S. Dabringhaus: Territorialer Nationalismus in China

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Titel
Territorialer Nationalismus in China. Historisch-geographisches Denken 1900-1949


Autor(en)
Dabringhaus, Sabine
Erschienen
Köln 2006: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
371 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Eva-Maria Stolberg, Seminar für Osteuropäische Geschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Der Raum als Quelle nationaler Kraft

Mit dem „spatial turn“ sind geografische Kategorien in die Geschichtswissenschaften zurückgekehrt – mehr noch, sie lassen auch die deutsche Sinologie nicht unberührt. Bereits ausgewiesen für chinesische Grenzfragen (unter anderem die Dissertation zur Tibet-Politik des Song Yun) 1, arbeitet die Freiburger Sinologin Dabringhaus in ihrer Habilitationsschrift Raumkonzepte in der historischen Schule der ausgehenden Qing- und Republikzeit heraus und analysiert auf Grund einer breiten Quellengrundlage die Auswirkungen auf das nationale Denken in der Umbruchzeit von 1900 (Boxeraufstand) bis 1949 (Ende des chinesischen Bürgerkrieges). In dieser Zeit innenpolitischer Wirren und der Neuorientierung besann sich der chinesische Nationalismus auf das untergegangene Imperium. Mit dem Untergang des jahrtausende alten Universalanspruchs des „Reiches der Mitte“ drängte sich die Frage nach einer neuen Definition des chinesischen Staates auf. Weltweit leitete die erste Dekade des 20. Jahrhunderts den Niedergang der Imperien (Deutsches Kaiserreich, Habsburger Reich, Zarenreich) und das Aufkommen des modernen Nationalstaates ein. Nach der Absetzung des letzten Himmelsherrschers Puyi wurde China auf das Territorium zurückgeworfen. Dabringhaus stellt fest, dass – ungeachtet der institutionellen Brüche mit dem Kaiserreich seit 1912 – die räumliche Kontinuität nie angezweifelt wurde, wohl aber der Universalanspruch. Sicherlich erschien in den Wirren der Republikzeit eine Qing-Nostalgie für viele Intellektuelle attraktiv. Die Frage nach der räumlichen Kontinuität berührte vor allem die Randgebiete. Im Modernisierungsprozess des ausgehenden 19. Jahrhunderts trieb die Qing-Regierung die Homogenisierung der multiethnischen Peripherie an – eine Entwicklung, die sich auch in anderen Imperien wie dem Russländischen Reich finden lässt. 2 In vieler Hinsicht bieten sich beide Imperien zum komparatistischen Vergleich an und stellen einen Fundus für künftige Forschungen zur Bedeutung innerasiatischer Peripherien dar (S. 12).

Unter territorialen Nationalismus versteht Dabringhaus, die hier dem Politikwissenschaftler Bhikhu Parekh folgt, den „Entwurf einer nationalen Gesellschaft durch retrospektive Homogenisierung“ (S. 15). Ziel war es, die hanchinesische Führungsrolle in der „chinesischen Völkergemeinschaft“ zu legitimieren. Die chinesische „mission civilisatrice“ bestand in der Assimilation der an der Peripherie lebenden Völker. In diesem Zusammenhang begannen sich chinesische Gelehrte des ausgehenden 19. Jahrhunderts für die Geografie der Westgebiete zu interessieren, die als „praktische Staatskunst“ (jingshi xue) angesehen wurde. Triebfeder dieses Denkens war der russische, später der sowjetische Expansionismus. Vor allem He Qiutao und Zhang Mu sprachen sich für eine aktive Geopolitik aus und befürworteten den Ausbau der Grenzverteidigung im Nordwesten als „Grundpfeiler des Qing-Staates“ (S. 31). In der Qing-Periode entstanden dreihundert Abhandlungen über den Nordwesten. Eine Reihe von wichtigen Feldstudien entstanden, wie z.B. die „Aufzeichnungen über das Nomadentum in der Mongolei“ (Menggu youmu ji) – ein Werk, das 1895 ins Russische übersetzt wurde. He Qiutao veröffentlichte zudem eine Quellensammlung zu den frühen russisch-chinesischen Beziehungen unter dem bezeichnenden Titel „Strategie der Befriedung der Russen“ (Pingding Luosha fanglue) (S. 36). In der späteren Republikzeit vertrat Liang Qichao, bekannter Vertreter der Nationalgeschichtsschreibung, den Standpunkt, dass die Hanchinesen und die zentralasiatischen Völker des Nordwestens seit dem Mittelalter eine politische Einheit bildeten, die von den europäischen Mächten bedroht werde. Dies war die Grundlage für ein multiethnisches China mit klar definierten Territorialgrenzen. Stabilität erforderte eine territoriale Souveränität (S. 44). Dabei lag es auf der Hand, dass Parameter westlicher Nationalgeschichtsschreibung auf China nicht übertragbar waren. In einer tour d’horizon zeichnet Dabringhaus von der klassischen chinesischen Geschichtsschreibung seit dem Altertum bis in die Moderne nach, dass geografisches und historisches Denken aus einer „autochthonen chinesischen Tradition“ erwuchsen (S. 57). Doch war man durchaus für aufkommende westliche Denkkategorien, vor allem für den von George B. Cressey mitgeprägten „environmental determinism“ empfänglich. In der Hochphase des Imperialismus wurde auch in China der Gedanke populär, dass die territoriale Einheit nur im „Überlebenskampf des Stärkeren“ gerettet werden könne (S. 64).

Nach diesem Auftakt in der Qing-Periode markierten die 1930er-Jahre den eigentlichen Aufschwung der Geopolitik in China, der im Zusammenhang mit der japanischen Expansion zu sehen ist. Interessant ist, dass in dem damaligen geografisch-historischen Diskurs die Rede von der „Wiederbelebung der chinesischen Kultur durch die Verschmelzung aller Völker Chinas zu einer neuen chinesischen Kultur“ war, was eine Analogie zu dem bekannten Konzept des „Sowjetvolkes“ darstellt. Ein weiteres Beispiel findet sich in der Vorstellung chinesischer Gelehrter wie z.B. Zeng Wengwu von den Mongolen als einem „kulturell kindlichen Volk“, in ähnlicher Weise wurden in der Sowjetunion der 1930er-Jahre die sibirischen Völker infantilisiert. In den späten 1930er- und in den 1940er-Jahren gerieten die innerasiatischen Peripherien im Zuge der sowjetisch-japanischen Spannungen immer mehr unter den Homogenisierungsdruck durch die Zentralregierungen. So sprach sich Huang Fensheng dafür aus, dass zwar die „Drei Volksprinzipien“ (Gleichberechtigung, Selbstbestimmung und Selbstverwaltung) auch für die Völker der Peripherie Gültigkeit hätten, jedoch seien diese Ziele angesichts der Angriffe von Außen vorerst zurückzustellen (S. 150f.). Blickt man auf das sowjetische und chinesische Beispiel, so ist der Autorin unbedingt beizupflichten, dass die „rigorose Vereinheitlichung“ die Voraussetzung schuf, „in der bedrohlichen internationalen Umwelt [...] nach außen hin stark aufzutreten“. Geopolitik und Grenzraumthematik ließ sich offensichtlich nicht mit dem Recht vermeintlich marginaler Ethnien auf Selbstbestimmung vereinbaren. Gleichzeitig trat – wie in der Sowjetunion – ein ökonomischer Nationalismus zutage. Für Wen Zirui stellte die Peripherie das demografische Auffangbecken für das dicht bevölkerte Kernland (S. 172). Die Migration von Hanchinesen seit den 1930er-Jahren ließ den Nordwesten zu einem „Neuland“ werden. Im Unterschied zur Sowjetunion, wo zur Zeit der Säuberungen jede Kritik verstummte, wurde die Grenzraumerschließung von chinesischen Wissenschaftlern skeptisch beurteilt. Zhang Weihua kritisierte die Korruption der Lokalbeamten im Nordwesten, Cheng Zemin zog die geplante Agrarisierung der Nomadengebiete angesichts der klimatischen Bedingungen in Zweifel (S. 181). Auf die junge Generation übte der Nordwesten dagegen eine ungebrochene Faszination aus (auch hier eine Analogie zur Sowjetunion) (S.182). War es in der Sowjetunion die Oktoberrevolution von 1917, so war es in China die 4. Mai-Bewegung des Jahres 1919, die am Horizont eine „neue Jugend“ und eine „neue Zivilisation“ aufkommen sah. Für die jungen Menschen stellte der Nordwesten eine Bewährungsprobe dar, sie verstanden sich als Pioniere in der Wildnis. In den 1930er und 1940er- Jahren wurde der Nordwesten zu einem ähnlichen Mythos wie Sibirien für die Sowjets. Dabringhaus spricht hier zu Recht von einer „frontier“, die für die nationale Mythenbildung Helden benötigte. Die „frontier society“ sollte „ohne Belastungen durch alte Strukturen zu einer neuen Gesellschaft“ werden (S. 190, 204).

Schließlich widmet sich Dabringhaus der Integration der chinesischen Muslime (Hui), die nicht zu den Grenzvölkern (bianjiang minzu) gehörten, sondern – da im Kernland lebend – als Bürger der chinesischen Republik angesehen wurden. Während die Qing-Dynastie noch eine restriktive Politik verfolgt hatte, kam es in der Republikzeit zu einer Blüte des Islam. Muslimische Schulen wurden gegründet und es entstand die „Islamische Gesellschaft Chinas“. Im Unterschied zu den Grenzvölkern, die aus chinesischer Sicht als wenig loyal erschienen, wurde im Fall der Hui eine Bikulturalität gefördert, die der arabisch-islamischen Kultur ein chinesisches Fundament geben sollte (S. 267).

Letztendlich wurde – ähnlich wie im zarischen Russland und der Sowjetunion – auch in China die Integration der innerasiatischen Peripherie durch die ethnische und religiöse Vielfalt erschwert, sie zeigte die Grenzen der Assimilation. Tatsächlich blieb der Nordwesten – ähnlich wie die zentralasiatischen Sowjetrepubliken und Sibirien – eine Grenzlandschaft, nach Dabringhaus „führten die Wanderungen nicht unweigerlich in den großen Schmelztiegel der Zentralkultur“ (S. 220), was für eine Brüchigkeit des territorialen Nationalismus spricht. Insgesamt hat Dabringhaus eine überaus anspruchsvolle Studie geliefert, die den Blick auf transnationale Imperiengeschichten schärft. Die Frage, inwieweit sich die peripheren Völker in der kollektiven Identität des „territorialen Nationalismus in China“ wiederfanden, bleibt allerdings offen.

Anmerkungen:
1 Dabringhaus, Sabine, Song Yu zhi Yang yanjiu, Zhongguo Renmin Daxue, Dissertation, Peking 1990; siehe auch: Dabringhaus, Sabine (in Zusammenarbeit mit Roderich Ptak), China and her Neighbours. Borders, Visions of the Other, Foreign Policy, 10th to 19th Century, Wiesbaden 1997.

2 Stolberg, Eva-Maria, Sibirien. Russlands „Wilder Osten“. Mythos und soziale Realität im 19. und 20. Jahrhundert. Habilitationsschrift, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn (<http://hss.ulb.uni-bonn.de/diss_online/phil_fak/2006/stolberg_eva-maria>).

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