Zusammenfassung
Der Beitrag hat zentrale Eigenschaften rekonstruktiv-interpretativer Forschungsdesigns sowie deren handlungs-, sozial- und erkenntnistheoretische Prämissen zum Inhalt. Gemäß der für ein solches Design grundlegenden Philosophie und Gesellschaftstheorie des klassischen Pragmatismus wird das Soziale dabei als Welt der Zeichen eingeführt. Die Rekonstruktion der Bedeutung dieser Zeichen kommt ohne das Operationalisieren von Großtheorien und das Bilden messbarer Variablen aus. Mithilfe der gleichrangig konzipierten Schlussverfahren Deduktion, Induktion und Abduktion können ex ante behauptete Theorien über den Gegenstand überprüft und verfeinert sowie neue Hypothesen gebildet werden. Vor diesem Hintergrund wird schließlich eine rekonstruktiv-interpretative Position zu Gütekriterien wie Reliabilität, Validität und Repräsentativität formuliert, für die das Konzept der Muße zentral ist.
Notes
- 1.
Grounded Theory und objektive Hermeneutik werden hier also als Methodologien gewürdigt und nicht bloß als Techniken der Auswertung oder Erhebung von Daten. Als Methodologie gilt uns die Verknüpfung von handlungs-, sozial- und erkenntnistheoretischen Prämissen mit daran anschlussfähigen Methoden.
- 2.
John Dewey (1859–1952) zählt ebenfalls zu den Hauptvertretern der für das hier dargestellte Forschungsdesign so maßgeblichen pragmatistischen Philosophie und Gesellschaftstheorie, siehe etwa seine unter dem Titel Logik erschienene Theorie der Forschung (Dewey [1938] 2008). Eine rekonstruktiv-interpretative Perspektive, die starke Anleihen bei Dewey mit Einflüssen von Ludwig Wittgenstein (1889–1951) und dem Neopragmatisten Richard Rorty (1931–2007) verbindet, findet sich in Hellmann 2017.
- 3.
Siehe hierzu beispielsweise den Titel des ansonsten hervorragenden Sammelbands Interpretation and Method, den Dvora Yanow und Peregrine Schwartz-Shea (2014) bereits in 2. Auflage herausgegeben haben.
- 4.
Für das weitverbreitete In-Eins-Setzen von Induktion und Abduktion als sogenannte „Qualitative Induktion“, siehe Reichertz 2013, Abschn. 4.2.
- 5.
Wie bedeutsam die Frage nach dem angemessenen Umgang mit Vor- oder Kontextwissen im Rahmen von rekonstruktiv-interpretativer Forschung ist, zeigt, dass sich die beiden „Entdecker“ der Grounded Theory, Strauss und Barney Glaser (geb. 1930), vor allem darüber zerstritten haben – und seither (mindestens) drei Varianten dieser Methodologie vorliegen: die gemeinsame (Glaser und Strauss 1967), die von Glaser (1978, 1992) und die von Strauss ([1987] 1994) bzw. Strauss und Juliet Corbin ([1990] 1998). Während Strauss dazu rät, vor dem Forschungsprozess möglichst viel Wissen über den konkreten Untersuchungsgegenstand zu generieren, hält es Glaser für ein Ideal, den Gegenstand ohne Vorwissen – als unbeschriebenes Blatt oder tabula rasa – zu untersuchen. Die objektive Hermeneutik nimmt hier eine mittlere Position ein, findet sich bei Oevermann (2000, S. 96) doch die Regel, sequenzanalytische Rekonstruktionen so zu betreiben, dass dabei zunächst von fallspezifischem Vorwissen, das heißt, dem äußeren (im Unterschied zum Sequenz für Sequenz immanent freizulegenden inneren) Kontext, abzusehen, um „immunisierende, »schlechte« Zirkularitäten“ möglichst zu verhindern. Für eine Unterscheidung von vier Arten von Kontextwissen, siehe Reichertz 2013, S. 75–77.
- 6.
Hierzu heißt es bei Fielding (2006, S. 288): „Logically, even if one wished to conduct a replication, pursued identical analytical interests, and went back to the same setting as the original study, it would not be possible to satisfy the requirements of replication, because time does not stand still and settings change, and one would have to allow for the fact that conducting the original study will have had effects on the setting and its members.“
- 7.
Die Bedeutung sozialer Phänomene wird dabei als die Menge aller denkbaren Wirkungen verstanden, die ihnen während einer je aktuell gegenwärtigen Gegenwart zugeschrieben werden (können). Angesichts der Zeichenhaftigkeit alles Sozialen, zugunsten der in Abschn. 1 argumentiert wurde, verdeutlicht auch dieser Aspekt die tiefe Verankerung rekonstruktiv-interpretativer Forschung in der Philosophie und Gesellschaftstheorie des Pragmatismus. In seiner pragmatistischen Maxime nämlich bringt Peirce ([1905] 1998, S. 338; Hervorhebung im Original) zum Ausdruck, dass Zeichen ihre Wirkung bedeuten: „Consider what effects that might conceivably have practical bearing you conceive the object of your conception to have. Then your conception of those effects is the WHOLE of your conception of the object.“
- 8.
Zwischen statistischer und theorieorientierter Repräsentativität als einem probabilistischen und einem theoretischen Konzept unterscheiden Prein et al. (1994). Während ersteres gewährleisten soll, dass „alle Elemente der Grundgesamtheit aufgrund des Ziehungsverfahrens die gleiche Chance haben, in die Stichprobe aufgenommen zu werden“, drückt letzteres aus, „dass eine Stichprobe bezüglich aller theoretisch relevanten Merkmale unverzerrt ist.“
- 9.
Im Rahmen der objektiven Hermeneutik wird nicht, wie bei Strübing, zwischen statistischer und konzeptueller Repräsentativität, wohl aber zwischen empirischer Generalisierung und Strukturgeneralisierung unterschieden. Darauf ausgerichtet „das Allgemeine im Besonderen, das Typische im Einzelnen“ (Wagner 2001, S. 96) aufzuspüren, wird die objektiv-hermeneutische Fallrekonstruktion immer auch als Strukturgeneralisierung verstanden (Oevermann 1996, S. 13). Die Strukturgeneralisierung sei „forschungslogisch der empirischen Generalisierung vorgeordnet“ (Oevermann 1996, S. 14); ihre Effizienz bestehe „in Präzision“, die der empirischen Generalisierung dagegen (und das heißt: die der Sequenzanalyse ebenso wie die der quantifizierenden Methoden der Sozialforschung), „in der Ökonomie der Reduktion großer Datenmengen“ (Oevermann 2000, S. 129). Die Strukturgeneralisierung böte „Strukturerkenntnis“, die empirisch-generalisierende Sozialforschung „Einsicht in die relative Verbreitung von schon bekannten Strukturtypen“ (Oevermann 2000, S. 128). Unklar bleibt in diesem Zusammenhang, wie sich die Behauptung, dass empirische Generalisierungen (im Unterschied zur Strukturgeneralisierung) „allenfalls Plausibilität, aber keine methodische Schlüssigkeit für sich in Anspruch nehmen können“ (Oevermann 1996, S. 13), mit dem sogenannten konsenstheoretischen Wahrheitsverständnis des Pragmatismus verträgt. Denn diesem zufolge ist wahr, was den Applaus einer konkreten Gemeinschaft findet und mithin als plausibel gilt, während jedes Wissen über die Welt als fallibel, das heißt potentiell irrtümlich, angesehen wird und der sogenannte korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff, demzufolge Sätze über die Welt wahr seien, wenn sie mit dieser übereinstimmten, also korrespondierten, unter Pragmatisten keine Zustimmung findet.
- 10.
Die vor allem mit der objektiven Hermeneutik in Verbindung stehende Idee der Extensivität (Wernet 2006, S. 32 ff.) verhindert überdies, dass im Rahmen von rekonstruktiv-interpretativen Ansätzen nicht ausschließlich solche „schönen Stellen“ analysiert werden, die sich hinsichtlich des Hypothesenbestands als besonders passförmig erweisen: „Prinzipiell müssen alle protokollierten Textelemente berücksichtigt werden. Kein Element darf als unbedeutend ausgeschlossen werden. Das Prinzip verpflichtet die Interpretation darauf, sinnlogisch erschöpfend zu sein. Die gedankenexperimentellen Kontexte müssen typologisch vollständig ausgeleuchtet werden. Erst wenn alle Lesarten erschöpfend benannt sind, ist dem Prinzip der Extensivität Genüge getan“ (Wernet 2006, S. 91).
- 11.
Oevermann (2000, S. 64) fasst sein Verständnis der Zeichenhaftigkeit des regelhaft erzeugten und damit sequentiell analysierbaren Sozialen in die folgenden Worte: „Regelerzeugung bedeutet in sich Sequenzierung. Jedes scheinbare Einzel-Handeln ist sequentiell im Sinne wohlgeformter, regelhafter Verknüpfung an ein vorausgehendes Handeln angeschlossen worden und eröffnet einen Spielraum für wohlgeformte, regelgemäße Anschlüsse. An jeder Sequenzstelle eines Handlungsverlaufs wird also einerseits aus den Anschlussmöglichkeiten, die regelgemäß durch die vorausgehende Sequenzstelle eröffnet wurden, eine schließende Auswahl getroffen und andererseits ein Spielraum zukünftiger Anschlussmöglichkeiten eröffnet.“
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Franke, U., Roos, U. (2018). Rekonstruktiv-interpretative Designs. In: Wagemann, C., Goerres, A., Siewert, M. (eds) Handbuch Methoden der Politikwissenschaft. Springer Reference Sozialwissenschaften. Springer VS, Wiesbaden. https://doi.org/10.1007/978-3-658-16937-4_11-1
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