S. Hering: Toleranz - Weisheit, Liebe oder Kompromiss?

Cover
Titel
Toleranz - Weisheit, Liebe oder Kompromiss?. Multikulturelle Diskurse und Orte


Herausgeber
Hering, Sabine
Erschienen
Anzahl Seiten
271 S., 20 Abb., 4 Tab.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christa Paulini, Fakultät Soziale Arbeit und Gesundheit, Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst, FH Hildesheim, Holzminden, Göttingen

Das von Sabine Hering herausgegebene Buch beschäftigt sich „mit der Geschichte der Toleranz und ihrer unterschiedlichen Verortungen“ und der Frage was Toleranz letztendlich auszeichnet. Um Antworten auf diese Fragen zu bekommen liegt ein Schwerpunkt des Buches auf den „Vergleich der Geschichte von multikulturellen und multireligiösen Orten“ und der Nachzeichnung der Entwicklung von toleranten Verhalten. Damit sollen Einsichten in die Faktoren gewonnen werden, welche Toleranz begünstigen bzw. zum Erliegen bringen können (S. 8).

Im Vorwort geht Sabine Hering auch auf die dem Buch begleitenden Erfahrungen ein, die deutlich machen, wie wichtig und aktuell, schwierig und widersprüchlich dieses Thema ist. Weiterhin benennt Sabine Hering selbst als Lücke „das Fehlen eines spezifischen Beitrags oder der beitragsübergreifenden Behandlung des Gender-Aspekts bezüglich der Toleranzthematik“ (S. 10) um dann selbst den bisherigen Diskussionsstand und offene Fragestellungen anzureißen. Jürgen Ebrach nähert sich dem Begriff sowohl alltagssprachlich als auch etymologisch. Toleranz wird zu Beginn mehr im Sinne von „dulden, ertragen oder aushalten“ des Anderen gesehen (S. 17). Toleranz ist nicht beliebig, sie kann mühsam sein. Schwierig bleibt die „Paradoxie der Toleranz“ d.h. Toleranz, die auf Intoleranz trifft. Ebach plädiert hier für eine „persuasive, eine werbende Toleranz“ (S. 31). Toleranz ist – so seine Zusammenfassung - eine Perspektive, die den anderen und das Fremde wahrnimmt, es nicht gewalttätig ausgrenzt und vernichtet, sondern die Bereicherung für das eigene Leben erkennt.

Die Beiträge des zweiten Abschnittes geben interessante Einblicke wie Toleranz an unterschiedlichen Orten gelebt wurde und teilweise wird, sie zeigen die Entwicklung von Toleranz und Bedingungen für ein friedvolles Zusammenleben der verschiedenen Religionen und Kulturen anhand der Städte Jerusalem, Isfahan, Toledo, Sarajewo, Tomaszów Mazowiecki und Neuwied auf; sie beschreiben aber ebenso durch welche Ereignisse der Umschlag in Verfolgung und Feindschaft erfolgt ist. Außerdem findet sich hier ein Beitrag zur „bedingten Toleranz“ des preußischen Staates. Micha Brumlik blickt auf Jerusalem und seine Geschichte. Jerusalem als Stadt, der voll Sehnsucht in der Verbannung gedacht wird, als Teil des kollektiven Gedächtnis des Judentums, als bedeutendes Heiligtum verschiedener Glaubensbekenntnisse. Jerusalem als „religiöses Symbol“, Zankapfel aber auch Chiffre für das „Problem des ungelösten Selbstverständnisses sowohl der jüdischen als auch der arabischen Nationalstaatsbildung“ (S. 42). Brumlik verknüpft in seinen Beitrag gekonnt die Geschichte der Stadt Jerusalem mit dem Projekt der „Staatsgründung auf der Basis des säkularen Nationalismus als Zionismus“ (S. 43) und geht u.a. auf die damit verbundenen, geschaffenen und heute noch nicht gelösten Problemen ein.

Navid Kermani zeigt uns Isfahan, ihre Geschichte und ihre Menschen. Isfahan, dass ist u.a. die multikulturelle Stadt und das Erleben der „Utopie des friedlichen Zusammenlebens von fünf Religionen“ (S. 50). Es ist gelebte, aber auch durch Auswanderung bedrohte Realität. Diejenige die bleiben, benennen u.a. das in der Scharia verankerte „Blutgeld“ als Problem. Sie klagen über die damit verbundene Missachtung ihres Menschsein und darüber als Christ, Jude oder Zoroastrier weniger wert zu sein als Muslime (S. 51). Trotz aller Klagen wird der Stolz auf Isfahan als Stadt deutlich, ein Stolz der Muslime und Nicht-Muslime vereint. Der Blick auf Isfahan wird durch den Beitrag von Gabriele Krüger erweitert, die sich mit Paul Fleming, einen protestantischen Barockdichter, seiner Reise nach Persien, seinem Aufenthalt in Isfahan und den Hintergründen dieser Reise beschäftigt. Seine Begegnungen zeigen, dass friedliche, ja freundschaftliche Begegnungen möglich sind, auch wenn es keine eigentliche religiöse Toleranz gibt. Dies geht, wenn Religion als Volkszugehörigkeit angesehen wird und so mit Respekt behandelt und bestaunt werden kann.

Mariano Delgado beschäftigt mit dem Mythos „Toledo“ und begründet, dass die abrahamische Konvivenz auf spanischen Boden immer ein gefährdetes Zusammenleben „zwischen Duldung, Verfolgung und Bekehrung“ (S. 70) darstellte. Das westgotische Modell: „Ein Herr, ein Reich, ein Glaube“ wird 711 abgelöst durch das islamische Modell, dass von einer dominierenden und zwei geduldeten Religionen ausgeht. Mit der Eroberung Toledos um 1085 beginnt die Rückkehr zum westgotischen Modell. Dies wird lange Zeit abgemildert durch das Interesse die eroberte Bevölkerung zu halten. Verfolgung, Zwangstaufen und Duldung wechseln nun. Von einer Sonderrolle des christlichen Spaniens in Sachen Intoleranz kann – so Delgado - aber trotzdem nicht gesprochen werden (S. 83). Gordan Godec zeigt uns Sarajevo mit seinen „multiethischen und multireligiösen Charakter des Zusammenlebens“ (S. 94). Das Besondere an Sarajevo, dessen Bewohner sich selbst als Sarajlijer bezeichnen, ist das Entstehen einer gemeinsamen Kultur „ohne dass die eigene kulturelle und religiöse Identität vernachlässigt oder gar aufgegeben wurde“ (S. 100). Der Charakter von Sarjevo wurde geprägt vom osmanischen Basarviertel mit Kleinhandwerkern, Händlern, die eine gemeinsame Identität unabhängig von Religionszugehörigkeit entwickeln und den Mahalas, d.h. den Orten, „in denen jede Gemeinschaft ihre Kultur lebt und weniger auf Vermischung als auf Eigenständigkeit ausgerichtet ist“ (S. 94).

H.-Georg Lützenkirchen stellt fest, dass „Toleranz/Duldung“ eine entscheidende Voraussetzung für Wachstum und Entwicklung der Stadt Neuwied war. Die Absicherung im Stadtprivileg schafft eine Grundlagen für eine „über die bloße Toleranz hinausgehende rechtliche Sicherstellung von Religionsfreiheit“ (S. 115). Das Neuwieder Toleranzmodell bewährt sich sowohl in Konflikten als auch bei der Ansiedlung neuer Gemeinschaften. Die offensive Toleranzpolitik wirkte sich positiv auf die Stadtentwicklung aus und Ende des 18. Jahrhunderts „lebten sieben ‚große’ Glaubensgemeinschaften in Neuwied friedlich miteinander“ (S. 121f). 1806 endet das „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“; die selbständige Grafschaft Wied wird aufgelöst. „Das eigenständige Neuwieder Toleranzmodell war zu Ende. Geblieben ist das verpflichtende Erbe“ (S.126). Johannes Heil geht auf die wechselhafte Geschichte der brandenburgischen Juden – speziell von 1671 bis 1812 - näher ein. Er zeigt die Folgen, der unter Friedrich II forcierte sozial-rechtliche Ausdifferenzierung besonders innerhalb der Berliner Juden auf und setzt sie in Beziehung zu „ökonomischer Modernisierung und jüdischer Moderne“ (S. 139). „Die jüdischen Träger und Nutznießer wirtschaftlicher Modernisierung wurden zugleich die Träger innerjüdischer Modernisierung bzw. zogen das Personal an, dass die entsprechenden Impulse geben und die Brücken zu den (...) Eliten auf der jüdischen Seite schlagen würde“ (S. 139).

Beate Kosmala stellt uns Tomaszòw Mazowiecki vor, der von Antoni Ostrowski im 19. Jahrhunderts als Fabrikort gegründet wurde. Dort sollten katholischen Polen‚ Christen aus Deutschland und Israeliten aus der Umgebung brüderlich leben und arbeiten (S. 145). 1931 lebten dort 38.000 Einwohner: 60 % sind katholische Polen, 30 % Juden und 10 % Lutheraner ( S. 147). Auch hier begegnet uns gemeinsames Leben – ein Netz vielfältiger kultureller und sozialer Begegnungen – und getrenntes Leben durch „Bewegen in der eigenen Lebenswelt“. Schulwesen und Spracherwerb waren – mit nur wenigen Ausnahmen – ebenso getrennt. Die einsetzenden politischen Veränderungen zeigten, dass die Ideen Ostrowskis nicht wirklich gefestigt waren und einer allmählichen Unterhöhlung nicht standhalten konnten. Im ersten Beitrag des abschließenden Teils des Buches beschreibt Dawud Gholamasad die „vielen Gesichter des Islamismus“ und versucht vor dem Hintergrund differenzierter Analysen zu verdeutlichen, dass Islam und Islamismus zwar unterscheidbar, aber nicht trennbar sind. Die vielfältigen Bedrohungen, die für Muslime mit der Perspektive der Verwestlichung verbunden sind, setzen deshalb auch der Toleranz gegenüber westlichen Auffassungen und Lebensweisen deutliche Grenzen. Gholamasad bezieht sich u.a. auf Bourdieu´s Begriff des sozialen Habitus um das Gemeinsame und das Unterschiedliche von Muslime und Islamisten genauer zu bestimmen (S. 160) und verweist auf mögliche Wege der Deeskalation (S. 179).

Ralph van Doorn beschäftigt sich vor dem Hintergrund des dialogischen Denkens von Martin Buber kritisch mit all jenen Formen des Dialogs, die nur das Etikett nutzen, um in missionarischer Absicht die Bekehrung der jeweils „Andersgläubigen“ zu betreiben - ohne deren Religion wirklich zu kennen und ihrem Glauben die notwendige Achtung entgegen zu bringen. Die Haltung von Martin Buber, die gekennzeichnet ist durch den Satz: „Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch“ (S. 182) und seine Ablehnung von Mission unter Menschen, „die einen lebendigen Glauben haben“ (S. 183) schafft eine andere Ausgangspositionen für einen wirklichen Dialog. Im dritten Beitrag des letzten Teils bündeln Sabine Hering und H.-G. Lützenkirchen die bisherigen Darstellungen und thematisieren die Bedeutung der Toleranz für die Regelung eines friedlichen und produktiven Zusammenlebens verschiedener Religionsgemeinschaften und Kulturkreise. Der geschichtliche Rückblick zeigt, dass Toleranz bis zum ausgehenden 16. Jahrhundert kaum mehr meint als „Duldung eines anderen Bekenntnisses“ (S. 191). Minderheiten werden durch Erlasse oder Edikte abgesicherte Rechte zugebilligt. In der Aufklärung verändert sich die Sichtweise auf Toleranz; Toleranz wird eine Tugend. Heute stehen wir vor der Tatsache, dass die Toleranz zwar als zentraler Bestandteil der Zivilgesellschaft betrachtet wird, ihre Realisierung aber trotzdem zu wünschen übrig lässt. Damit Toleranz ihre „Bedeutung als zivilisatorische Grundhaltung und gleichzeitig als gerechteste Strategie zur Konfliktlösung“ (S. 204) behaupten kann braucht es die Verbindung zu den Menschenrechten. Wenn die Toleranz in diesem Sinne begriffen und praktiziert wird, gewinnt sie anstelle der vermeintlichen Beliebigkeit eine klare Orientierung, welche sowohl die Ziele als auch die Grenzen der Toleranz für alle verbindlich bestimmt.

Das vorliegende Buch greift ein – in der heutigen Zeit – sperriges Thema in eindrucksvoller und spannender Weise auf. Es deckt „Mythen“ auf, macht neugierig auf bestimmte Städte und zeigt die vielseitigen Möglichkeiten auf sich dem Thema zu nähern. Deutlich wird dabei, dass Toleranz eine notwendige Verbindung zu Menschenrechten und Diversity ebenso braucht, wie dass sich „seiner Selbst sicher sein“. Die angefügten Dokumente bieten die Möglichkeit sich intensiver mit der Geschichte der Toleranz zu befassen. Ich wünsche allen Leser/innen eine spannende, vergnügliche und lehrreiche Zeit mit diesem Buch.

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension