht hätte. Die Fußballweltmeisterschaft war kein gemeinsames Projekt und sie wurde es auch nicht, nachdem die FIFA die beiden Konkurrenten zu Partnern erklärt hatte. Sie blieb sowohl in Japan als auch in Südkorea ein nationales Unterfangen, bei dem der Nachbar jedoch eine wichtige Rolle spielte. War Japan für die koreanischen Vorbereitungen eine entscheidende Größe, so war es für die WM-Erfahrung bedeutungslos. Für Japan hingegen spielte der Nachbar bei der Konzeption des Events keine Rolle, war jedoch beim Erleben ein wichtiger Faktor.
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Die Betrachtung der Vorbereitungen auf das Turnier zeigt, dass vor allem Korea von der gemeinsamen Ausrichtung profitierte. Bereits der Bewerbungswettkampf war so erfolgreich, dass die FIFA-Entscheidung nicht nur als Bestätigung der Ebenbürtigkeit mit Japan aufgefasst, sondern zum Sieg Koreas und zur Niederlage Japans erklärt wurde, eine Auffassung, die auch in Japan geteilt wurde. Für Korea war mit der Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft ein klares Ziel verbunden: Es wollte sich auf der internationalen Bühne als eine Japan ebenbürtige Nation beweisen. Die gemeinsame Gastgeberrolle stand dieser Absicht nicht entgegen, im Gegenteil. Sie ermöglichte eine effektivere Selbstdarstellung, da einerseits ein direkter Vergleich mit dem Nachbarn jederzeit möglich und die Ebenbürtigkeit überprüfbar war. Andererseits konnte durch die Betonung kultureller Unterschiede das Profil vor dem Kontrast Japan geschärft werden. Die Vermutung liegt deshalb nahe, dass eine gemeinsame Ausrichtung mit Japan zumindest nicht außerhalb des Denkens der koreanischen Organisatoren lag, wenn sie nicht sogar deren eigentliches Ziel war.
Während die FIFA-Entscheidung die koreanischen Absichten eher beförderte als hinderte, war in Japan das Gegenteil der Fall. Das mit der WM-Ausrichtung verbundene Bestreben lag darin, die Rolle, die Japan auf der internationalen Bühne seit Langem erfolgreich ausfüllt, auf den Bereich des Fußballsports auszudehnen und darüber hinaus Internationalität zu einem Bestandteil der Identität der Bürger zu machen. Das Mega-Event sollte das Globale mit dem Lokalen verbinden. WM-Touristen sollten die Welt nach Japan bringen und die Unterbringung der ausländischen Mannschaften die interkulturelle Auseinandersetzung auf der Graswurzelebene voranbringen. Die Diskussion um die WM-Camps zeigt, dass die Kosmopolitisierung der japanischen Bürger hauptsächlich durch Begegnungen mit Besuchern aus fernen Ländern wie Mexiko, Kamerun oder Ecuador bewirkt werden sollte. Mit ihnen waren Begegnungen unbelastet von einer gemeinsamen Geschichte oder von zu großer geografischer Nähe möglich. WM-Touristen aus den Nachbarländern wurden hingegen mit Misstrauen betrachtet. Nicht nur, dass sie als potenzielle illegale Einwanderer wahrgenommen wurden, eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die erforderlich gewesen wäre, um dem Anspruch einer Annäherung gerecht zu werden, hätte weder in das Bild eines konfliktfreien, Völker verbindenden Sportereignisses gepasst, noch zum Image eines respektierten und zukunftsorientierten Global Players Japan. Durch die gemeinsame Ausrichtung mit Korea war eine unbeschwerte Herangehensweise nicht mehr möglich. Dieses Dilemma dämpfte die Freude und das Interesse an der WM erheblich.
Hinsichtlich der Imagepolitik, die mit dem Mega-Event verfolgt wurde, zeigen sich deutliche Unterschiede. Während Japan mit der Ausrichtung sein Image nach außen hin bestätigen wollte, beabsichtigte Korea, sein Image zu verändern. Die japanische Selbstdarstellung war in einen internationalen Kontext eingebunden, wohingegen Südkoreas Bemühungen zwar auf das internationale Publikum zielten, sich aber an Japan orientierten. In dieser Hinsicht kann die Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft als Fortsetzung eines Entwicklungsprozesses verstanden werden, bei dem Japan seine Bestrebungen nach Modernisierung an den westlichen Ländern ausrichtete, Koreas Blick hingegen nach Japan gerichtet war.
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Der Verlauf der Weltmeisterschaft vermittelte beiden Seiten neue Erfahrungen, die wichtige Impulse für das gegenseitige Verhältnis geben können. Das WM-Erleben in Korea glich einer Katharsis, die eine nationale Selbstfindung bewirkte. Einigkeit, Einheit, Stolz und Selbstbewusstsein waren deren zentrale Erfahrungen, die eine bisher nicht gekannte Gelassenheit hervorbrachten. Sie ist die Grundlage, die ein neues Auftreten auf der internationalen Bühne bewirken kann. Für Korea hat sich Whitsons Meinung bestätigt, nach der für die Repositionierung des Gastgebers in der internationalen Gemeinschaft die Veränderung der Sicht auf sich selbst die wichtigste Errungenschaft einer Mega-Event-Ausrichtung ist.532Koreas Selbstvergewisserung und Selbstbestätigung kann eine Haltung verstärken, die von Offenheit und Toleranz geprägt ist.
In Japan hat das Erleben der Fußballweltmeisterschaft die Wahrnehmung des Partners verändert: Korea ist nicht nur interessant und attraktiv, sondern Japan in einigen Aspekten sogar überlegen. Verwunderung und Bewunderung waren die Reaktion. Hervorzuheben ist, dass es nicht nur das Image Koreas ist, das sich veränderte. Die neue Qualität der japanischen Koreaerfahrung wurde durch den Event-Charakter der WM bewirkt. Sie unterscheidet sich von einer Begeisterung wie der durch die koreanische Popkultur ausgelösten Koreawelle.533 Die Erfahrungen, die ein Event vermittelt, sind emotional und körperlich. Sie werden möglich durch die freiwillige Teilnahme, durch die der Teilnehmende zu einem Teil des Ganzen, zu einem Teil des Events wird. Es gibt keine Distanz zum Geschehen, sondern die Erfahrung selbst ist das Event. Bei einem Phänomen wie der Koreawelle hingegen begeistert sich der Einzelne für eine Sache oder eine Person, ohne jedoch mit dem Gegenstand seines Interesses eins zu werden. Es bleibt eine unüberbrückbare Distanz bestehen. Gemeinsamkeit wird beim Austausch mit anderen Fans über den Gegenstand des gemeinsamen Interesses erfahren. Bei der Event-Erfahrung steht die ganzkörperliche Gemeinschaftserfahrung im Vordergrund. Die durch die Fußballweltmeisterschaft ermöglichte Koreaerfahrung ist daher ein Teil jener Japaner geworden, die an dem Event teilnahmen. Daraus kann weiteres Interesse entstehen, das mit Phänomenen wie der Koreawelle in Wechselwirkung tritt. Umgekehrt fördert bereits vorhandenes Interesse die Bereitschaft, sich auf weitere Erfahrungen mit einem Land einzulassen. Unbestritten ist, dass die Ausrichtung eines Mega-Events Aufmerksamkeit und Interesse auf den Gastgeber lenkt. Bereits 1988 gab es in Japan einen kleinen Koreaboom, als anlässlich der Olympischen Spiele in Seoul im Fernsehen fünf koreanische Filme gezeigt wurden, so viele wie nie zuvor.534So kann man davon ausgehen, dass sich im Jahr 2002 verschiedene Interessen an Korea gegenseitig verstärkten und sich auch weiterhin beeinflussen werden.
Was in dieser Arbeit besonders für Korea deutlich wurde, was aber andere Untersuchungen auch für Japan nahelegen,535ist, dass die Fußballweltmeisterschaft in beiden Ländern eine Auseinandersetzung mit der nationalen Identität bewirkte. Gleichzeitig vermittelte sie die Erfahrung von Internationalität. Das Besondere in diesem Fall ist die Rolle, die Japan für Korea und Korea für Japan spielte. Diese neuen Erfahrungen auf beiden Seiten können das gegenseitige Verhältnis positiv beeinflussen.
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Festzuhalten ist jedoch, dass die gemeinsame Ausrichtung nicht dazu beigetragen hat, das politische Verhältnis der beiden Nachbarn zu verbessern. Der Annahme, die geteilte Verantwortung für den Erfolg des Weltereignisses könne die beiden Nachbarn einander näher bringen, erwies sich schon deshalb als grundlos, weil die gemeinsame Gastgeberrolle nicht dem Wunsch der beiden beteiligten Parteien entsprang. Es lag weder in ihrer ursprünglichen Absicht, die Aufarbeitung der jüngeren Vergangenheit mit dem Mega-Event zu verbinden, noch nahmen sie die durch die FIFA herbeigeführte Situation der Partnerschaft als Anlass, dies zu tun.
Die gemeinsame Ausrichtung der WM spiegelt so das gegenseitige Verhältnis sehr gut wider. Höchste Priorität hat auf beiden Seiten das eigene, unmittelbare Interesse, in diesem Fall der eigene internationale Status, für den das Verhältnis zum Nachbarn eine untergeordnete Rolle spielt. Während Korea sich zwar in Relation zu Japan definiert und auch Bereitschaft signalisiert, mit dem Nachbarn über die Vergangenheit ins Reine zu kommen, steht die Lösung dieses Problems dennoch nicht an erster Stelle. Die Beschäftigung mit der eigenen Identität hat Vorrang. Japans Desinteresse und Widerwille an einer Auseinandersetzung über das Verhältnis zu Korea wurden ebenso deutlich sichtbar wie der Wunsch, sich endlich einer von der Vergangenheit befreiten Zukunft zuwenden zu können. Eine verbreitete politische Haltung, von der keine Bereitschaft zu einer von Empathie getragenen Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit zu erwarten ist, findet hier ihren Ausdruck.
Gleichzeitig hat der WM-Diskurs gezeigt, dass die aus der Vergangenheit entstehenden Probleme sich selbst bei eher banalen Fragen wie der Planung eines Sportereignisses nicht einfach ignorieren lassen. Ihre Aufarbeitung ist daher die grundlegende Voraussetzung für ein konstruktives und belastbares gegenseitiges Verhältnis.
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Das Mega-Event hätte eine Gelegenheit zu einer japanisch-koreanischen Annäherung werden können, die über individuelle Erfahrungen hinausgeht, wäre der beiderseitige Wille vorhanden gewesen. Das Potenzial dazu wurde in den japanischen WM-Fans sichtbar, die sich auf eine durch das Event vermittelte Koreaerfahrung einließen. Die Grenzen wurden jedoch ebenso deutlich, da es auf der koreanischen Seite keine ihr entsprechende Erfahrung gab. Das Event-Erleben bezog sich hier ausschließlich auf die eigenen Landsleute.
Die Ausrichtung eines Mega-Events stellt in der kollektiven Erinnerung eine wichtige Markierung dar, die, wie Roche hervorhebt, Generationen miteinander verbindet.536Der Versuch, dies auf die japanisch-koreanische Partnerschaft zu übertragen, könnte zum Ergebnis haben, dass die mit der Erinnerung an die WM 2002 immer wieder wachgerufenen Erfahrungen langfristig eine emotionale Annäherung der beiden Gastgeber fördern. Die Bestätigung des Selbstwertgefühls kann in Südkorea die Bereitschaft stärken, das Opferbewusstsein zu überwinden und auf Japan zuzugehen. Die Gemeinsame Erklärung, die die beiden Länder 1998 unterzeichneten, galt bereits als Geste der Versöhnung, die hauptsächlich von der koreanischen Seite ausging.537Der Gedanke der Vergebung mag dabei eine Rolle gespielt haben, da breite Teile der koreanischen Gesellschaft, darunter viele Politiker, christlich geprägt sind. Das neue Selbstbewusstsein kann diese Einstellung stärken und gegenüber Japan eine noch konstruktivere Haltung fördern. Wenn auf der japanischen Seite die neue Perspektive auf Korea mehr ist als ein Imagewandel, nämlich die Erfahrung eines Zusammengehörigkeitsgefühls, kann das die Bereitschaft erhöhen, sensibel auf Korea einzugehen. Diese Perspektive setzt allerdings voraus, dass die WM-Erfahrungen stark genug waren, um sich nachhaltig auszuwirken, und von genügend Japanern geteilt werden. Zumindest für die koreanische Seite scheint das zuzutreffen.
Eine andere Frage ist, ob die Fußballweltmeisterschaft zur Stärkung einer regionalen Identität und zu einem regionalen Zusammengehörigkeitsgefühl beitragen kann. Das Mitfiebern und Mitfühlen mit einer anderen als der eigenen Mannschaft war in Japan stärker ausgeprägt als in Korea,538dennoch wurde die WM weder in Japan noch in Korea aus einer regionalen Perspektive diskutiert. Auch in diesem Punkt unterscheidet sie sich von der Koreawelle, die von den Fans auch unter dem Aspekt der Schaffung einer ostasiatischen Kulturgemeinschaft diskutiert wird.539 Das Potenzial der gemeinsamen Ausrichtung der Fußballweltmeisterschaft hinsichtlich des japanisch-koreanischen Verhältnisses liegt deshalb in den durch das Event hervorgerufenen positiven emotionalen Erfahrungen. Sie sind Anknüpfungspunkte für weitere Auseinandersetzungen und Begegnungen.
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Die bloße Vergabe an zwei Ausrichter macht aus einem Mega-Event kaum mehr als zwei nationale Ereignisse. Das gilt umso mehr, wenn, wie in diesem Fall, die Gastgeber die gemeinsame Rolle nur unfreiwillig übernehmen. Weder Japan noch Korea rückten nach der FIFA-Entscheidung von ihren auf die eigene Entwicklung ausgerichteten Zielen ab. Für das gegenseitige Verhältnis wird die Fußballweltmeisterschaft 2002 daher höchstens eine indirekte Rolle spielen. Sie hat jedoch gezeigt, dass in dem Fall, in dem die beiden Seiten eine systematische Politik der Annäherung betreiben wollten, der emotionale Charakter eines Mega-Events vielfältige Möglichkeiten bietet, Erfahrungen von Gemeinschaft und Zusammengehörigkeit zu vermitteln.
532 Vgl. Whitson (2006), S. 1230.
533 Zur Koreawelle siehe z.B. Lee Eun-Jeung (2004).
534 Vgl. Yi Chung-gŏ (1992) und Im ē ji Fōramu 1988/11, Nr. 103.
535 Vgl. Ogasawara (2004) und (2004b), Aritomo (2004), Mōri (2004), Shimizu (2004).
536 Vgl. Roche (2000).
537 Vgl. McCormack (2002), S. 36.
538 Als Gründe wurden oben das Ausscheiden der japanischen Mannschaft, Solidarität mit Korea als dem einzigen im Turnier verbleibenden asiatischen Team sowie die Partnerschaft als Gastgeber genannt. Horne und Manzenreiter sehen in der Bereitschaft der japanischen WM-Fans, sich der koreanischen Mannschaft anzuschließen, “another illustration of the apparent plasticity of Japanese loyalties“ (Horne und Manzenreiter (2004a), S. 196).
539 Vgl. Lee Eun-Jeung (2004).
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