Rassismus im Wandel. Vom Rassebegriff zum Kulturbegriff

Eine ethnologisch-diachronische Betrachtung des Rassismusdiskurses und des Verhältnisses von Wissenschaft und "rechtsextremer" Politik


Diplomarbeit, 2012

190 Seiten, Note: 2


Leseprobe


Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Forschungsstand

Forschungsfrage und Hypothese

I. Methoden und Struktur des Buches
1. Kritische Diskursanalyse und Struktur
2. Literaturvergleich

II. BEGRIFFE, DEFINITIONEN, THEORIEN
1. Begriffsgeschichte von „Rasse“
1.1 Etymologie des Rassebegriffs
1.2 Definitionen von Rasse
1.3 Historische Betrachtung der Entwicklung des Rassebegriffs
1.4 Exkurs: Rasse und race
2. Rassismen - Struktur und Geschichte
2.1 Definitionen
2.2 Formen von Rassismen
2.2.1 Biologistischer Rassismus
2.2.2 Neorassismus, Kulturalistischer Rassismus, Differentialistischer Rassismus, Rassismus ohne Rassen
2.3 Rassismuskritik
2.4 Exkurs: Der Nutzen der Biologie und die Populationsgenetik
3. Ideologiebegriff
3.1 „Rechte“ Ideologie
3.2 Rassismus und Ideologie

III. Ethnologische Wissenschaft und nationalsozialistische Politik
1. Nationalsozialismus
2. Rassistische Ideologie und Nationalsozialismus
3. Zum ambivalenten Verhältnis zwischen Wissenschaft und Politik
4. „Dem Führer entgegenarbeiten“
5. Über Täter, Mittäter und Mitläufer
5.1 Otto Reche
5.1.1 Werk und Forschung
5.1.2 Reche und seine Beziehung zum Nationalsozialismus
5.2 Wilhelm Emil Mühlmann
5.2.1 Werk und Forschung
5.2.2 Mühlmann und seine Beziehung zum Nationalsozialismus
5.3 Richard Thurnwald
5.3.1 Werk und Forschung
5.3.2 Thurnwalds Absolventin Eva Justin
5.3.3 Thurnwald/Justin und deren Beziehung zum Nationalsozialismus
6. Resümee: Gegenseitige Einflussnahme und rassistische Legitimation

IV. Wissenschaft und die „Neue Rechte“-Bewegung
1. Ideologie und die „Neue Rechte“-Bewegung
1.1 Zum Begriff „Neue Rechte“
1.2 Geschichte der Neuen Rechten
1.3 Zur Ideologie der Neuen Rechten: Konservative Revolutionäre
1.3.1 Arthur Moeller van den Bruck
1.3.2 Oswald Spengler
1.3.3 Carl Schmitt
1.4 Zur Ideologie der Neuen Rechten: Europäischer Faschismus und Julius Evola
1.5 Zusammenführung der Ideologie I: Gegen die Gleichheitslehre
1.5.1 Ein Dritter Weg: Gegen Marxismus, Gegen Liberalismus
1.5.2 Gegen Imperialismus
1.5.3 Gegen Judäo-Christentum
1.5.4 Gegen universelle Menschenrechte
1.6 Zusammenführung der Ideologie II: Ethnopluralismus und Kulturalismus
2. Rassismus bei den Neuen Rechten
3. Einfluss der Wissenschaft
3.1 Race, Genetics, IQ: Die Intelligenzfrage
3.1.1 Arthur Jensen
3.1.2 Hans Jürgen Eysenck
3.1.3 „The Bell Curve Wars“
3.1.4 Neue Rechte und Intelligenzforscher
3.1.5 Analyse und Kritik
3.2 Die Macht der Biologie: Die Verhaltensforschung
3.2.1 Konrad Lorenz
3.2.2 Irenäus Eibl-Eibesfeldt
3.2.3 Neue Rechte und Verhaltensforscher
3.2.4 Analyse und Kritik
3.3 Andere wissenschaftliche Einflüsse
3.3.1 Soziobiologie
3.3.2 Der Kampf der Kulturen?
3.3.2.1 Analyse und Kritik
3.3.2.2 Parallelen zu den Neuen Rechten und zum Ethnopluralismus
4. Einfluss der Ethnologie? - Eine kritische Betrachtung
4.1 Lévi-Strauss und die Logik der Differenz
4.2 Zu den Begriffen Kultur und Identität: Kritik und Ausweg
5. Resümee: Wissenschaftlicher Einfluss und neorassistischer Diskurs bei den Neuen Rechten

V. CONCLUSIO

Quellenverzeichnis

Bibliographie

Online-Ressourcen

Vorwort

Die im Jahre 2008 ausgelöste Banken- und Finanzkrise, welche anfangs als geplatzte Immobilienblase verharmlost wurde und sich wenig später als weltweite Wirtschaftskrise entpuppte scheint wieder einigermaßen unter Kontrolle gebracht. Dennoch macht sich als Folgeerscheinung auf die Wirtschaftskrise immer noch eine erhöhte Unzufriedenheit mit dem marktwirtschaftlich-kapitalistischen System in der Gesellschaft breit. Auch wenn die größte Gefahr der Krise gebannt scheint, herrscht nach wie vor steigende Arbeitslosigkeit vor allem unter Jugendlichen. Argumentiert wird nicht nur, dass der „kleine Steuerzahler“ die Misere ausbaden darf. Hinzu kommen noch Missbehagen aufgrund des durch den Klimawandels verursachte Umweltkatastrophen, steigende Rohölpreise, Kernkraftwerkskatastrophen, erhöhte Arbeitsmigration, negative Auswirkungen der „Globalisierung“ und die Angst um den Arbeitsplatz. Diese allgemeine Unzufriedenheit in der Bevölkerung wird gerne von Politikern mit hetzerischen und Feindbild erzeugenden Mitteln zu ihren Gunsten ausgenutzt. All das dürfte sehr vertraut klingen, waren doch die weltweite Wirtschaftskrise 1929 und eine allgemeine Unzufriedenheit der Gesellschaft die Hauptursachen für das Erstarken des Nationalsozialismus und dessen Rassenideologie. Niemals wieder in der Geschichte dürfe sich diese tragische Entwicklung rassistischer Politik wiederholen lautet der allgegenwärtige Tenor. Doch wie weit sind wir selbst in demokratischen Verfassungsstaaten davon noch wirklich entfernt? Sozioökonomische Ursachen können leicht herunter gespielt werden und Sündenböcke sind schnell gefunden. Immer öfter wird dem „integrationsunwilligen“ Ausländer die Schuld zugeschoben. Rechte Parteien schwimmen seit den letzten Jahren auf einer in der Nachkriegszeit beispiellosen Erfolgswelle. Die Rede ist vom so genannten „Rechtsruck“, also eine zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz typischer rechts-konservativer Forderungen und damit einhergehende Zunahme der Wählerstimmen. Der Wahlerfolg der FPÖ bei der Wiener Landtags- und Gemeinderatswahl 2010 zur zweitstärksten Partei stellt das Phänomen des Rechtsrucks eindrucksvoll unter Beweis. Aber auch in den Niederlanden, England, Italien, Belgien, Norwegen und Ungarn befinden sich rechte Parteien auf dem Vormarsch. Gepunktet wird unter anderem mit reduktionistischen Fokussierungen auf kulturelle Merkmale wie Religion, welche in Abwesenheit reflexiver Differenzierungen keine Unterscheidung in einerseits religiös motivierte Alltagspraxen und andererseits religiös-fundamentalistische Absichten vornimmt.

In diesem Buch wird es darum gehen die hinter dem Rassismus liegenden Strukturen aufzuzeigen und offen zulegen wer an den Hebeln der Macht sitzt und woher die auf Kultur bezogene Ideologie stammt. Denn auch im vorpolitischen Raum geben sich rechte Intellektuelle und Wissenschaftler ein Stelldichein, mit dem Ziel einer politischen Einflussnahme weit über den rechten Rand hinaus. Dieses Buch soll einen Beitrag leisten, hinter die Kulissen politischer und wissenschaftlicher Machenschaften zu blicken und verdeutlichen, welche Bedeutung der „Rasse“ oder der „Kultur“ in rechten und neurechten Kreisen tatsächlich zukommt. Um dies zu erreichen muss man über den eigenen Tellerrand der klassischen, soziologischen Forschungstradition schauen und einen interdisziplinären Ansatz anstreben. Aus diesem Grund sollen im vorliegenden Buch auch politikwissenschaftliche, psychologische und biologische Ansätze mit einbezogen werden, um das Phänomen des Rassismus in seiner Komplexität und Diversität umfangreich fassen zu können.

An dieser Stelle möchte ich noch darauf hinweisen, dass ich bewusst auf eine gendergerechte Schreibweise verzichte. Nicht weil dadurch ein erleichterter Lesefluss erreicht würde, sondern vielmehr weil Institutionen und Personen des zu behandelnden Themas nach wie vor von männlicher Dominanz geprägt sind.

Noch eine Bemerkung zum Rassebegriff: Da das Wort „Rasse“ in diesem Buch häufige Verwendung finden wird, soll im theoretischen Teil eine Hervorhebung des Wortes durch Anführungszeichen seinen historisch belasteten und wissenschaftlich nicht haltbaren Charakter unterstreichen. Nachdem zum allein stehenden Rassebegriff klar Stellung bezogen wurde, kann seine Verwendung in den darauf folgenden Teilen in den meisten Fällen ohne Anführungszeichen erfolgen.

Schließlich möchte ich mich noch bei all jenen Personen bedanken, die mich bei der Realisierung dieses Buches inspiriert und unterstützt haben. Meine tiefste Dankbarkeit richtet sich dabei an Hermann Mückler, der mir immer mit Rat und Tat zur Seite stand.

Einleitung

Eine zunehmende Fokussierung auf die ethnische und kulturelle Zugehörigkeit lässt sich in der rechten Politik- und Medienlandschaft längst nicht mehr von der Hand weisen. So wird „Kultur“ vor allem nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1989 als neues, ordnungsstiftendes Element der Gesellschaft eingeführt. Die Rede von ethnischen Spannungen und Konflikten erscheint in diesem Zusammenhang aktueller denn je. Auf nationaler Ebene explodieren geradezu - nicht zuletzt auch wegen Thilo Sarrazins umstrittenen Buches Deutschland schafft sich ab (2010) - die Debatten über Einwanderungspolitik, Asylpolitik, den so genannten „Zuwanderungsstopp“, Multikulturalismus, interkulturelle Erziehung, etc. Die Formierung dieser Debatten entsteht meist im politischen Feld und wird dahingehend auch über politische Entscheidungsträger geregelt. Diese verfügen letztlich über Mittel und Ressourcen, einen meinungsbildenden Diskurs via Medien in die Öffentlichkeit zu transportieren, um eine kulturalistische Diskussion gesellschaftlicher Strukturen zu generieren. Gesellschaftliche Konflikte erscheinen plötzlich im Lichte kultureller Determinanten und präsentieren sich als kulturell motivierte Konflikte. Auf internationaler Ebene wird die Hochblüte der in den Medien als ethnisch oder kulturell dargestellten Konflikte seit Mitte der 90er Jahre mit dem Zerfall der UDSSR, dem Völkermord in Ruanda und der schrittweisen Auflösung Jugoslawiens immer noch aufrechterhalten. Minderheitenkonflikte, Separationsbestrebungen und Sezessionsbewegungen sind die Folge, durchziehen die Medienlandschaft und werden von Politikern dankend zur politischen Instrumentalisierung einer kulturalistischen Ideologie verwertet. Ursachen und Lösungsansätze kultureller Probleme liegen dann nicht nur von Politikern, sondern auch von Wissenschaftlern verschiedenster Richtungen nur allzu schnell parat.

Auch wenn die Reibungspunkte vermeintlicher Konflikte zwischen Gruppen verschiedenste Ursachen haben können, so lässt sich doch immer wieder dasselbe Prinzip beobachten: als Dreh- und Angelpunkt sämtlicher Debatten, wo die „einheimische“ auf die „ausländische Bevölkerung“ trifft, wird der Begriff der Kultur und eine damit einhergehende Konzentration auf kulturelle Unterschiede vorangestellt.

In der Kultur- und Sozialanthropologie (ehemals Ethnologie) ist die „Kultur“ einer der Hauptuntersuchungsgegenstände. Was darunter aber in Forscherkreisen verstanden werden soll, darüber herrscht nicht nur aufgrund unzähliger Definitionsversuche von Kultur keineswegs Einigkeit. Das Verständnis von Kultur dürfte auch für ein in der jeweiligen Gesellschaft verhaftetes Individuum undurchsichtigen, allenfalls subjektiven Charakter besitzen. Denn Kultur hat für jeden Menschen eine andere Bedeutung. Wenn oft die Rede von typischen Phrasen wie „die haben einfach eine andere Mentalität“, oder „die sind einfach anders“ ist, werden konkrete Präzisierungen und Begründungen dieser Aussagen ausbleiben. Meist verstecken sich hinter klischeehaften und vorurteilsbehafteten Vorstellungen über die „Anderen“ primordialistische und kulturessentialistische Ansichten kultureller Differenzen. Diese Annahme führt uns zu der Frage, wie sich Bilder der Selbst- und Fremdwahrnehmung in das öffentliche Bewusstsein einer Gesellschaft einspeisen. Festgehalten werden kann, dass die gesetzte Agenda oft über das politische Feld initiiert wird.

Längst nicht mehr allerdings obliegt nur rechtspopulistischen Agitatoren die Aufgabe, die „Anderen“ in ihrer Unterschiedlichkeit zu „Uns“ zu konstruieren und ihnen deshalb eine andere Behandlung auf zu bürden. Politiker werden nämlich auch durch wissenschaftliche Ansätze in ihrer rechtskonservativen bzw. rechtsextremen Einstellung beeinflusst und eignen sich anhand wissenschaftlich brauchbarer Erkenntnisse eine Rechtfertigung für ihr Gesellschaftsbild an.

Die Art und Weise wie dabei der Begriff Kultur eingesetzt wird und welcher Positionierung der kulturelle Faktor im ideologischen Menschenbild rechts orientierter Politiker unterliegt, erinnert dabei teilweise, wenn auch nicht so wirkungsstark, an biologistisch angelehnte Menschheitsbilder rassistischer Diktaturen. Die Strukturen der Ursachenfindung von kulturellen Problemen und die ideologische Rechtfertigung von Lösungsansätzen können dabei Gemeinsamkeiten zu jenen Systemen aufweisen.

Dieser Erkenntnis Rechnung tragend verhalf mir per Zufall ein Internetartikel von Angelika Magiros, moderne und postmoderne Konzepte in der Rassismustheorie, für die Erstellung dieses Buches, respektive Forschungshypothese heranzuziehen. Mit der These, dass der Begriff Rasse in den Hintergrund treten musste um dem Begriff der Kultur Platz zu machen, gewinnt das Primat der unaufhebbaren Differenzen der Kulturen immer mehr an Bedeutung. Insbesondere bei der Bewegung der Neuen Rechten lässt sich dieser ideologische Wandel vom Rassebegriff hin zum Kulturbegriff in Form des kulturellen Rassismus festmachen. Die Logik des so genannten Ethnopluralismus erweist sich hierbei als das zentrale Ideologiefragment.

Die Rolle der Wissenschaftler erscheint dabei von besonderer Relevanz, sind die in diesem Buch zu untersuchenden Wissenschaftler doch auf den ersten Blick nicht zwingend einem rassistischen Gedankengut verfallen, sondern zeichnen sich vielmehr durch eine politisch korrekte und renommierte Expertise ihres jeweiligen Faches aus. Mein Interesse gilt also auch jenen vermeintlich wertfreien Wissenschaftlern, die eben jener Transformation vom Rasse- zum Kulturbegriff Vorschub leisteten und durchaus willentlich auf politische Gesellschaftskonzepte im Sinne eines ethnischen Pluralismus Einfluss üben wollen.

Forschungsstand

Über den Forschungsgegenstand Rassismus wurden in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Werke publiziert, deren analytische Herangehensweise unterschiedlichste Formen annimmt. Wichtige Theoretiker, die einen allgemeinen Zugang zum Thema Rassismus unternommen haben, sollen in diesem Buch Anwendung finden.

Einen grundlegenden Einstieg in die Thematik der Rassismusforschung bieten Immanuel Geiss mit Geschichte des Rassismus (1988) und Robert Miles (1991), wo detailreich einem historischen Überblick des Rassebegriffes und der theoretischen Verortung von Rassismus nach gegangen wird. Die im aktuellen Rassismusdiskurs immer noch anerkannteste Definition von Rassismus (biologisch) wurde durch Albert Memmis Buch Rassismus (1982) in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt. Aktuellen Ansätzen der Rassismusforschung, welche Rassismus als sozial konstruiertes Phänomen behandeln, kommt Wulf Hund in seinem Werk Rassismus (2007) nach. Konkrete Analysen, die sich mit differentiellen oder kulturellen Formen von Rassismus (Neorassismus) beschäftigen stammen von Pierre-André Taguieff (1988), Mark Terkessidis (1995) oder auch Etienne Balibar (1990). Aus dem Gebiet der Cultural Studies stellen Stuart Halls (1989, 1994) Forschungen zu Neorassismus und kultureller Identität eine wichtige Grundlage zur Untersuchung differentialistischer Formen von Rassismus dar. Einer diskursanalytischen Erforschung des differentiellen Rassismus werden unter anderem Teun Adrianus van Dijk (1993) und Siegfried Jäger (1999) gerecht.

Über das komplexe Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Ethnologie findet sich bis heute nicht ausreichend Literatur, weshalb an dieser Stelle zu dringendem Nachholbedarf appelliert werden soll. Nur wenige haben es bisher gewagt sich mit der umstrittenen Rolle der Ethnologie im NS-Regime auseinander zu setzen. Zu nennen wären hier Bernhard Streck mit Ethnologie und Nationalsozialismus (2000), Peter Linimyr mit Wiener Völkerkunde im Nationalsozialismus (1994), Hans Fischer mit Völkerkunde im Nationalsozialismus (1990), Thomas Hauschild mit Lebenslust und Fremdenfurcht (1995), Karl Pusman mit Die "Wissenschaften vom Menschen" auf Wiener Boden (1870 - 1959) (2008), André Gingrich mit German Anthropology during the Nazi Period (2005) und Walter Dostal mit Silence in the darkness (1994).

Relevante Texte zur Bewegung der Neuen Rechte bzw. zum intellektuellen Rechtsextremismus sind hingegen zahlreicher vorhanden. Mit Struktur, Organisation, Geschichte und Ideologie neurechter Gruppierungen befassen sich insbesondere Armin Pfahl-Traughber mit „Konservative Revolution“ und „Neue Rechte“ (1998), Wolfgang Gessenharter und Thomas Pfeiffer mit Neue Rechte – eine Gefahr für die Demokratie? (2004), Margret Feit mit Die Neue Rechte in der Bundesrepublik (1987) als auch Uwe Backes und Eckhard Jesse mit Politischer Extremismus in der Bundesrepublik (1989). Die Thematik des Ethnopluralismus, welcher das ideologische Kernelement neurechten Denkens darstellt, wurde bisher keiner zufrieden stellenden Untersuchung unterzogen. Dennoch liefern einige Autoren wie Gero Fischer mit Ethnopluralismus, Multikulturalismus und interkulturelle Erziehung (1998), Thomas Meyer mit Identitätswahn (1997) oder auch Armin Pfahl-Traughber (1998) eine solide Basis für weiterführende Forschungsarbeiten.

Die Literaturlage bezüglich des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Neuer Rechten Bewegung muss als unzureichend eingestuft werden. Lediglich Mark Terkessidis, Gero Fischer und Armin Pfahl-Traughber haben die gegenseitige Beeinflussung von Wissenschaft und Neuer Rechten zumindest grob skizziert. Sinn und Zweck des vorliegenden Buches wird es unter anderem sein, diese Forschungslücke zu füllen und ein adäquates Bild der eben angesprochenen Verstrickung nachzuzeichnen.

Forschungsfrage und Hypothese

Ausgangspunkt dieses Buches soll der folgenden Kernfrage gerecht werden, um im weiteren Verlauf einem forschungsgeleitetem Erkenntnisinteresse nachzukommen: Es lässt sich ein Transformationsprozess des Rassebegriffes hin zum Kulturbegriff beschreiben. Wie aber äußert sich diese Wandlung unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Politik? Daraus abgeleitet ergeben sich weitere Fragestellungen, welche im Verlauf dieses Buches schrittweise abgehandelt werden sollen: Worin bestehen die konkreten Elemente der Analogisierung und Synonymisierung eines postmodernen Kulturbegriffes neorassistischer Ausprägung mit dem biologistischen Rassebegriff? Und welche Rolle spielen wissenschaftliche Disziplinen in der verschleierten Perpetuierung eines biologisch-rassistischen und kulturell-rassistischen Diskurses? Wie hoch ist dabei der Wirkungsgrad des biologischen als auch differentiellen Rassismusdiskurses auf politischer Ebene einzuschätzen?

Zur Beantwortung dieser Fragen lässt sich folgende Hypothese konkretisieren: Der rassistische Diskurs in der Politik hat sich von biologischen Begründungen (Wertungen aufgrund des Phänotypus) hin zur kulturellen Argumentation (Ausgrenzung/Abgrenzung aufgrund kultureller Differenz) verschoben, ohne sich dabei von seinem biologischen Bedeutungsgehalt abzuwenden!

Hinter einer vordergründig erscheinenden kulturalistischen Ideologie verstecken sich also nach wie vor rassistische Denkstrukturen. Wurde noch bis zum Ende des Nationalsozialismus mit Rasse argumentiert, so argumentiert man heute mit Kultur, und zwar mit analogen Absichten der ideologischen Verbreitung und gesellschaftlicher Einflussnahme.

Um ihre Ideologien zu rechtfertigen stützt sich die Politik dabei auf die Macht der Wissenschaft, wobei zum Teil auch eine bewusste Einflussnahme der Wissenschaften auf die politische Ebene zu verzeichnen ist. Eine Analyse der Wechselbeziehung zwischen Wissenschaft und Politik soll somit aufzeigen, dass auch Wissenschaft niemals als ideologiefreies Terrain angesehen werden kann. Wissenschaftsmissbrauch seitens der Politik und bewusste Einflussnahme seitens der Wissenschaftler auf die politische Praxis stellen dabei zwei wesentliche Untersuchungskriterien zur Beantwortung der Forschungsfrage dar. Wissenschaftliche Forschung ist darüber hinaus auch immer bis zu einem gewissen Grad ein interessengeleitetes Unterfangen und kann nicht losgelöst von Politik und Gesellschaft untersucht werden.

I. Methoden und Struktur des Buches

Ziel des vorliegenden Buches soll es sein, die aufgestellte Hypothese einem erkenntnistheoretischen Verfahren zu unterziehen. Dieses Unterfangen zu bewältigen erscheint am ehesten möglich mittels der methodischen Konzeption der Diskursanalyse, da sie stets auch den Machtfaktor mit einbezieht. Denn gerade die Untersuchung des Rassismusdiskurses wird ohne eine Berücksichtigung Macht ausübender Elemente in jedem Fall unvollständig ausfallen.

Da die methodische Vorgehensweise eine gewisse Deckungsgleichheit mit der thematischen Strukturierung aufweist, darf in die Folgende Darlegung der Methode ein grober Aufbau des Buches in dieses Kapitel integriert werden.

1. Kritische Diskursanalyse und Struktur

Über die Beziehung zwischen Diskurs und Macht schreibt Siegfried Jäger: „Diskurse üben Macht aus, sie sind selbst ein Machtfaktor und tragen zur Strukturierung von Machverhältnissen in einer Gesellschaft bei.“[1] Mittels der Diskursanalyse, im speziellen der Kritischen Diskursanalyse (im Folgenden KDA) soll aufgezeigt werden, wie Aus-/Abgrenzungsmechanismen funktionieren, um somit dem Faktor der Machtausübung auf den Grund zu kommen. Dabei gewinnen insbesondere Fragen nach den Hintergründen und Motiven der Beteiligten aber auch Analysen von Machtstrukturen und Institutionen an Bedeutung. Ein Diskurs darf niemals als eine fein säuberlich isolierte Palette an Gesagtem verstanden werden, sondern vielmehr als eine gesamtgesellschaftlich relevante Verstrickung von Ereignissen. So betrifft beispielsweise eine politische Agitation über Ausländerfeindlichkeit, im weitesten Sinne also ein Diskurs über Ausgrenzung, an dem Unterdrücker und Unterdrückte beteiligt sind, niemals diese zwei Parteien allein. Ebenfalls müssen im Sinne einer umfangreichen diskursiven Analyse über den besagten Tatverhalt auch der sozioökonomische und politisch motivierte Kontext in Betracht gezogen werden. Aber auch die mediale Ebene spielt in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle. Darauf aufbauend kann erst eine ernstzunehmende und fruchtbare Analyse ansetzen, um Strukturen der Macht in überschaubare Einzelteile zu zerlegen, hinterfragen und in weiterer Folge zu dekonstruieren. Insbesondere die Praxis der Dekonstruktion, die im Sinne von Jacques Derrida nicht als wissenschaftliche Methode zu verstehen ist, ermöglicht in Kombination mit der KDA Nichtgesagtes bzw. bewusst Nichterwähntes mit einzubeziehen. Doch bevor nun die KDA im Detail vorgestellt wird, soll eine kurze Einführung des Diskursbegriffes dazu dienen, ein grundlegendes und notwendiges Verständnis zu vermitteln, was Diskurs überhaupt bedeutet.

Die in diesem Buch verwendete Begrifflichkeit eines sozialwissenschaftlichen Diskurses orientiert sich am Diskursbegriff von Michel Foucault, welcher sich klar vom sprachwissenschaftlichen diskursanalytischen Ansatz unterscheidet, da dieser sich im Allgemeinen ausschließlich mit Texten befasst. Allerdings stößt man bei Foucault keineswegs auf eine eindeutige Definition von Diskurs. Außerdem sind seine Auffassungen und Ansichten von Diskurs ständiger Modifikationen und Veränderungen unterworfen. In jedem Fall darf der Begriff Diskurs nicht nur mit geschriebenem Text oder einer Diskussion in Verbindung gebracht werden. Diskurs besagt vielmehr als das. In Archäologie des Wissens beschreibt Foucault den Diskurs als die „[…] Gesamtheit aller möglichen und wirklichen Aussagen.“[2] Dabei bestimmen die Regeln des Diskurses was gesagt werden darf, und was nicht gesagt werden darf und manifestieren sich in einer diskursiven Praxis als eine sprachliche als auch nicht sprachliche Darstellungsweise. Vereinfacht gesagt schaut der Diskurs auch hinter die Kulissen und interessiert sich nicht nur für eine ganzheitliche Untersuchung von Texten im Sinne einer hermeneutischen Herangehensweise, sondern versucht Diskursformationen anhand ihrer Strukturen und Praktiken auf zu zeigen. Da sich gewisse Aussagen nicht immer auf einer deskriptiven und unreflektierten Ebene darstellen können, sondern immer in einem gesamtgesellschaftlichen Kontext ausgelegt werden müssen, sind sie immer auch gekennzeichnet von einer engen Verflechtung zwischen Diskurs, Macht, Wissen, Wahrheit und Disziplin. Der Zusammenhang zwischen Diskurs und Macht stellt in der Foucault’schen Diskursanalyse einen zentralen Bereich dar. Denn Diskurse konstituieren Macht und vice versa. Sie bedingen sich gegenseitig insofern, als dass Macht- und Wissenselemente die jeweiligen Aussagen in einer bestimmten zeitlichen Epoche strukturieren und legitimieren. Zusammenhängend mit Machtverhältnissen definiert Foucault gewisse Diskursregeln, welche durch Kontroll- und Disziplinierungspraktiken gesetzt werden:

„Ich setzte voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.“[3]

Was also gesagt wird und was nicht unterliegt keiner Arbitrarität, sondern zeichnet sich durch eine Ordnung des Diskurses aus. An Hand der konkreten Methode der KDA nach Jäger soll noch einmal ein präziserer Überblick zur methodischen Vorgehensweise des Aufbaus dieses Buches getätigt werden.

Jäger geht davon aus, dass zunächst eine Unterscheidung zwischen Spezialdiskurs und Interdiskurs unternommen werden muss, wobei der Spezialdiskurs einen in den Wissenschaften verankerter Diskurs darstellt und der Interdiskurs sämtliche nicht-wissenschaftliche Diskurse umfasst.[4] In diesem Buch werde ich mich ausschließlich auf den Spezialdiskurs der Wissenschaften beziehen, der jedoch immer wieder auf den Interdiskurs Einfluss ausüben wird. Für die erste Analyse von Texten oder Aussagen dienen so genannte Diskursfragmente als Grundlage. Diskursfragmente bezeichnen demnach „[…] einen Text oder Textteil, der ein bestimmtes Thema behandelt, z.B. das Thema Ausländer/Ausländerangelegenheiten (im weitesten Sinne).“[5] Mehrere Diskursfragmente konstituieren sich zu einem so genannten Diskursstrang: „ Diskursstränge sind also Abfolgen von Mengen thematisch einheitlicher Diskursfragmente.“[6] Der in diesem Buch zu untersuchende Diskursstrang stellt somit den Diskurs des Rassismus (rassistische Diskurs) dar. Den Grundzügen des rassistischen Diskurses soll in Teil II nachgegangen werden, wobei eine theoretische Einführung in den Rassebegriff, den Formen von Rassismus und dem damit zusammenhängenden Ideologiebegriff unternommen wird. Der rassistische Diskurs wiederum unterliegt ständigen Veränderungen, bleibt also nicht starr in seinen Strukturen, sondern wird immer wieder durch so genannte diskursive Ereignisse neu geprägt. Diesbezüglich konkretisiert Jäger:

„Als diskursive Ereignisse sind jedoch nur solche Ereignisse zu fassen, die (vor allem medial und politisch) besonders herausgestellt werden und als solche Ereignisse die Richtung und die Qualität des Diskursstranges, zu dem sie gehören, grundlegend beeinflussen.“[7]

Als Beispiele die auf den Diskursstrang des Rassismus verweisen wären unter anderem die Wannseekonferenz im NS-Regime, oder das Heidelberger Manifest Anfang der 80er Jahre (siehe Teil IV, Kapitel 2), im weiteren Sinne aber auch kulturell-religiös aufgeladene Ereignisse wie „9/11“ oder der „Karikaturenstreit“ zu nennen. Einzelne Diskursstränge manifestieren sich des Weiteren auf verschiedenen Diskursebenen wie Wissenschaft, Politik, Medien, Erziehung, Alltag, Geschäftsleben, Verwaltung, usw.: „Dabei ist zu beobachten, dass diese Diskursebenen aufeinander einwirken, sich aufeinander beziehen, einander nutzen etc.“[8] Dieses Buch beschäftigt sich also mit der Frage, wie sich einzelne Wissenschaftsdisziplinen und „neurechte“ Politik innerhalb des rassistischen Diskurses aufeinander beziehen bzw. wie Diskursebenen vernetzt sind. Denn, so schreibt Jäger:

„Diskursanalyse verfolgt das Ziel, dieses Netz zu entwirren, wobei in der Regel so verfahren wird, dass zunächst einzelne Diskursstränge auf einzelnen diskursiven Ebenen herausgearbeitet werden.“[9]

Gemäß dieser Vorgehensweise kristallisieren sich zwei grundlegende Diskursverschränkungen heraus. Zum einen lässt sich, bezogen auf die Zeit des Dritten Reiches der nationalsozialistische Rassismusdiskurs (politische Ebene), zum anderen der ethnologisch-wissenschaftliche Rassismusdiskurs (wissenschaftliche Ebene) festmachen. Dem folge leistend wird in Teil III die Wissenschaft der Ethnologie untersucht, als eine Wissenschaft unter vielen, und die Ideologie des Nationalsozialismus einer Verschränkung. Beide Ebenen werden also in synchroner Manie dem Diskursstrang des Rassismus unterzogen und in Verbindung gebracht. Ein wesentliches analytisches Konzept dieses Buches stellt die diachronische Analyse dar, also der Vergleich zweier zeitlich unterschiedlicher Verstrickungen. Der Analysezeitraum des Nationalsozialismus soll den Entwicklungen des Rassismusdiskurses seit den späten 60er Jahren bis in die Gegenwart gegenübergestellt werden. Bei der Gegenwartsanalyse interessiere ich mich für die Verstrickung des rassistischen Diskurses der Bewegung der Neuen Rechten auf politischer Ebene einerseits und für den rassistischen Diskurs der sozialwissenschaftlichen Forschung auf wissenschaftlicher Ebene andererseits. Diese diskursive Verschränkung soll in Teil IV eruiert werden. Ziel der historisch-diachronen Diskursanalyse soll eine Verdeutlichung von Diskursstrangtransformationen sein, denn Diskursstränge verändern sich im Laufe der Zeit, können dabei Diskontinuitäten, aber eben auch Kontinuitäten aufweisen: Trotz der genannten Diskontinuitäten, Verwerfungen und Vielgestaltigkeiten, knüpfen aktuelle Diskurse an die historischen an – mit der Perspektive, sich in entsprechend verworrener und verzerrter Gestalt fortzuwälzen und auch für die Zukunft Gewicht zu haben. Fragen wir uns nach den ‚Ursachen‘ der (aktuellen) Diskurse, müssen wir ihre vergangenen Formen, ihre Genealogie zu analysieren versuchen, deren Fortsetzung sie darstellen.[10] Es geht also darum, vermeintliche Veränderungen und deren Ursachen im aktuellen als auch historischen Diskurs aufzuzeigen, der innerhalb einer einzugrenzenden Komplexität des Diskursstranges und eines historisch überschaubaren Analysezeitraumes untersucht wird. Nur so kann letztlich in Teil V ersichtlich werden, was sich tatsächlich verändert hat und was nicht. Vor allem weil der rassistische Diskurs von diskursiven Veränderungen in besonderer Weise betroffen zu sein scheint, stellt gerade das Instrumentarium der KDA ein mehr als geeignetes Mittel dar, um der Transformation von Rassismus auf den Grund zu gehen.

2. Literaturvergleich

Die zu untersuchende Literatur umfasst eine weite Bandbreite an Untersuchungsgegenständen. Zunächst einmal dienen grundlegende Werke wie etwaige Hauptwerke der einzelnen politischen Vertreter einer Analyse, sowie konkrete Werke aus dem Bereich der Wissenschaft. Durch die Methode des Vergleichs wird die Primärliteratur gegenübergestellt und veranschaulicht, wie sich Text und soziale Praxis einander bedingen. Dabei wird vereinzelt auch Bezug auf ausgewählte Sekundärliteratur genommen. Des Weiteren werden für den Literaturvergleich der Diskursebenen Zeitschriftenartikel herangezogen, denn gerade die Bewegung der Neuen Rechten weist ein fein gespanntes Netz an Publikationsorganen (vor allem das Internet) auf, verstehen sie sich doch als metapolitisch agierende Bewegung. Relevant erscheint auch noch die Primärquellenanalyse, also die Analyse einzelner Schriftstücke, wie beispielsweise das Heidelberger Manifest oder das 25 Punkte Programm der NSDAP. Haben doch besagte Schriftstücke einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die gesellschaftliche Wirkungsebene.

II. Begriffe, Definitionen, Theorien

1. Begriffsgeschichte von „Rasse“

Das Aufzeigen von Herkunft und Geschichte des Rassebegriffes soll veranschaulichen, welche ursprüngliche Bedeutung dem Wort „Rasse“ zuteil kam, welchen definitorischen Gehalt dem Begriff abzugewinnen ist und welchem Wandlungsprozess das Wort „Rasse“ unterliegt.

1.1 Etymologie des Rassebegriffs

Aus linguistisch-wissenschaftlichen Kreisen abgesichert gilt die Annahme, dass die Entstehung des Begriffes „Rasse“ in den romanischen Sprachen auf das 13. Jh. zurückreicht: „raza“ (span.), „raça“ (port.), „razza“ (ital.), „raçe“ (frz.). Das englische Wort „race“ wurde aus dem französischen übernommen, das deutsche Wort „Rasse“ wiederum aus dem englischen Wort „race“ und im 19. Jh. zu „Rasse“ eingedeutscht.[11] Umstritten ist allerdings eine vor die romanischen Anfänge zurückreichende Herkunft des Wortes „Rasse“ aus dem Arabischen „ras“, welches übersetzt Kopf, Haupt oder Oberhaupt eines Clans oder Stammes ausdrücken soll. Diese Bedeutung soll im übertragenen Sinne die genealogische Abstammung in Form einer identitätsstiftenden Evidenz repräsentieren.

Auch Miles und Banton verweisen darauf, dass die ursprünglichen Bedeutung von „Rasse“ auf Abstammung zurückzuführen sei, denn „Rasse“ symbolisierte noch in England Mitte des 17. Jh. „so viel wie Abstammung oder gemeinsame Herkunft und identifizierte eine Bevölkerung mit ihrem Ursprung und ihrer Geschichte, ohne ihr indes einen festgelegten biologischen Charakter zuzuschreiben.“[12]

Zu dieser Zeit wird der Rassebegriff also noch nicht mit biologischen oder gar ethnischen Kategorien konnotiert, sondern dient ausschließlich als genealogischer Identitätsnachweis für eine gesellschaftlich höher angesehene Schicht.

1.2 Definitionen von Rasse

In der historischen Analyse unterliegt der Rassebegriff und damit einhergehenden Rassekonzepte einem ständigen Wandel. Verändernde historische und gesellschaftliche Hintergründe erfordern somit eine andauernde Rekontextualisierung des jeweils vorgefundenen Rassekonzepts.[13] Dienten anfängliche Rassekonzepte lediglich unzähligen Versuchen die Menschheit in verschiedene Gruppen einzuteilen ohne diese mit Wertungen in Verbindung zu bringen, entwickelten sich bald darauf Bemühungen scheinbar phänotypische Unterschiede mit Charaktereigenschaften zu kombinieren, welche sich wiederum einer Wertung der einzelnen Menschengruppen dienlich erweisen sollten. Der essentielle Bedeutungsgehalt, der einem vielschichtigen Rassebegriff verschiedener Rassekonzepte zugrunde liegt, weist jedoch latente Konstanten auf, deren Erscheinung sich durch sämtliche Rassedefinitionen im Sinne einer anthropologischen Kategorisierung zieht. Selbst zeitgenössische rechtsextreme Strömungen halten noch an der ursprünglichen Definition einer anthropologischen Kategorisierung fest und stellen gleichzeitig Anspruch auf eine ontologische Objektivität, welche sich dadurch ohne weiteren Erklärungsbedarf a priori validiere. „Rasse“ beschreibt aber zunächst keinesfalls biologische Realitäten, sondern muss vielmehr als konzeptionelle Vorstellung angesehen werden:

„‘Rasse’ ist somit kein Konzept, aber unbestreitbar ist es eine Vorstellung, das heißt ein Bündel von Konnotationen, ein Cluster unbeständiger Bedeutungen, dessen Bedeutungskern allerdings konstant bleibt.“[14]

Da es sich also um eine gesellschaftliche Fiktion, um eine Vorstellung von „Rasse“ handelt, unterliegt diese Vorstellung auch unterschiedlichen Auffassungen und erschwert somit den Versuch eine generell gültige Definition von „Rasse“ zu generieren. Eine eher allgemein gehaltene Annäherung „Rasse“ im „Rasse-Diskurs“ auf wissenschaftlicher Ebene zu umschreiben unternahm Robert Miles. Für ihn wird unter „Rasse“ „der Andere als eine biologisch distinkte Einheit, als eine ‚Rasse‘ für sich dargestellt, deren Fähigkeiten und Errungenschaften durch natürliche und unveränderliche Bedingungen, die der kollektiven Gemeinschaft insgesamt zukamen.“[15]

Eine Biologisierung und Essentialisierung von Körper- und Charaktermerkmale scheint zentral für Miles’ Auffassung des Rassebegriffes zu sein, was letzten Endes Rückschlüsse auf den intentionalen Charakter der Rassenvorstellung geben soll. Denn die „Rasse“-Idee als ideologischer Prozess muss als Ergebnis einer Bedeutungskonstruktion gesehen werden, um einzelnen Bevölkerungsgruppen die Mitgliedschaft einer „Rasse“ zuzuweisen und anderen nicht. Die Rassenkonstruktion erfüllt also eine bestimmte Funktion:

„Von daher ist die Bedeutungskonstruktion phänotypischer Merkmale kein Selbstzweck, sondern dient bestimmten Absichten. Ihr praktischer Nutzen liegt also […] nicht einfach auf der Darstellungsebene, sondern ist auch ein Mittel, um Ausgrenzungspraktiken zu initiieren.“[16]

Eine deskriptivere und etwas differenziertere Ansicht der „Rasse“-Idee findet sich bei Guillaumin wieder, für den die Vorstellung von „Rasse“ als ein semiotischer Komplex, der Elemente heterogener Natur und Herkunft integriert, zu verstehen ist. Dieser Komplex lässt sich anhand von vier Kennzeichen aufgliedern[17]: erstens morpho-physiologisch, zweitens soziale, drittens symbolische und viertens imaginäre Kennzeichen. Diese vier Elemente können je nach Kontext unterschiedlich stark in der Konstruktion des „Rasse“-Konzepts hervortreten.

1.3 Historische Betrachtung der Entwicklung des Rassebegriffs

Der hier im Folgenden unternommene Abriss von Entstehung und Entwicklung des Rassebegriffs erhebt definitiv keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es soll lediglich das Ziel verfolgt werden, einen groben Überblick der komplexen Geschichte der Rassentheorien anhand markanter Zäsuren zu gewinnen.

Zielte die ursprüngliche Bedeutung von „Rasse“ darauf ab, die Abstammung eines Adelsgeschlechts hervorzuheben, finden sich spätestens seit der frühen Neuzeit erste Unternehmungen die gesamte Menschheit in Groß-Gruppen oder später auch „Rassen“ zu klassifizieren. Grund dafür war der überseeische europäische Expansionsdrang, welcher mit einer Fülle von niedergeschriebenen Beobachtungen in Form von Reiseliteratur mündete. Daraus resultierte die Notwendigkeit einer Klassifikation der Menschheit. Ausgangspunkt dieses Differenzierungsdranges stellte die biblische Auslegung der Verfluchung Hams durch dessen Vater Noah dar. Hams Nachkommen (Schwarze) hätten den Nachfahren seiner Brüder Japhet (Weiße) und Sem (Gelbe) zu dienen. Diese Unterteilung verdeutlicht auch die anfängliche noch biblisch ausgelegte Rechtfertigung der Sklaverei der „schwarzen“ Bevölkerungsgruppen. Georgius Hornius wandte sich in seinem 1666 verfassten Werk Arca Noae der Terminologie des Alten Testaments zu und verband diese erstmals mit Hautfarben. Der französische Arzt und Reisende Francoir Bernier nahm schließlich im 17. Jh. den aus dem Tierreich bereits bekannten Begriff „Rasse“ auf die Menschheit in Anspruch und schaffte mit seinem Werk Neue Einteilung der Erde nach verschiedenen Arten oder Rassen des Menschen, die die Erde bewohnen (1684) die naturwissenschaftliche Basis für die Einteilung der Menschen in „Rassen“. Die Klassifizierung, welche die Menschheit in 4-5 „Rassen“ einteilte, geschah jedoch noch ohne positive bzw. negative Wertung und Abstufung, legte aber immerhin den Grundstock für eine bis in die heutige Zeit reichende und ad absurdum geführte Geschichte der Terminologisierung und Klassifizierung von Rassentheorien. Der schwedische Arzt und Naturforscher Carl von Linné, dessen Klassifizierungssystem der Tier- und Pflanzenwelt seines Werkes Systema naturae (1735) heute noch Anwendung findet, teilte den Menschen als von Gott geschaffenes Wesen in 4 Gruppen ein: Europaeus albus (Weiße), Americanus rubesceus (Rote=Indianer), Asiaticus luridus (Gelbe) und Afer niger (Schwarze; Afrikaner). Im Gegensatz zu Bernier nahm Linné allerdings eine moralische Wertung vor, wobei Weiße an der Spitze und Schwarze an letzter Stelle der Kette der Lebewesen rangierten. Neu war im 18. Jh. und für die Etablierung eines wissenschaftlichen Rassismus wegweisend, die Verbindung kultureller und psychischer Eigenschaften, wobei offenkundig eine Wertung der jeweiligen Einteilung unternommen wurde und einer Hierarchisierung unterliegt. Diese Entwicklung nahm mit Linné seinen Anfang und wurde von dem Göttinger Anatom Johann Friedrich Blumenbach, der gemeinhin als „Vater der Anthropologie“ bezeichnet wird, konsequent ausgeweitet. Durch ihn wird der ältere Rassebegriff von einem neueren Rassebegriff abgelöst und stellt somit den Übergang zum modernen, respektive anthropologisch-wissenschaftlichen Rassismus dar.[18] Entgegen seinen Intentionen, nahm Blumenbach eine ursprünglich nicht rassistisch gedachte Hierarchisierung der Menschheit vor, welche durch eine wertende Abstufung der Menschheit nach ästhetischen Merkmalen gekennzeichnet war. Jene Hierarchisierung der Menschheit und Degradierung der nicht-weißen „Rassen“ war typisch für eine romantische Naturphilosophie und ihrer irrationalen Ästhetisierung und kann als Reaktion der überwiegend rationalen Aufklärung gesehen werden kann.[19] In diese Zeit fällt auch die Etablierung bei gleichzeitigem Missbrauch der Anthropometrie, deren unglückliche Aufgabe es von nun an sein sollte, durch Messungen menschlicher Körperteile Rückschlüsse auf eine wertende Einteilung der Menschheit zu erhalten. Ende des 18. Jh. entwickelte der holländische Anatom Peter Camper eine Methode der Schädelmessung (später auch als Phrenologie weiterentwickelt), wobei er anhand des Gesichtswinkels vom Kinn bis zur Stirn höher- bzw. niederstehende „Rassen“ zu bestimmen glaubte. Franz Joseph Gall, Begründer der Phrenologie, vermochte in weiterer Folge Charaktereigenschaften mit der Form des Schädels in Verbindung zu bringen. Der immer größer werdende Einfluss der Anthropologie als eine sich etablierende Wissenschaft, begünstigt durch ein Zurückdrängen der Schöpfungsgeschichte und konkrete historische Rahmenbedingungen[20] leiten einen neuen Abschnitt der Rassentheorien ein und eröffnen das Zeitalter des wissenschaftlich fundierten Rassismus:

„Der Systematisierung der neuen Ideen über ‚Rasse‘ diente die neue Wissenschaft der Anthropologie, die auf Jahrzehnte kaum viel mehr als wissenschaftlich verschleierter Rassismus war. In ihr flossen verschiedene Aspekte zusammen, wurden miteinander kombiniert und angereichert – Schädelmessung, Gesichtswinkelmessung, Aufteilung der Menschheit in ‚Rassen‘ nach einer Fülle von Kategorien. Von hier war bis zur systematischen Rassenkunde noch ein Schritt.“[21]

Bei der Geschichte des Rassenbegriffes zeigt sich also, dass eine anfänglich gewachsene „Anstrengung zur Legitimation sozialer Ungleichheit“[22] in eine Anthropologisierung des Rassebegriffs überging. Dieser Prozess der Einteilung der Menschen in höhere und niedrigere „Rassen“ erreicht schließlich mit dem Aufkommen der Evolutionstheorie nach Charles Darwin seinen Höhepunkt und leitet ein neues Zeitalter in der rassismustheoretischen Diskussion ein.

1.4 Exkurs: Rasse und race

Wie bereits ausführlich angedeutet, kann der auf Menschen angewandte Rassebegriff als eine biologische Realität keinerlei wissenschaftlicher Überzeugung nachkommen. Konkretere Gründe werden noch in Kapitel 2.4 dieses Teils unterbreitet. Soweit sei lediglich erwähnt, dass “Rasse” im deutschsprachigen Raum als biologische Kategorie nach dem Zweiten Weltkrieg unter Misskredit geriet. Unzählige grausame Verbrechen werden mit der Überstrapazierung des Begriffes in Verbindung gebracht, wodurch sich nicht nur aufgrund einer wissenschaftlichen Unhaltbarkeit der Aufrechterhaltung von „Rasse“ eine Eliminierung des Begriffs aus dem öffentlichen Raum ergibt. Lediglich in der Taxonomie der Tier- und Pflanzenwelt findet die Begrifflichkeit heute noch seine Anwendung. Aber selbst in der Biologie der Tiere und Pflanzen unterliegt dem Begriff eine gewisse Ungenauigkeit. Stellvertretend für den Rassebegriff finden die Begriffe „Unterart“ oder auch „Morphotypus“ eine geeignetere Verwendung. Der englische Begriff „race“ hingegen erscheint als eine harmlosere Variante des klassischen Rassebegriffes und wird vorwiegend noch im anglophonen Raum auf die Gesellschaft angewandt:

“Most other meaning of race – such as those referring to Africans and Afro-Americans – managed to appear more innocent and respectable and continued to prevail in political and academic discourses of the United States, Britain, Australia, and parts of colonial and neo-colonial Africa and Asia well into the 1980s.”[23]

Dennoch darf er aber in keiner Weise mit dem deutschen Rassebegriff, auf menschlicher als auch tierischer Ebene, verwechselt werden. „Race“ ist vielmehr als soziales Phänomen zu sehen, suggeriert also eine ontologische Subjektivität und spiegelt aber gleichzeitig eine soziale Wirklichkeit der Selbstzuschreibung wider. Der Verortung des Selbst in der Gesellschaft wird durch Entscheidungsfreiheit der Zugehörigkeit festgelegt, denn: “Race is a self-identification data item in which respondents choose the race or races with which they most closely identify.”[24] Der essentialistische Charakter des biologischen Rassebegriffs wird also durch die Option der Selbstbestimmung, die dem englischen „race“ inhärent zu sein scheint, aufgeweicht bzw. sogar abgestreift und der Zuschreibung ethnischer Merkmale vorgezogen. Diese Behauptung legt den Schluss nahe, den Begriff „race“ eher als eine soziopolitische Konstruktion zu verstehen, welche der Identifizierung von interethnischen Beziehungen dient und somit dem Begriff der Ethnizität nahe kommt.

2. Rassismen - Struktur und Geschichte

Die Schwierigkeit einer einheitlichen, allgemein akzeptierten Definition von Rassismus steht außer Zweifel. Eine zu verwendende Definition von Rassismus muss immer dem jeweiligen Kontext und dem jeweiligen Rahmen einer Arbeitsexpertise abhängig gemacht werden. Für welche Definition man sich letztendlich entscheidet hängt immer von subjektiven Faktoren ab. Es sollte vermieden werden die brauchbarsten Elemente massenweise vorhandener Definition zu einer Art „best of“ zusammenzutragen. Allerdings muss darauf geachtet werden, dass eine zu verwendende Definition immer über die Erklärung einer biologisch motivierten Definition von Rassismus hinausgeht und der Erkenntnis Rechnung trägt, dass Rassismus ein Phänomen darstellt, das sich nicht nur auf dem Glauben der Existenz von verschiedenen „Rassen“ erforschen lassen darf. Eine adäquate Explikation muss in jedem Fall über den Rassegedanken hinausgehen und „moderne“ Formen von Ein- und Ausgrenzung berücksichtigen, die nicht mehr durch vermeintlich rassische Verschiedenheiten bedingt sind. Der Beweis einer wissenschaftlichen Ungültigkeit der Verwendung des Begriffes „Rasse“ bedeutet nämlich noch lange nicht das Verschwinden von rassistischen Denk- und Handlungsformen aus unserem Leben. Da Rassismus nach wie vor ein real existierendes gesellschaftliches Phänomen ist, das nicht nur auf wissenschaftlicher Ebene transportiert und verbreitet wird, sondern auch in der alltäglichen Praxis zur Normalität gehört, muss sich eine zufrieden stellende, zeitgenössische Definition von Rassismus genau mit diesen modernen ideologischen und praktischen Formen von Rassismus auseinander setzen.

2.1 Definitionen

Besondere Aufmerksamkeit sei der inhaltlichen Verengung als auch Überdehnung einer umfassenden Definition geschenkt. Betrachten wir das Phänomen des Rassismus unter dem Aspekt einer eng gefassten Definition laufen wir Gefahr der conceptual inflation [25]. Somit erscheinen gewisse rassistische Denk- und Handlungsformen verharmlosend und Rassismus stellt nur mehr ein Problem der Weißen dar. Außerdem wird sämtlichen differentialistischen Rassismen per definitionem der rassistische Gehalt entzogen. Eine nachvollziehbare Betrachtungsweise der Definition, die Rassismus im engeren Sinne versteht reicht zurück auf die ursprüngliche Definition von Rassismus, verweist also auf einen historischen Ursprung, der in zwei Prozesse einzuteilen ist:

„Zunächst wird mit dem Aufkommen der Rassenidee die Menschheit in „Rassen“ eingeteilt, welche dann gefolgt von einer wissenschaftlich abgesicherten Pervertierung derselbigen im faschistischen Deutschland heftige Reaktionen vor allem Frankreichs hervorrufen.“[26]

Somit beschränkt sich die ursprüngliche Wortschöpfung von „Rassismus“ zunächst als Reaktion auf den nationalsozialistischen Antisemitismus bzw. auf antijüdische Tendenzen der nationalistischen Bewegungen in den 20er Jahren. Als eine Bezeichnung die für den Feind verwendet wird, übersetzten die Franzosen das nicht übersetzbare deutsche Wort „völkisch“ mit „raciste“[27]. Meist kommt es adjektivistisch zur Anwendung, wobei die Franzosen sich selbst als antirassistisch und die nationalsozialistische Weltanschauung als rassistisch deklarierten. Im Larousse du XXe siécle von 1932 findet sich dann erstmals ein Eintrag von „racisme“ und „raciste“ bestätigt. Als Kernelemente der Definition werden die „Rassenreinheit“ und die Überlegenheit der „Rasse“ angeführt. „Racisme“ ist demnach die „[…] Theorie, deren Zweck der Schutz der Reinheit der Rasse in einer Nation ist, und die sie als den anderen gegenüber als höherwertig feststellt.“[28] Eine erstmalige Erwähnung des Wortes „Rassismus“ in Deutschland geht auf das gleichnamig 1933-1934 verfasste Buch von Magnus Hirschfeld zurück und war ebenfalls gegen die Rassenpolitik der Nationalsozialisten gerichtet. Hirschfeld liefert allerdings keine Definition von Rassismus ab, vielmehr untersuchte er die Rassentheorie, dessen Ideen die europäische Biologie und Anthropologie des 19. Jh. beherrschten, um Menschen in biologische Gruppen klassifizieren zu können.[29] Die wissenschaftliche Behauptung einer Existenz von biologisch unterschiedlichen „Rassen“ schien ihm unhaltbar, das Festhalten an dieser Behauptung bedeutete für ihn „Rassismus“. Hirschfelds Prämisse, deren Definitionsmerkmale sozusagen als Urtypus einer neu aufgekommenen Wortschöpfung gelten, erwiesen sich in weiterer Folge als Vorlage vieler Rassismustheorien. Jene die Hirschfelds Ideen aufgriffen, verorten sich womöglich unfreiwillig in der am Rassengedanken festhaltenden Tradition einer aufgeklärten und antikriegerischen Generation. So umschreibt beispielsweise die Ethnologin Ruth Benedict die zur damaligen Zeit vorherrschende Meinung über Rassismus als „das Dogma, wonach eine ethnische Gruppe von Natur aus zu erblicher Minderwertigkeit verdammt ist, während einer anderen erbliche Überlegenheit bestimmt ward […].“[30]

Rassismus könne ihr zu Folge jedoch nicht auf wissenschaftlicher Ebene sondern vielmehr nur anhand einer ganzheitlichen historischen Analyse durchleuchtet werden. Daraus zieht sie den folgenschweren Schluss, dass das Phänomen des Rassismus vor dem Aufkommen der Anthropometrie und der darwinschen Evolutionstheorie erst gar nicht möglich gewesen sei. „Racism is a creation of our own time“[31] und erfülle dieselbe Funktion wie die einer Religion. So wie der religiöse Glaube etliche Todesopfer fordere, so verdeutliche auch der rassenpolitische Glaubenswahn der Nationalsozialisten, der letztendlich mit dem Holocaust einen wahrlich katastrophalen Höhepunkt erfuhr, fatale Auswüchse. Jedoch genau diese Vorstellungen über den Rassismus, die noch auf den Rassentheorien des 19. Jh. aufbauen und von einer biologischen Minderwertigkeit ausgingen, erschöpfen sich schnell in ihrem Gehalt. Zumal nach 1945 kein Rassismus in diesem Sinne existieren würde und somit vor der Entstehung des Rassebegriffs auch kein Rassismus feststellbar gewesen sei. Es lassen sich jedoch schon bis in die vorchristliche Zeit Fremdbilderzeugung und eine damit einhergehende Hierarchisierung zurückverfolgen, auch wenn diese Phänomene noch nicht per se auf einen biologischen Determinismus schließen lassen. Ruth Benedicts verengte Ansätze zu Rassismus verdeutlichen eindrucksvoll, mit welcher Problematik die Definitionsfindung von Rassismus konfrontiert wird. In der Geschichte des Rassismus kann nicht ein singuläres Ereignis als Kriterium für eine Definition herangezogen werden. Die Geschichte des Rassismus zeichnet sich durch historische Spezifitäten aus. Folglich plädiert Robert Miles sowie Stuart Hall dafür von Rassismen zu sprechen, bei denen allerdings die Schwierigkeit besteht, Gemeinsamkeiten heraus zu filtern. Grundsätzlich aber müsse man in einer historischen Analyse von Rassismus selbigen „[…] als einen Fall ideologischer Bedeutungsbildung [definieren, B.L.], in dem eine soziale Gruppe als eine diskrete und besondere, sich selbst reproduzierende Bevölkerung, konstruiert wird. Dies geschieht unter Bezugnahme auf bestimmte (reale oder vorgestellte) biologische Merkmale und durch eine Verknüpfung mit anderen, negativ bewerteten (biologischen und/oder kulturellen) Eigenschaften.“[32]

In dieser Formulierung wird bereits die Berücksichtigung des allzu lange außer Acht gelassenen Kulturfaktors suggeriert. Denn Rassismus müsse nicht ausschließlich auf Basis einer Rassenkonstruktion verstanden werden. Die Einbindung kultureller Elemente sei eine weitere mögliche Option Rassismus als ganzheitlich gesellschaftliches Phänomen zu untersuchen. Es findet hier allerdings lediglich die erweiterte Fassung einer an sich eng ausgelegten Definition von Rassismus statt, deren Stützpfeiler immer noch eine am Rassenrassismus ausgerichtete Grundannahme repräsentiert. Einer der drei von Miles postulierten Apparate des Rassismus, nämlich Rassifizierung (gefolgt von Ausgrenzungspraxis und differenzierende Macht) veranschaulichen diesen Umstand entsprechend, indem Rassifizierungen als Prozesse der Rassenkonstruktion den Mensch einer „Rasse“ oder einer „Kultur“ zuordnen.[33] Die Apparate können laut Miles nur auf ideologischer Ebene Fuß fassen, Rassismus äußert sich also lediglich in der Ideenwelt und Vorstellungen von Menschen über Menschen. Demgegenüber muss Rassismus aber als vielschichtiges Phänomen behandelt werden, dessen Ideologie auch Anwendung in der Praxis findet und somit auch ohne konkrete Absichten und Vorstellungen funktioniert. Dieser nebensächlich anmutende Gedankengang entfaltet sich zu voller Tragbreite, berücksichtigt man zu tage kommende rassistische Strukturen im alltäglichen Leben, auch „everyday racism“ (Alltagsrassimus) genannt, oder in diversen administrativ-bürokratisierten Institutionen. Die Form des institutionellen Rassismus und dessen einhergehende Latenz gehen in wissenschaftlichen Analysen meist unter und haben insofern umso mehr Aufmerksamkeit verdient. Institutioneller Rassismus liegt dann vor, „wenn ein Staat, z.B. mittels gesetzlicher Bestimmungen und/oder bürokratisch-administrativer Regelungen, (zugewanderten) Ausländern demokratische bzw. soziale Rechte vorenthält, also ihre persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten, Arbeits- und Lebensbedingungen mehr als nötig einschränkt, etwa indem man sie schikanösen Kontrollen unterwirft.“[34]

Die Praxis der ungleichen Behandlung von Individuen kommt hier gänzlich ohne ein Festhalten am Rassebegriff aus und demonstriert, dass Rassismusdefinitionen einem breit gefächerten Unterfangen nachkommen sollten, indem nicht nur eine ideologische sondern auch eine handelnde Ebene mit einbezogen wird. Dieser Forderung geht Bingfriede Scheu nach, deren grundlegende Auffassung von Rassismus auf Miles Vorstellungen aufbauen, jedoch auch die Handlungsebene inkludiert:

„Rassismus ist also eine Denk- und Handlungsform, die die Begründung dafür liefert die eigene Gruppe/die eigenen Lebensweisen und Traditionen als allein geltende und somit höherwertige darzustellen und ‚Andere‘ aufgrund ihrer andersartigen Lebensweisen und nichtkonformen Traditionen als minderwertig zu beurteilen. Die Ausformung der Ausgrenzungs- und damit Abqualifizierungskriterien sind somit vielfältig und beliebig.“[35]

Hier wird dezidiert die Erzeugung einer Höher- und Minderwertigkeit in Form von Ungleichheit und Ungleichwertigkeit festgestellt, welche unabhängig vom Glauben an eine „Rasse“ existiert, und genauso auf die Ebene der Ethnie oder der Kultur angewendet werden kann. Definitionen dieser Art führen uns bereits in den Bereich der etwas weiter gefassten Auslegungen von Rassismus und somit auch die in Richtung einer conceptual deflation [36]. Als konkretes Beispiel hierfür soll nun ein eher weit gefasster, allgemeiner Zugang von Johannes Zerger veranschaulicht werden. Auch bei Zerger wird eine Anlehnung an Miles ersichtlich, dessen Theorien er allerdings um den Praxisbegriff erweitert und allgemein von einer Konstruktion von Menschengruppen spricht, sich dadurch eben nicht vorwiegend auf eine biologisch gestützte Konstruktion beschränkt. Durch die Offenlegung biologischer, kultureller oder ethnischer Konstruktion erfährt der zu behandelnde Begriff des Rassismus eine postmoderne Dehnbarkeit, die sich wie folgt äußert:

„Rassismus umfasst Ideologien und Praxisformen auf der Basis der Konstruktion von Menschengruppen als Abstammungs- oder Herkunftsgemeinschaften, denen kollektive Merkmale zugeschrieben werden, die implizit oder explizit bewertet und als nicht oder nur schwer veränderbar interpretiert werden.“[37]

Eine ähnlich progressive und lange Zeit gebräuchlichste Definition stammt aus der Feder von Albert Memmi. Sie fand bereits 1964 Eingang in die ecyclopaedia universalis und wird noch bis zum heutigen Tag in wissenschaftlichen Kreisen als Standarddefinition heran gezogen. Klassische Begriffe wie Differenzierung, Wertung, Verallgemeinerung aber auch Funktion kennzeichnen Memmis Erläuterungen:

„Der Rassismus ist die verallgemeinerte und verabsolutierte Wertung tatsächlicher oder fiktiver biologischer Unterschiede zum Nutzen des Anklägers und zum Schaden seines Opfers, mit der seine Privilegien oder seine Aggressionen gerechtfertigt werden sollen.“[38]

Die Basis seiner Analyse konzentriert sich also auf tatsächliche oder imaginierte biologische Unterschiede. Biologistische Rassismen stellen in diesem Sinne lediglich eine mögliche Variante eines grundsätzlich weit ausgelegten Ansatzes dar. Allerdings vermisst man bei Memmis Formulierungen ausdrückliche Anhaltspunkte kulturalistisch-rassistische Varianten als Ausgangspunkt rassismustheoretischer Diskurse in Betracht zu ziehen. Unter dem Aspekt der Ausweitung und Dehnbarkeit von Definitionen erweist sich sogar Memmis Erklärungsansatz als unzureichend.

Der letzte Theoretiker der hier in diesem Rahmen vorgestellt werden soll, Wulf Hund, scheint dieses Manko zu kompensieren, indem er zunächst einmal die Vorstellung zurückweist, Rassismus sei an die Existenz von „Rassen“ gebunden. Das Verständnis von „Rasse“ als soziale Konstruktion ermöglicht einen offenen Zugang und verdeutlicht im Übrigen, dass rassistische Phänomene älter als der Rassebegriff sein müssen. Hund versteift sich nicht auf eine allgemeingültige Definition mit bestimmten Kerninhalten, sondern viel mehr führt er Formen und Methoden von Rassismus in die analytische Diskussion ein. Im Verlauf der Geschichte des Rassismus haben sich flexible und kombinierbare Formen von Rassismus aufgetan, welche zur Entwicklung unterschiedlicher Stereotype und Entmenschlichung führten: Kultivierte/Barbaren, Reine/Unreine, Erwählte/Teufel, Zivilisierte/Wilde, Weiße/Farbige, Vollwertige/Minderwertige.[39] Innerhalb dieser Formen lassen sich verschiedene Methoden des Rassismus in Gestalt rassistischer Vergesellschaftung ausmachen. Diese rassistische Vergesellschaftung „[…] baut auf einem elementaren Prozess der Entmenschlichung auf, der sich als Desozialisation und Entfremdung äußert. Er wird durch die beiden unterschiedlich ideologischen Strategien der Differenzierung und Inferiorisierung legitimiert und mit den Methoden der Stigmatisierung und Verkörperung visualisiert.“[40]

Die Auswirkungen der Formierung einer gesellschaftlichen Ungleichheit reichen dann von Assimilation bis hin zur Segregation. Der Definitionsansatz von Hund soll als stellvertretendes Beispiel für eine definitiv weit gefasste Ansicht von Rassismus dienen. Die Überdehnung des Begriffes muss aber aus folgendem Grund für problematisch erachtet werden: Wendet man Hunds Definition auf andere gesellschaftliche Phänomene wie Faschismus, Nationalismus oder Sexismus an, wird man feststellen, dass plötzlich keine Unterscheidbarkeit mehr zum Rassismus gegeben ist. Des weiteren gehen bei einer Überdehnung des Begriffes rassistische Gräueltaten wie der Holocaust, die Sklaverei oder das Apartheidsystem in einem Nebel der Bedeutungslosigkeit und Verharmlosung unter, da sie sich per Definition auf einer Stufe mit sämtlichen rassistischen Handlungen wieder finden.

Eine zufrieden stellende Definition die weder ohne Verengung noch ohne Überdehnung auszukommen scheint existiert nicht, soll auch nicht existieren. Sinn und Zweck einer maßvollen Hypothese ist es nicht einen perfekten Mittelweg zu kreieren, sondern für die jeweilige Forschung angebrachte Kriterien zu schaffen. Eine für dieses Buch zweckdienliche Arbeitsdefinition berücksichtigt also rassistische Elemente in seiner kulturalistischen als auch biologistischen Form. Einem Rassismus der sich als Biologismus entlarvt, können somit dieselben Definitionsmerkmale zugerechnet werden wie einer auf ethnopluralistischen Vorstellungen geäußerten Ideologie, ohne dabei die Abgrenzung zu anderen gesellschaftlichen Phänomenen aufgeben zu müssen. Diesem Vorsatz entsprechend greife ich auf eine von Pierre-André Taguieff konzipierte Definition zu Rassismus zurück, deren Inhalt sich am ehesten mit meiner Forschungsfrage auseinander setzt:

[...]


[1] Jäger 1993: 172

[2] Foucault 1973: 62

[3] Foucault 1991: 10f.

[4] vgl. Jäger 1993: 181

[5] Jäger 1993: 181

[6] ebd.

[7] Jäger 2010: 16f.

[8] Jäger 1993: 184

[9] ebd.

[10] Jäger 1993: 211

[11] vgl. Geiss 1988: 16

[12] Miles 1991: 44; vgl. Banton 1977: 16f.

[13] vgl. Leroy 2005: 2

[14] Guillaumin 1991: 164

[15] Miles 1991: 44

[16] Miles 1991: 96

[17] vgl. Guillaumin 166f.

[18] vgl. Geiss 1988: 151

[19] vgl. ebd.: 162

[20] Folgende historische Rahmenbedingungen tragen laut Geiss zur Herausbildung des modernen Rassismus bei (vgl. Geiss 1988: 151ff.): Industrielle Revolution, Teilung Polens (1772-1795, antisemitische Züge nach der Abwanderung der Juden nach Westrussland und Österreich), Gründung der USA (1776-1787, Konflikt zwischen Schwarz und Weiß und in „Indianerpolitik“), Abolitionismus und Sklavenemanzipation (1772/87-1888, intellektuelle Rechtfertigung der Sklaverei und zunehmende systematische rassistische Diskriminierung nach der Emanzipation), Französische Revolution und ihre Folgen: Emanzipation der Juden und Sklaven (Resultierende Fortschreitung eines Antisemitismus folgend auf die Judenemanzipation ab 1790 in alten Welt und ab 1794/1834 in der neuen Welt), Nationalismus (rassisch aufkommender Nationalismus: in FR und SP spaltend, in D einigend - Teutomanie), Imperialismus.

[21] vgl. Geiss 1988: 167

[22] Hund 2007: 10

[23] Gingrich 2004: 157f.

[24] American Fact Finder 2011

[25] vgl. Miles/Brown 2003

[26] vgl. Miles/Brown 2003: 59

[27] vgl. Vermeil 1925

[28] Larousse zitiert nach Taguieff 2000: 131

[29] vgl. Miles 1991: 190f.

[30] Benedict 1945: 132

[31] ebd.: 4

[32] Miles 1991: 209

[33] vgl. Miles 1991

[34] Butterwege 1996: 123f.

[35] Scheu 2007: 18

[36] Miles 2003

[37] Zerger 1997: 81

[38] Memmi 1992: 103

[39] Hund 2007: 121

[40] Hund 2007: 83

Ende der Leseprobe aus 190 Seiten

Details

Titel
Rassismus im Wandel. Vom Rassebegriff zum Kulturbegriff
Untertitel
Eine ethnologisch-diachronische Betrachtung des Rassismusdiskurses und des Verhältnisses von Wissenschaft und "rechtsextremer" Politik
Hochschule
Universität Wien  (Kultur- und Sozialanthropologie)
Note
2
Autor
Jahr
2012
Seiten
190
Katalognummer
V312405
ISBN (eBook)
9783668112667
ISBN (Buch)
9783668112674
Dateigröße
1109 KB
Sprache
Deutsch
Schlagworte
Rassismus, Ethnopluralismus, Neue Rechte Bewegung, Nationalsozialismus
Arbeit zitieren
Benjamin Lechner (Autor:in), 2012, Rassismus im Wandel. Vom Rassebegriff zum Kulturbegriff, München, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/312405

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Titel: Rassismus im Wandel. Vom Rassebegriff zum Kulturbegriff



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