Schlüsselmomente der Fotografie

Mit der Ausstellung «Die Geburtsstunde der Fotografie» gedenkt das Forum Internationale Photograpie der Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim des 100. Geburtstags des Sammlers Helmut Gernsheim.

Von Gabriele Hoffmann
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Wunder nach acht Stunden Belichtung – Blick aus dem Fenster von Joseph Nicéphore Niepce (1826). (Bild: PD)

Wunder nach acht Stunden Belichtung – Blick aus dem Fenster von Joseph Nicéphore Niepce (1826). (Bild: PD)

«Der Blick aus dem Fenster in Le Gras» von Joseph Nicéphore Niepce gilt heute als «erste Fotografie der Welt». Den Fotopionieren Helmut und Alison Gernsheim war es 1952 gelungen, das Werk des Franzosen, das 1898 in einer Ausstellung im Crystal Palace in Sydenham, London, zu sehen und danach verschollen war, nach Jahren zäher Suche in einem eingelagerten Reisekoffer aufzuspüren. Niepce' Fotografie von 1826 ist die erste bekannte Aussendarstellung auf einer Zinnplatte. Zuvor hatte man fotografische Bilder nur als Kontaktkopie in der Camera obscura zeitweise chemisch fixieren können. Jetzt ist Niepce' Fensterblick der klare Sieger unter den 250 fotografischen Kostbarkeiten der Mannheimer Ausstellung «Die Geburtsstunde der Fotografie» mit «Meilensteinen der Gernsheim Collection». Und das verdanken die Fotoenthusiasten amerikanischen Wissenschaftern, denen es nach langen Versuchen gelungen ist, der belichteten Zinnplatte einen Schaukasten zu geben, der die Konservierung des Bildes garantiert. Nicht garantiert ist, dass der Besucher in dem leicht verbeulten spiegelnden Metall sieht, was er sich von einer Fotografie erwartet. Am Ende trägt das geheimnisvolle Helldunkel dazu bei, dass mit dem Verstehen der Technik nicht alles abgehakt ist, dass etwas vom Mythos des Anfangs bleibt.

Helmut Gernsheim wurde 1913 in München geboren, studierte zuerst Kunstgeschichte, danach Fotografie. Als Halbjude emigrierte er 1936 nach London. Dort lernte er Alison Eames kennen. Sie heirateten noch während des Krieges, und bald entwickelte auch Alison eine lebenslange Begeisterung für die Fotografie. Zur Sammelleidenschaft für historische Fotos kam bei beiden das Interesse an der Geschichte und an der Ästhetik des Mediums, das in zahlreiche Schriften und 1955 in die gemeinsam verfasste «History of Photography» mündete. 1963 verkaufte das Paar seine komplette Sammlung, rund 35 000 Originalfotos, dazu Bücher, Alben und fotografische Apparate, an das Ransom Center der Universität Texas in Austin. Europäische Museen hatten abgelehnt; als künstlerisches Medium war die Fotografie noch nicht habilitiert. Das bescherte der Universität Texas die erste Fotografie der Welt als Schenkung. Fünfzig Jahre später sind jetzt erstmals Werke aus dem historischen Teil der Gernsheim Collection in Austin mit Werken der zeitgenössischen Fotografie vereinigt, die Helmut Gernsheim nach Alisons Tod 1969 gesammelt hatte und die das Reiss-Engelhorn-Museum 2003 erwarb.

Sehr viele der Künstlernamen sind bekannt. Auch einige der präsentierten Fotografien hat man in Erinnerung, weil sie einen Moment festhalten, vielleicht auch ein Zeitgefühl, einen Verlust, etwas, für das nur dieses Bild authentisch ist, hat man es einmal gesehen. Das kann zum Thema «Landschaft und urbaner Raum» das «Querschiff des Kristallpalastes», die Dokumentation eines Bauabschnitts, in Philip Henry Delamottes Fotografie von 1853, aber auch «Der Blick vom Funkturm» von Moholy-Nagy sein.

Robert Häusser geht mit «Relative Orientierungen» in der Reduktion des Gegenstands – hier ein Stück Strasse – noch einen Schritt weiter zum reinen Schwarz-Weiss-Kontrast. Im Kapitel «Reise- und Ethnofotografie» zeigt die Ausstellung eine Daguerreotypie von Girault de Prangey: «Gespiegelte Ansicht auf die Akropolis und Athen» (um 1842). In der Rubrik «Stillleben» gehören Otto Steinerts «Stillleben mit Fisch» und «Werkzeuge eines Schreiners» von Albert Renger-Patzsch zu der von Helmut Gernsheim als Fotograf und als Sammler bevorzugten Neuen Sachlichkeit.

Mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgte das Sammlerpaar neue Tendenzen im Bildjournalismus. Henri Cartier-Bressons «Ein Sonntag am Ufer der Marne» gehört dazu. Das Bild ist ein Beispiel für den Stil, in dem «Life»- und «Magnum»-Fotografen über Hunger, Armut und Krieg berichteten. Ein Vorläufer war zweifellos Alfred Stieglitz mit der Foto «Das Zwischendeck» von 1907. Wahre Meilensteine der Bildniskunst sind Julia Margaret Camerons «Studie eines Kinderkopfes» von 1866 und Hugo Erfurths Kandinsky-Porträt von 1922.

Die Geburtsstunde der Fotografie. Meilensteine der Gernsheim Collection. Forum Internationale Photographie der Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim. Internet: www.rem-mannheim.de.. Bis 6. Januar 2013. Katalog (Kehrer-Verlag) € 39.90.